Dienstag, 25. April 2023

Aufsichtsbeschwerde gegen Projekt «Zukunft 8187» eingereicht

Wie aus Kreisen der Gegner des Gemeindeinfrastrukturprojekts «Zukunft 8187» verlautet, ist mit dem heutigen Datum beim Bezirksrat Dielsdorf eine sogenannte «Aufsichtsbeschwerde» eingereicht worden. Sie sei gestern Montag per Einschreiben auf den Postweg geschickt worden. 

Die mit nicht weniger als zehn Beilagen bewehrte Beschwerde moniert insbesondere die aus Sicht der Gegner mangelhafte Informationspolitik durch die federführende Baukommission bzw. den Gemeinderat.

Welche Folgen hat diese Beschwerde nun für das Projekt?  WeiachBlog beleuchtet in den nächsten Tagen die erhobenen Vorwürfe und lässt die Beteiligten zu Wort kommen.

Was ist eine Aufsichtsbeschwerde?

Laut der Webseite «Rechtsschutz & Aufsicht» des Kantons handelt es sich dabei um eine Art Auffanginstrument, das den Rechtsschutz in denjenigen Fällen sicherstellen soll, wo kein Rechtsmittel gegen eine konkrete Anordnung ergriffen werden kann:

«Jede Person kann die Aufsichtsbehörde über Unregelmässigkeiten einer beaufsichtigten Organisation informieren. Die Aufsichtsbeschwerde ist im Gesetz nicht vorgesehen und an keine Frist gebunden.

Für die Gemeinden und Zweckverbände etc. ist in der Regel der Bezirksrat als Aufsichtsbehörde tätig. Im Bereich der Fachaufsicht können spezialgesetzlich andere Zuständigkeiten wie z.B. einer Direktion des Regierungsrates vorgesehen sein.

Eine Besonderheit der Aufsichtsbeschwerde ist, dass die Aufsichtsbehörde sie grundsätzlich nur behandelt, wenn kein ordentliches Rechtsmittel (z.B. Rekurs) eingereicht werden kann.

Die Person, die eine Aufsichtsbeschwerde erhebt, hat keinen Anspruch darauf, dass die Aufsichtsbehörde in ihrem Sinn tätig wird. Vielmehr entscheidet die Aufsichtsbehörde nach freiem Ermessen, in welcher Form sie die Aufsichtsbeschwerde behandelt und erledigt. Gemäss der im Kanton Zürich gängigen Praxis sollte die Aufsichtsbehörde die Person aber zumindest über das Ergebnis des Verfahrens informieren.»

Jedermann ist beschwerdeberechtigt

Eine solche Aufsichtsbeschwerde kann somit auch von einer Person erhoben werden, die nicht in der Gemeinde stimmberechtigt ist, gegen die sie gerichtet ist. Die beschwerdeführende Person muss auch kein schutzwürdiges Interesse belegen können.

Im Gegenzug ist der Bezirksrat lediglich gehalten, die Beschwerde entgegenzunehmen und sie zu «behandeln». In welcher Form auch immer. Einen Rechtsanspruch auf Antwort gibt es nicht. 

Allerdings hat so eine Beschwerde eine aufscheuchende Wirkung. Die Aufsichtsbehörde kann nach dem Erhalt nicht mehr behaupten, von den darin beschriebenen Vorgängen keine Kenntnis zu haben. Getreu dem alten Grundsatz «Quod non est in actis, non est in mundo» - beziehungsweise seines Kehrwertes. Weil es eben nun in den Akten steht, kann das dort Stehende auch nicht einfach vom Tisch gewischt werden. Es ist aktenkundig geworden.

Freitag, 7. April 2023

Ritten Weiacher Hexen auf Wölfen in den Karfreitag?

Ein Rudel Wölfe kann für Menschen gefährlich werden. Auch Geschichten über Wölfe können das. Dann nämlich, wenn man selber darin eine Hauptrolle spielt und sich andere Menschen zu Rudeln zusammentun, um einen deswegen zur Strecke zu bringen. 

