Dienstag, 22. November 2005

Zum Zürcher Historikerstreit

Es war eine kalkulierte Provokation, die der Tages-Anzeiger am 24. Oktober auf der Frontseite platzierte: "An der Universität Zürich geraten Fächer mit dem Thema Schweiz in die Defensive. Ist dies darauf zurückzuführen, dass immer mehr deutsche Professoren in Zürich lehren?", fragte Philipp Gut, Assistent an ebendieser Universität und Tagi-Redaktor. Mit einem Kommentar ebenfalls auf der Frontseite ("Wo Swissness nicht sexy ist") und einem weiteren Artikel im Kulturteil ("Wo bleibt die Schweiz an der Uni?") schüttete Gut gleich noch mehr Öl ins Feuer.

Vom darauf folgenden Rauschen im Schweizer Blätterwald in Form von Verteidigungsreden und Repliken, aber auch von "normalen" Leserbriefen, nahm am 7. November selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung Notiz.

Bloss ein Kampf um Pfründen und Lehrstühle?

Man blickt einigermassen verblüfft auf den hin und her wogenden Zürcher Historikerstreit, wie die Auseinandersetzung von einem der Beteiligten getauft wurde und fragt sich, ob es da wirklich noch um Inhalte oder doch nur noch um verletzte Eitelkeiten und bedrohte Pfründe und Pöstchen geht. Dass Giorgio Girardet in der Basler Zeitung mit seinem Schlusssatz "Die Positionierung um die Nachfolge auf dem Lehrstuhl des «Mythenzertrümmerers» [gemeint Prof. Sablonier] hat begonnen." recht hat, steht leider zu befürchten.

Liebe Historiker, Eure Aufgabe ist es nun wirklich nicht, Euch in aller Öffentlichkeit zu fetzen. Unsere Steuergelder sind für Forschung und Lehre bestimmt, nicht für öffentliche Schlammschlachten und Hahnenkämpfe.

Auseinandersetzung mit der eigenen historischen Erfahrung

Das bedeutet nicht, dass die Debatte nicht geführt werden muss. Im Gegenteil. Andreas Suter, Schweizer und Dozent für «Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Frühen Neuzeit» an der Universität Bielefeld, leistet dazu einen sehr bedenkenswerten Beitrag.

Es gehe nicht um die Wiederbelebung einer nationalistischen Geschichtsschreibung. "Vielmehr geht es um die in den meisten Ländern völlig unbestrittene und gerade für die Schweiz als «Geschichts- und Willensnation» besonders dringende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den eigenen historischen Erfahrungen, die mit Blick auf die sich fortlaufend verändernde Gegenwart stets neu geführt werden sollte - mit Freude und Engagement. Wenn die Wissenschaft das nicht leistet, überlässt sie das Feld den politischen Meinungsmachern. Wenn das Historische Seminar der Universität Zürich diese Funktion nicht mehr ausüben kann und will, erfüllt es daher eine seiner zentralen Aufgaben nicht mehr." (Tages-Anzeiger, 4. November 2005, S. 63)

Das sehe ich genauso. Und beim Stichwort "Meinungsmacher" darf man durchaus an einen Nationalrat aus dem Weinland oder einen Bundesrat von der Goldküste denken.

Deshalb wünscht sich der Hobby-Lokalhistoriker, dass die territorial zwar begrenzte, aber sehr gern über den Tellerrand blickende kleinräumige Geschichtsschreibung im Zürcher Unterland wieder vermehrte studentische und professorale Aufmerksamkeit erlangt. Ich denke es gibt bei uns nicht nur für Geologen und Archäologen Arbeit.

Aus der Sicht der Ortsgeschichtsschreibung ist es entscheidend, dass 1) der Nachwuchs Themen aus lokalen Zusammenhängen vorgeschlagen bekommt, und dass 2) vollständige Listen von Seminar- und Lizentiatsarbeiten und bei Bedarf auch die entsprechenden Arbeiten selber greifbar sind.

Die erregte Debatte hat immerhin ein Gutes: die Erkenntnis, dass die junge Generation sich sehr wohl lokaler Themen annehmen will. Wie wäre es mit einer histoire totale à la Worb auch in Weiach und Umgebung?

Quellen

Die Debatte in chronologischer Reihenfolge:
  • Gut, Ph.: Schweizer Geschichte gibts an der Uni nur noch als Nebenfach. In: Tages-Anzeiger, 24. Oktober 2005 - S. 1.
  • Gut, Ph.: Wo Swissness nicht sexy ist. In: Tages-Anzeiger, 24. Oktober 2005 - S. 1.
  • Gut, Ph.: Wo bleibt die Schweiz an der Uni? In: Tages-Anzeiger, 24. Oktober 2005 - S. 45.
  • Leserforum: Die Uni und das Schweizerische. In: Tages-Anzeiger, 26. Oktober 2005 - S. 25.
  • Leserforum: Unsere Vergangenheit als Nebensache? In: Tages-Anzeiger, 29. Oktober 2005 - S. 23.
  • Schweizer Geschichte. Der Publizist Roger de Weck über die Zukunft der Vergangenheit. In: Sonntagszeitung, 30. Oktober 2005 - S. 5.
  • Suter, A.: Die Probleme eines Ausländers. In: Tages-Anzeiger, 4. November 2005 - S. 63.
  • Roeck, B.: Nicht die «Ausländerfrage» ist entscheidend. In: Tages-Anzeiger, 4. November 2005 - S. 63.
  • Genf / Nebenfach Schweiz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. November 2005 - S. 35.
  • Sarasin, Ph.: Historiker als Zielscheibe. In: Tages-Anzeiger, 9. November 2005 - S. 54.
  • Bitterli, U.: Berechtigte Fragen gestellt. In: Tages-Anzeiger, 10. November 2005 - S. 55.
  • Girardet, G.: Letztlich geht es um Karrieren. In: Basler Zeitung, 10. November 2005.
  • Mörgeli, Ch.: Wie viel Kritik ertragen die Kritiker? In: Tages-Anzeiger, 12. November 2005 - S. 54.
  • Leserforum: Ich kann meine Frau, meine Mutter lieben, aber keinesfalls ein Land. In: Tages-Anzeiger, 14. November 2005 - S. 21.
  • Schär, M.: «Das können andere auch». [Interview mit Prof. Jörg Fisch]. In: Die Weltwoche, 17. November 2005.
  • Leserforum: Auch Mörgeli nicht frei von Ideologie. In: Tages-Anzeiger, 18. November 2005 - S. 25.

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