Sonntag, 7. Mai 2006

Aktenzeichen «Glockensprüche 1843» ungelöst

Im gestrigen Beitrag bin ich zum Schluss gekommen, dass die Weiacher Glockengedichte nicht von Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler stammen können. Das wirft die ketzerische Frage auf:

Sind sie überhaupt auf den Glocken drauf?

Werner Attinger, der frühere Weiacher Sigrist und immer noch für die Glocken Verantwortliche, meinte vor ein paar Tagen, diese stammten eindeutig aus dem Jahre 1843. Die Glockensprüche seien aber schwierig zu lesen, da sie gegen den Glockenstuhl gerichtet seien und die Glocken unter Strom stünden (Stundenschlag). Aber er sei sicher, dass diese Gedichtzeilen auf den Glocken drauf seien. Er vermutet, es könnte ein älterer Spitteler sein, habe aber leider dessen Geburtsdaten nicht zur Hand.

Da alles darauf hindeutet, dass die Glocken tatsächlich im Jahre 1843 gegossen wurden, müsste es sich also entweder um einen älteren Namensvetter handeln oder um einen Irrtum Maurers, indem die Sprüche von jemand ganz anderem verfasst und dann Spitteler untergeschoben wurden – von wem auch immer.

Zwei Fassungen im Umlauf - welche stimmt?

Die Weiacher Glockengedichte sind übrigens schon in früheren regionalhistorischen Artikeln und Büchlein abgedruckt, so in «Rund um Kaiserstuhl» von Marcel Hintermann aus dem Jahre 1955:

«Die größte Glocke hat folgenden Spruch:
Wo immer wird mein Ton erschallen
Soll jeder gern zum Tempel wallen
Wo Gottes Wort wird rein verkündet
Die Seele Trost und Labung findet


Der Spruch der mittleren Glocke lautet:
Bist müde von der Arbeit Du
So lad ich Dich zur Ruh
Und wenn dann der Tag erwacht
Mein Ruf Dich wieder munter macht
Oh Mensch gedenk zu jeder Frist
Daß Du in Gottes Händen bist


Die kleinste Glocke mahnt uns:
Du eilest jetzt der Heimat zu
In Deine ewge Himmelsruh
Wo Dein Heiland Jesus Christ
Ewig nur Dein Alles ist
»

Wenn man diese Zeilen nun mit der bei Maurer 1965 (siehe WeiachBlog vom 6. Mai) abgedruckten Version vergleicht, gibt es doch ein paar auffällige Unterschiede. Maurer hat beispielsweise Satzzeichen und «ss» verwendet, Hintermann lässt Satzzeichen weg und setzt «ß». Das ist Kosmetik. Gravierender sind die textlichen Differenzen:

Bei der grossen Glocke eine Wortumstellung in der dritten Zeile („wird rein“ vs. „rein wird“):
«Wo Gottes Wort rein wird verkündet»

Bei der mittleren Glocke Umstellungen in den Zeilen zwei und drei („laden“ vs. „einladen“; „froh dein Tag“ vs. „der Tag“):
«So lade ich dich ein zur Ruh
Und wenn dann froh dein Tag erwacht
».

Und auch bei der kleinen Glocke gibt es Unterschiede in den Zeilen zwei und vier („ewge“ vs. „ewige“; „nur“ vs. „nun“):
«In deine ewige Himmelsruh, [...]
Ewig nun dein alles ist».

Welche der beiden Fassungen stimmt nun mit dem Original auf den Glocken überein? Die von Hintermann oder die von Maurer? Diese Frage wird man nur mit einem Augenschein auf dem Glockenturm abschliessend klären können.

Quellen
  • Hintermann, M.: Rund um Kaiserstuhl. Kaiserstuhl, Fisibach, Bachs, Weiach, Hohentengen, Herdern, Günzgen, Stetten, Lienheim. [SA der Artikelserie «Von Rheinau bis Waldshut» in der Beilage «Grenzheimat» im «Zurzacher Volksblatt» 1952-1953]. Selbstverlag. Oberglatt, 1955 – S. 40-44.
  • Maurer, E.: Die Kirche zu Weiach, Weiach, [1965] (Hrsg.: Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Weiach) – Abschnitt: Die Glocken

Nachtrag 2015

Antworten auf die oben aufgeworfenen Fragen gibt der Artikel vom 22. Juni 2015: Was auf den Weiacher Glocken wirklich draufsteht.


Nachtrag 2020

Es gibt noch einige weitere Fassungen, z.B. die von Ruth Schulthess-Bersinger (1941; vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 89, S. 329-330; in: MGW April 2007), sowie aus dem 19. Jh. in sog. Glockenbüchern notierte (namentlich S. Vögelin und L. Stierlin, vgl. WeiachBlog Nr. 1585 v. 22. September 2020).

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