So erging es Anna Winkelmann aus Mettmenstetten. Sie wurde 1494 der Hexerei verdächtigt, «weil Kinder behaupteten, sie sei auf einem Wolf über Wiesen, Häge und Gräben geritten und im Unwetter trocken angetroffen worden. Da aber erwachsene Zeugen den Wolf für einen Esel erklärten und überhaupt bezweifelten, daß es die Winkelmannin gewesen sei, war eine Verurtheilung ausgeschlossen (Nachgänge).» (Zitiert nach: Schweizer, P.: Der Hexenprozess und seine Anwendung in Zürich. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1902, S. 29) 

Ein Nachgänger tat in der Zeit vor 500 Jahren in etwa das, was heute die Staatsanwaltschaft tut: Die Durchführung einer Strafuntersuchung samt Zeugenbefragung. Das Verfahren gegen die Winkelmannin wurde damals eingestellt. Es hätte aber auch anders kommen können. Davon handelt dieser Artikel.

Die Kirche redet dagegen, aber der Volksglaube bleibt bestehen

Der Volksglaube an magische Kräfte, die in der Lage wären, Wölfe zu bannen und sie zu gehorsamen Reittieren zu machen, ist schon Jahrzehnte vorher nachzuweisen. So galt der Wolf anfangs des 15. Jahrhunderts im Südtirol und in Bayern gar einigen als Glücksbringer, was wiederum von der Kirche nahestehenden Kreisen als Aberglauben eingestuft wurde. 

Zwischen 1428 und 1430, als im Wallis bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, wurde einer der Gruppierungen in dieser Auseinandersetzung Verschwörung unterstellt: sie habe durch zauberische Mittel derart viel Macht gewonnen, dass sie sich in Wölfe verwandeln und die Regierung an sich reissen könne.

Und wo kirchliche Würdenträger noch im Hochmittelalter jeden als ungläubig bezeichneten, der an so etwas glaubte, nämlich eine Verwandlung in eine andere Gestalt (also z.B. des Menschen in einen Werwolf), so macht dieser Volksglaube im Spätmittelalter eine unverhoffte Karriere. Daran konnten selbst aufklärerische Schriften nichts ändern. Im Gegenteil.

Die Macht der Bilder schlägt jeden Text

Der Konstanzer Jurist Ulrich Molitor sprach sich in seinem Werk De lamiis et phitonicis mulieribus (auch De laniis..., nach 1489 in vielen Auflagen erschienen, vgl. auch Weiacher Geschichte(n) Nr. 18) eigentlich gegen den Hexenglauben aus. Er war der Meinung, es gebe weder des Fliegens kundige Hexen, noch würden diese Hexensabbate veranstalten. Die unter Folter erpressten Geständnisse seien fragwürdig. Und trotzdem hat ausgerechnet sein im Original in Latein verfasstes gedrucktes Werk enorm dazu beigetragen, dass diesen Vorstellungen Vorschub geleistet wurde.

Denn das noch junge Druckereigewerbe, das seine Schrift gross herausbrachte, setzte auf eine höchst absatzfördernde Innovation: den Holzschnitt. Und diese Illustrationen machten viel grösseren Eindruck als alles, was der Gelehrte geschrieben hatte:

«Ganz gegen die Absichten des Autors verdichten die Bilder in Molitors Hexenbuch die konkretistischen Vorstellungen von wolfreitenden und tierverwandelten Hexen. Bilder haften tiefer im Gedächtnis als Worte. Sie liefern den Grund für die Annahme, dass etwas existiert, das dem gleicht, das darauf zu sehen ist.», schreibt Elmar M. Lorey in seinem Aufsatz Wie der Werwolf unter die Hexen kam.

Das in Molitors Werk gedruckte Bild, das einen auf einem Wolf reitenden Menschen zeigt, ist ja wohl eindeutig, oder? Also muss es ja stimmen, was man sich erzählt, wenn sogar in hochgelehrten Büchern genau solche Abbildungen zu finden sind.

