Sonntag, 28. Mai 2006

Warum Lesen den Sittenzerfall fördert

Johann Franz Freiherr von Landsee war ein fürstbischöflicher Beamter und Obervogt in Kaiserstuhl. Von dort aus verwaltete er auch die dem Bischof gehörende Niedergerichtsherrschaft in Weiach.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sprach er ein Problem an, das sich heute in noch viel akuterer Form stellt. Die totale Informationsüberflutung, ein schier unendlicher Ozean aus Gedrucktem - und seit einigen Jahren - online Publiziertem:

«Bekannt ist es, dass die dermalige Welt mit einer unzähligen Menge neuer Bücher, deren viele niemalen das Licht gesehen haben, zu wünschen wäre, gleichsamen zu sagen, überschwemmet ist», schrieb von Landsee 1778.

Fundamentalkritik. Was ihn aber nicht daran hinderte, nach dieser «Vorrede» seinem Dienstherrn mit barock-schwülstig verschwurbelter Sprache ein schmales Bändchen zu widmen, den «Enchiridion Helveticum Constantiae Episcopalis», ein Lexikon über die zum Fürstbistum Konstanz gehörenden Teile der Eidgenossenschaft.

Nicht genug des Lamentos über die Schwemme an Gedrucktem, gab Freiherr von Landsee in der «Vorrede» gleich noch eins drauf in seinem Kulturpessimismus:

«Jedermänniglich, wessen Stands und Alters derselbe auch seyn mag, will bey dieser Zeit lesen, und wie oft kommen einem solchen Bücher zu Handen, woraus derselbe nicht allein keinen Nutzen, sondern öfters an Religion und Sitten Schaden, und Nachtheil erwerbet?»

Also. Der Fall ist klar: Zu viele Bücher = Grosse Sittenverderbnis.

Es verwundert wenig, dass von einem derart verknöcherten Staatsgebilde wie dem Fürstbistum Konstanz nach dem Durchzug des Napoleonischen Wirbelwindes nichts mehr übrig blieb ausser - welche Ironie - Büchern und Akten.
 
Lesen kann eben auch den Zerfall von Staaten fördern. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Quelle

Nachtrag vom 26. April 2020

Freiherr von Landsee nimmt hier das Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Unbehagen der Herrschenden über die mit dem Kampfbegriff «Lesesucht» gebrandmarkte stark aufkommende Leserschaft von Titeln der Belletristik und der Schönen Künste auf, vgl. zum Begriff Lesesucht den hervorragenden Wikipedia-Artikel. Wie stark im Verlauf dieses Jahrhunderts andere Sichtweisen als Religion in den Buchmarkt drängten, zeigt sich am sinkenden Anteil der religiösen Titel an der Gesamtproduktion.

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