Der Kirchenvisitationsbericht 1912-1923 von Pfarrer Kilchsperger behandelt in einem ersten Kapitel (Punkte 1-8) das «religiöse Leben der Gemeinde».
Ganz in der Tradition der noch nicht ganz verschwundenen allumfassenden Aufgabenportfolio des Stillstandes als vom Pfarrer geleitete, dörfliche Sittenkontrollbehörde will der Zürcher Kirchenrat Auskunft über «II. Das sittliche Leben der Gemeinde».
Unermüdlicher Fleiss und Heimatliebe
Dass in den Antworten des Weiacher Pfarrers, der ja auch der damals noch «Armenpflege» genannten Sozialhilfekommission vorstand, die eigenen Moralvorstellungen nicht ausgeblendet werden können versteht sich von selbst:
«Ad 9. Wesentliche Merkmale der Sittlichkeit unsere[r] Bevölkerung sind unermüdlicher Fleiss u. Liebe zur Heimat. Durch den Krieg wurden die Kräfte Aller aufs Äusserste angespannt u. selbst die von der Grenzbesetzung zurück kehrenden Väter u. Söhne fanden bald wieder die frühere Arbeitslust. Auch die Töchter, welche die hiesige Schuhfabrik oder die Spinnerei Letten-Glattfelden besuchen, betätigen sich nach Fabrikschluss noch im elterlichen Gewerbe. Bei Einzelnen, wenigen Jünglingen muss man ein müssiges Herumstehen u. die schlimmen Folgen davon beobachten.»
Hier haben wir die Bestätigung, dass (wie vermutet) etliche Weiacherinnen nicht nur in der Schuhfabrik Walder beim alten Bahnhof, sondern auch in der Spinnerei bei Rheinsfelden arbeiteten. Interessant auch die unterschwellig geäusserte Angst, der Militärdienst könnte die Arbeitslust beeinträchtigen. Kriegsrückkehrer können als Folge von posttraumatischen Belastungsstörungen durchaus arbeitsunfähig werden - was dann bei fehlender körperlicher Invalidität wie Faulheit aussieht.
Familienleben grundsätzlich in Ordnung
«Die eheliche Treue ist im allgemeinen gut, die sexuelle Moral nicht schlechter als anderwärts, das Familieleben ordentlich, da u. dort lässt es freilich zu wünschen übrig, u. dürfte die Kindererziehung eine sorgfälltigere sein. Wie anderwärts wird über das Schwinden der Ehrfurcht der Kinder vor den Eltern geklagt u. macht sich eine anmassende Selbstüberhebung u. ein zügelloser Geist unter der heranwachsenden Jugend bemerkbar. Z.T. liegt die Ursache bei den Eltern selbst, z.T. in den geistigen Strömungen der Gegenwart.»
Nichts Neues unter der Sonne. Pfarrer Kilchsperger ist nicht der Erste und nicht der Letzte, der sich über dieses in jeder Generation auftretenden Phänomen echauffiert (vgl. die Aussagen des langjährigen Lehrers Walter Zollinger im Artikel Weiacher Geschichte(n) Nr. 44: «Di hütigi Jugend…!». Von der «Jugendordnung 1960» zur «Just Community»? - im Druck erschienen in den Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Juli 2003).
Weitere Artikel zum Thema Visitationsbericht
vgl. die Übersichtsseite auf dem Portal der Weiacher Geschichte(n)
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