Die Verschwörung der drei Weiacher Hexen

Je weniger kirchliche Autoritäten vor Ort einwirken können, desto eher machen sich solche Vorstellungen selbständig und steigen in den Rang von Tatsachen auf. So war es in Weiach kurz nach der Reformation, in den 1530er-Jahren. Die Kaiserstuhler waren wieder zum katholischen Glauben zurückgekehrt (vgl. WeiachBlog Nr. 1543). Misstrauen keimte zwischen ihnen und den Weiachern auf. Die katholischen Priester und Kaplane hatten im refomierten Gebiet nichts mehr zu sagen und gleichzeitig war reformierte Seelsorgearbeit Mangelware. Gerade in Weiach. Vor 1540 hatten die Weiacher nicht einmal einen eigenen Pfarrer und auch danach wohnte er nicht im Dorf:

«1539 folgt plötzlich wieder eine große Scheiterhaufen-Exekution nach Reichs- und kaiserlichen Rechten (d. h. nach römischem Recht) gegen drei Hexen auf einmal, Anna Hämmerli, Schlotterelsi und Kilchhensin, alle drei von Weyach. Entscheidend sind hier wiederum nicht die wenig begründeten Anklagen, sondern die eigenen mit Hülfe der Folter erwirkten Geständnisse, so unglaublich und einander widersprechend sie auch erscheinen. Jede hat sich dem Teufel ergeben, der aber jeder in anderer Kleidung und mit anderm Namen, Arlibus, Belzibock und Karlifas erschien. Alle drei wollen auf Wölfen in der Charfreitagsnacht gegen Zurzach hin auf einen hohen Berg (welchen eine Steickhart, die andere Sanzenberg nennt; letzterer liegt südlich von Kaiserstuhl, noch im Kanton Zürich) geritten, daselbst mit ihren [Wechsel S. 39/40] drei Teufeln gegessen und getrunken und Landhagel gemacht haben, wie sie überhaupt seit zehn Jahren alle Ryffen und Hagelwetter der Gegend verursachten (Nachgänge, Richtbuch, Nr. 255, Fol. 45).» (Schweizer, ZTB 1902, S. 39/40)

Es dürfte wohl auch diesem Prozess geschuldet sein, dass die Zürcher Regierung 1540 zur Einsicht kam, es sei wohl unabdingbar, den Weiachern endlich einen eigenen Pfarrer zu spendieren.

Wolfsritte für ein paar hundert Meter Luftlinie? Lohnt sich das?

Was die per Wolf zurückgelegten Entfernungen betrifft, so waren die drei Weiacherinnen höchst bescheiden. Denn der bei Paul Schweizer «Steickhart» genannte Berg wird 1890 in der NZZ als «Schleikhard» bezeichnet. Die heutige Bezeichnung ist «Schleikert», ein Hügel auf dem Südufer des Rheins gegenüber der Burgruine Weisswasserstelz. 

Die NZZ erläutert die Örtlichkeit mit der Fussnote «Steil zum Rhein abfallender Höhenzug». Und der weiteren Erläuterung im Lauftext: «Damals führte noch keine Straße unten herum, dagegen war der heute noch begangene Weg über des Schleikhard's bewaldeten Buckel vorhanden, der auf der Morgenseite zum Tobel der „Hölle“ hinuntersteigt, durch welches der „Fisibach“ mühsam den Weg zum Rheine findet.» (E.M.: Historische Erzählungen. In: Neue Zürcher Zeitung, Nummer 199, 18. Juli 1890, Zweites Blatt, S. 2).

Vom Weiacher Dorfzentrum auf den Schleikert sind es gerade einmal dreieinviertel Kilometer. Und dass der Sanzenberg noch viel näher liegt, das muss einer Weiacher Leserschaft nun wahrlich nicht erläutert werden.

Geständnisse sind aktenkundig

Wie man in den Transkripten von Otto Sigg, alt Staatsarchivar, aus den Jahren 2012/13 sehen kann, haben diese drei Weiacherinnen ihr Todesurteil sozusagen selber geschrieben. [Die Zitate in diesem Abschnitt stammen alle aus dem Verhörprotokoll vom 26. Juni 1539 (StAZH B VI 255, fol. 45r ff.).]

