Sonntag, 10. Januar 2010

Selbstbefriedigung an einem Weidenbaum?

Am 9. Mai 1612 nach gregorianischem Kalender fand vor dem Dorfgericht zu Weiach die Verhandlung in Sachen «Gebhard Boumbgarter» gegen «Anna Glattfelderin, Damast Meyerhoffers fraw, unnd Kleinanna Müllerin, deß Cuonrad Trüllingers fraw» statt.

Boumbgarter (Baumgartner) beklagte sich, am Vortag hätten ihn der Pfarrer und die Ehgaumer (d.h. die dörfliche Sittenaufsicht) mit dem Vorwurf konfrontiert, es werde von diesen Frauen im Dorf herumerzählt, er habe sich nicht nur exhibitionistisch verhalten, sondern auch noch Unzucht mit einem Weidenbaum getrieben.

Ehrverletzungsklage gegen Unzuchtsvorwurf

Das wollte Boumbgarter nicht auf sich sitzen lassen und verlangte, «solliche scheltwort unnd sach uff jhnne zuoerweisen oder ab jhme zethuon, wie recht seige», d.h. die Frauen sollten es entweder beweisen oder sich entschuldigen, denn so etwas wie das ihm Vorgeworfene sei ihm niemals in den Sinn gekommen.

Den beiden Frauen war die Angelegenheit wohl mindestens so peinlich wie dem Kläger. Anna Glattfelderin sagte aus, sie habe gesehen wie Boumbgarter «(reverenter zemelden) sin mannlich glid jnn beiden henden ghabt unnd gegen einen wydstock zuohergangen, sy wüsse nit waß er darmit vermeint hab». [Der Einschub «reverenter zemelden» ist eine Entschuldigung des Protokollierenden an den Lesenden, weil anschliessend gleich tabuisierte Worte folgen.]

Kleinanna Müllerin wollte Ähnliches gesehen haben, nur dass der Ort des Geschehens «jnn der Sandtgass» lag, und Boumgarter mit dem Glied in der Hand «gegen der wand zuoher gloffen» sei.

Wie soll ein Mann Wasser lassen ohne sein Glied zu berühren?

Boumbgarter liess durch seinen Anwalt vorbringen, die beiden Frauen hätten «ußgossen unnd gredt» er habe «(mit gonst zuoschreiben) seinen muotwillen mit einem wydstock würcklich begangen, unnd wann derselbig stock ein kind empfangen hette, wer dann die hebam hette sin müessen».

Er fand solche Vorwürfe widersinnig, denn «es gange mancher redlicher mann, der sin wasser begere abzuoschlagen, ettwan gegen einen baum, zun oder rein, seige darumb nüzit desto böser». Zum Wasserlassen suche ein Mann nun einmal einen Baum, einen Zaun, ein Wiesenbord oder dergleichen auf, das sei nun wirklich nicht ungewöhnlich, geschweige denn ehrenrührig.

Ausführliche Zeugenbefragung

Weil in diesem Fall nun Aussage gegen Aussage stand und die Beklagten nichts davon erwähnten, dass auch von Unzucht mit einem Weidenbaum die Rede war, holte das Gericht Zeugenaussagen ein.

«Verena Müllerin, deß Jaglis Anners fraw zuo Wyach» gab an, sie habe die beiden beklagten Frauen erzählen gehört, Boumgarter habe sein Glied «jnn den stock hinyn» bzw. «jnn den leym hinyn» gestossen. Diese Aussagen wurden auch von anderen Zeuginnen bestätigt.

Nachbarn von Boumbgarter, die schon seit acht Jahren neben ihm wohnten, gaben hingegen zu Protokoll, sie hätten «niemahls nüzit ungebürlichs von jhme gesehen», also auch keine exhibitionistischen Handlungen.

War es Selbstbefriedigung?

Die Zeugin «Anna Roottin, Hannsen Liebergers fraw» gab an, «vor 24 jaren, als sy nach ledigs standts gsin, seige sy zuo dem brunnen gangen, ein wasser gholet, Gebhart Boumbgarter hinder sinem huß gstanden, sin scham fürher glassen, mit der henden umb einandern gschwäit, sich mithin gebeügt unnd gewuostet; sy, zügin, habe domahlen als ein junge dochter nüzit von dergleichen dingen gewüßt». Als Tochter wurde eine junge, unverheiratete Frau bezeichnet, die natürlich von geschlechtlichen Angelegenheiten (wie der hier wohl beschriebenen Selbstbefriedigung) offiziell noch keine Ahnung haben durfte.

Solches sei kein Einzelfall gewesen. Ein anderes Mal hätten sie und eine andere Frau den Boumbgarter wieder bei solchem Tun beobachtet. Da habe «die ander fraw gesagt: "Pfey teüffell, der unflat ist aber jnn sinem handell." Sy, zügin, gefragt, waß er dann darmit vermeine. Daruff sy geantwort, habe allwegen ghört, wann die mannen reppig seigend, so thüegend sy allso».

Anna fragte also, was dieses Verhalten bedeute. Und erhielt zur Antwort, was damals offenbar unter Frauen herumgeboten wurde. Das Adjektiv «reppig» muss so etwas ähnliches wie «geil», «sexuell erregt» oder «im Hormonstau» bedeutet haben.

Da gab es also Grund zur Annahme, dass die herumgebotenen Geschichten nicht ganz ohne jeden Anlass entstanden waren.

Die Männer der verklagten Frauen, die als Beistand ihrer Ehefrau an der Verhandlung teilnahmen, verlangten deshalb von Gebhart Boumgarter, er solle erst einmal diejenigen belangen, die behaupteten, er habe ein solches Verhalten schon vor 24 Jahren an den Tag gelegt. Vorher seien sie nicht bereit, weiter auf seine Klage einzugehen.

Schlechter Ruf führt zu Verurteilung des Klägers

Am 17. Mai 1612 (gregorianischer Datierung) tagte das Dorfgericht erneut und hielt fest, dass «dieweil uß der kundtschafft unnder anderm gehört unnd verstanden wirt, daß der gemelte Gebhart mit grober, unverschambter, schandtlicher unzucht umbgangen, daß derowegen er billichen darumb solle gestrafft werden.»

Die hiesigen Richter waren also der Meinung, Boumbgarter habe sich der behaupteten Taten schuldig gemacht, was wahrscheinlich an seinem nicht gerade guten Ruf lag. Es galt im Dorf offenbar als erwiesen, dass sich der Kläger wiederholt wenig darum geschert hatte, ob man beim «Wasser abschlagen» sein Glied sehen oder ihn sogar bei der Selbstbefriedigung beobachten konnte oder nicht.

Blieb noch zu entscheiden, wer für die Bestrafung zuständig war: die niedergerichtliche Obrigkeit (d.h. der Fürstbischof von Konstanz) oder die «hoche oberkeit», also die Stadt Zürich. Beide Vertreter dieser Obrigkeiten waren der Meinung, dieser Fall stehe ihren Herren zu. Das Dorfgericht entschied zu Gunsten der Stadt Zürich (wohl weil das Vergehen als nicht unerheblich galt).

Die Ratsherrren sehen es ganz anders

Am 16. Mai 1612 nach julianischer Zeitrechnung (d.h. Ende Mai 1612 nach heute gültiger gregorianischer Datierung) sahen die Räte der Stadt Zürich die Angelegenheit allerdings völlig anders. Sie entschieden im Zweifel für den Kläger.

Die beiden beklagten Frauen hätten vor dem Dorfgericht nicht zu Protokoll gegeben, Boumbgarter wirklich gesehen zu haben «syn muotwillen jnn einem wydstock unnd leym verrichten». Deshalb sei das nichts als «ein lychtsinnige red» gewesen, «die sich von eim und anderen gmehret». Sie gingen also von einem Weibergeschwätz aus, das jeder seriösen Grundlage entbehrte und sich selbständig gemacht hatte.

Wahrscheinlich dachten sich die Ratsherren, dass es ja wirklich nicht angehen könne, wenn man als Mann bei jedem Wasserlassen gleich des Exhibitionismus, ja sogar der Unzucht mit Bäumen bezichtigt würde.

Saftige Busse für die geschwätzigen Frauen

Sie stellten die Ehre von Gebhart Boumgarter vollumfänglich wieder her, indem das Geschwätz «von oberckeits wëgen ufgehebt» wurde. Weil die von ihm verklagten Frauen aber zugegeben hätten, solche Sachen gesagt zu haben, und damit den ganzen Aufruhr verursacht hatten, verurteilten die Ratsherren sie zu einer Busse von je 10 Pfund.

Da durch ihr Geschwätz dem Boumbgarter auch Kosten entstanden waren, mussten sie ihm überdies 10 Pfund Entschädigung zahlen, ansonsten hatte jeder Kontrahent seine eigenen Anwaltskosten zu tragen.

Quelle
  • Weibel, Th.: Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. I. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Zweiter Teil: Rechte der Landschaft; Erster Band: Das Neuamt; Aarau, 1996. Prozess wegen Reden über exhibitionistisches Verhalten eines Dorfbewohners - Nr. 190, S. 421-424. [Original: StAZH A 135.3 Nr. 194.]  Volltext online: SSRQ ZH NF II/1.
    Abgedruckt in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Dezember 1997 – S. 11-13.

1 Kommentar:

Wiachiana-Verlag hat gesagt…

Das Adjektiv «reppig» wird im Sachregister der Rechtsquellensammlung Neuamt mit «geschlechtlich erregt» erklärt. (vgl. Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. I. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Zweiter Teil: Rechte der Landschaft; Erster Band: Das Neuamt; Aarau, 1996 - S. 520.)