Eigentlich war es wie noch zu Zeiten von Anna Winkelmann. Ohne Geständnis hätte man die drei Frauen aus Weiach nicht verurteilen können. Wie auch? Es gibt ja keine unwiderlegbaren Sachbeweise. 

Aber Anna Hämmerli gab halt eben zu, etwas mit Wölfen angestellt zu haben: 

«Item, so seien sie auch alle drei eines Males auf Wölfen geritten auf einen hohen Berg, haben also eine Wollust oder Kurzweil gesucht und seien auch miteinander zu Rat geworden, einen ganzen Landeshagel zu machen. Doch sei die Sache ihnen gefehlt [fehl gegangen] und habe der Hagel nun hin und her geschlagen.

Item, so habe sie, auch Els Kellerin, so man nennt Schlotter Elsi, und Kirchhensin, den ferndrigen [letztjährigen] grossen Reif in einer weiten Heide auf einem hohen Berg, so gegen Zurzach abhin liege, gemacht. Und nämlich, als der Böse gesagt habe, er wollte ihnen wohl dazu verhelfen, dass sie allen Wein in der Gegend um Kaiserstuhl verderbten: solchem bösen Eingeben haben sie abermals gefolgt und haben zwei Mal, nämlich am hohen Donnerstag in der Nacht früh und in der Nacht vor dem stillen Freitag, des Teufels Rat vollstreckt, daraus dann gemeldete Reife gefolgt seien.»

Da ist es also, das Geständnis, sie seien auf einen Berg nahe Kaiserstuhl geritten und hätten dort mit Hilfe ihres Geliebten, eines Teufels, um die Zeit des Karfreitags einen verheerenden Frosteinbruch verursacht. Die von Hämmerli beschuldigte Elsa Keller, genannt Schlotterelsi, bestätigte das auch noch (möglicherweise aufgrund von Suggestivfragen):

«Und hätten sie ein Reifli, doch nicht gross, gemacht auf einem Berg, so gegen Zurzach abhin liege und Steighart heisse. Welcher [dieser] Reif sei um die Stadt Kaiserstuhl gelegen und [sei] nicht über [den] Rhein gekommen.

Item, so ist sie gichtig [geständig] geworden, dass sie den ferndrigen [letztjährigen] Reif auf genanntem Berg der Kirchhennsin und der Hämmerlin habe geholfen zu machen. Und sie haben alle drei das zwei Mal, mit Namen an des hohen Donnerstags Abend [Vortag des hohen Donnerstags] in der Nacht auf dem Steighart Berg und an des stillen Freitags Abend [Vortag von Karfreitag] in der Nacht auf Legishalden, aus des Teufels Anrichten getan und gemacht.»

Sollte mit dieser Legishalden eine Flur auf dem heutigen Gemeindegebiet von Dübendorf, nördlich Gockhausen über dem S-Bahn-Tunnel Stettbach-Stadelhofen, gemeint sein, dann wäre die Benutzung eines Wolf-Taxis wenigstens etwas verständlicher.

Auch die Dritte im Bunde, Katrin Angst, genannt Kilchhensin, erzählte den Ermittlern etwas von Wolfsritten:

«Item, weiter hat sie gesagt, wie sie drei auf Wölfen auf den Happenstab geritten seien, [Wölfe], die ihnen der Teufel gebracht habe. Und [sie haben] darauf [auf dem Happenstab] gegessen und getrunken, und ihrer jede sei daselbst bei ihrem Buhlen gelegen.

Item, mehr hat sie gesagt, wie es sich gegeben habe fern [im letzten Jahr, d.h. 1538], da seien sie drei am Mittwoch zu Nacht vor dem Hohen Donnerstag auf dem Santzenberg zusammen gekommen, desgleichen am Hohen Donnerstag zu Nacht seien sie drei aber[mals] zusammen gekommen auf dem Stein oben. Da sei der Böse jederer Buhle zu ihnen gekommen und habe sie etwas [zu] stampeneien gelehrt. Das haben sie getan und also die zwei Reifen gemacht am Hohen Donnerstag und am Karfreitag.»

Wo sich dieser «Happenstab» befunden haben könnte, ist dem WeiachBlog-Redaktor nicht bekannt. Dafür aber weiss jeder Weycher und jede Weycherin ganz genau, wo sich der «Stein» befindet. Das war und ist nämlich neben dem Sanzenberg und dem Haggenberg einer der drei Hausberge des Dorfes.

Was sind Stampeneien?

Diesen Begriff findet man im Schweizerdeutschen Wörterbuch Idiotikon (Id. XI, 449): «Dann da [beim 'Besägnen und Lochßnen'] werden gebraucht der Phantaseyen und Stempeneyen, Worten und Zeichen von so seltzamer wunderlicher Art... Gwerb 1646.» Gemeint sind also Handlungen, die zu Unfug, Schwierigkeiten, Lumpereien, etc. führen.

Und dann wird im Wörterbuch explizit der Weiacher Kriminalfall herangezogen: «Bes. von Teufels- und Hexenwerk. "Etwan by zechen jaren hab sy ein kleins ryffli gemacht, und namlich iren der böß etwas stämpeneyen zetuon angeben, daruß gemelt ryffli erfolget.» 1539, Z RB. "Deszglychen am hochen dornstag [Anm. WeiachBlog: donnstag] znacht sygint sy dryg aber zuosammen kommen uffem Stein oben; da syge der böß jettlicher buol zuo innen kommen und sy ettwas stämpeneyen geleert.»

Das Kochrezept, einen Frost herbeizuhexen

Im Einvernahmeprotokoll (StAZH A 27.159), d.h. den Voruntersuchungen durch die Nachgänger, ist notiert, wie man sich solche Stämpeneien konkret vorstellen kann:

«[Erwirken eines Reifs, um die Reben in der Gegend um Kaiserstuhl zu verderben]: Der Böse [habe] sie [die drei Angeklagten] also geheissen, eine Pfanne [aufzusetzen] und darin Wein und Milch zu tun und demnach mit einer Rute darin, so sie es [den Wein und die Milch] über das Feuer haben, zu schlagen, also über aus ins Feuer zu spritzen und verbrennen zu lassen. Das haben sie zweimal, nämlich am Hohen Donnerstag in der Nacht früh und in der Nacht vor dem stillen Freitag, getan, und auch zu solchem Eis genommen und das zerschlagen, daraus dann gemeldeter Reif gefolgt sei.» (zit. aus Sigg 2012, S. 29/30)

Quellen und Literatur
  • Schweizer, P.: Der Hexenprozess und seine Anwendung in Zürich. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1902 - S. 1-63.
  • Lorey, E. M.: Wie der Werwolf unter die Hexen kam. Zur Genese des Werwolfprozesses. URL: https://www.elmar-lorey.de/werwolf/genesetext.htm  [Stand: Juli 2004, ca. 50 Druckseiten]
  • Sigg, O.: Hexenprozesse mit Todesurteil. Justizmorde der Zunftstadt Zürich. Vom bösen Geist in Stadt und Land Zürich und im aargauischen Kelleramt. Dokumentation zu den 79 mit Todesurteil endenden sogenannten Hexenprozessen im Hoheitsgebiet der Stadt Zürich 1487-1701. Auf Grund von Quellen des Staatsarchivs Zürich bearb. durch Otto Sigg. 1. Aufl., Druck: Buchmodul.ch, Frick 2012. 2. Aufl., Offizin Verlag, Zürich 2013.
[Veröffentlicht am 1. Juli 2023 um 00:32 MESZ]

Samstag, 1. April 2023

Ulrich Herzog (28) mit der «Atlantic» untergegangen

Die «Atlantic» war plakativ formuliert so etwas wie die «Titanic» des 19. Jahrhunderts. Ein (für die Erstklasspassagiere) luxuriöses, modernes Schiff. Untergegangen infolge von Fehlern der Crew. Beide wurden sie von der White Star Line betrieben und beide wurden in derselben Werft (Harland & Wolff in Belfast) gebaut.

In Dienst gestellt hat man die «Atlantic» Anfang Juni 1871. Und bereits im April 1873 war sie Geschichte.

Holzstich aus Harper's Weekly, April 1873

Dieses Schiff wurde aus Stahl gefertigt und erhielt seinen Hauptantrieb durch eine vierzylindrige Dampfmaschine mit 600 PS und 11 Kesseln. Sie verfügte ausserdem über vier mit Segeln ausgestattete Masten. Das Leben an Bord verteilte sich auf 3 Decks, spartanisch eingerichtet für die breite Masse, höchst luxuriös für die Oberschicht. Die mit Teakholz ausgeführten Wände der Kabinen und Aufenthaltsräume der Ersten Klasse waren mit Damast bespannt und mit Blattgold verziert.

Vor Halifax auf eine Klippe aufgelaufen

Auf ihrer letzten Fahrt sollte die «Atlantic» nach New York übersetzen. Nach der Abfahrt in Liverpool am 20. März 1873 kam der Dampfer auf seiner 19. Atlantikquerung gut voran, geriet aber am 26. März vor der Küste von Nova Scotia in einen heftigen Sturm, der mehrere Tage anhielt. 

Am 31. März entschied sich der Kapitän, ausserplanmässig.den Hafen Halifax anzulaufen um dort Kohlen zu bunkern. Durch schweren Wellengang und heftige Winde wurde das Schiff vom Kurs abgetrieben und verpasste die Einfahrt in die Bucht von Halifax. Diesen Umstand bekam der Kapitän jedoch nicht mit. So rammte sein Schiff am 1. April mitten in der Nacht an der Felsenküste ein Unterwasserriff namens Marr’s Rock.

Diese Klippe wurde vielen Passagieren der «Atlantic» zum Verhängnis. Durch die hohen Wellen wurde das Schiff mehrmals angehoben und erneut gegen die Klippen geworfen. Da viele zum Zeitpunkt der Havarie unter Deck schliefen und das Haupttreppenhaus geflutet wurde kamen etliche gar nicht erst aus dem Schiff heraus. Zahlreiche Passagiere wurden von Bord gespült. Die zu Wasser gelassenen Rettungsboote wurden mehrheitlich weggespült oder zerschellten an den Felsen. 

Keine einzige Frau und nur ein Kind haben überlebt!

Da das Schiff nur gerade 50 Meter vom Ufer entfernt auf dem Felsen festsass, gelang es einem Offizier mit einigen Mannschaften, eine Seilverbindung zum Land aufzubauen. Auf diese Weise konnten Dutzende Menschen gerettet werden. Weitere wurden von Fischerbooten gerettet. Beim fünften Anprall auf die Klippe kenterte die «Atlantic» und sank.

Die traurige Bilanz dieser Sturmnacht an einer Halbinsel südwestlich von Halifax (laut Wikipedia): 545 Tote, darunter alle Frauen und - bis auf einen Knaben - alle Kinder. Weiter 19 von 31 Erstklasspassagieren. Überlebt haben 412 Personen, darunter fast alle Mitglieder der Besatzung. Die Opferzahlen variieren je nach verwendeten Quellen (s. unten die Angaben auf der Gedenksäule). Es dürften sich insgesamt rund 950 Personen auf dem Schiff aufgehalten haben.

Rauschen im Blätterwald

Die Schiffskatastrophe war am Zielort des Ocean-Liners natürlich Schlagzeilenthema Nr. 1. So in der New York Times (NYT):

«AN AWFUL DISASTER. Total Wreck of the White Star Steam-Ship Atlantic-Over Seven Hundred Lives Lost», titelte die Zeitung am 2. April (vgl. PDF-File verlinkt in Wikipedia). In den folgenden Tagen veröffentlichte die NYT Passagierlisten.

Und natürlich kam auch bald der Skandal ans Licht, dass nur Männer überlebt hatten: «THE WRECKED ATLANTIC; Personal Narratives--The Hatches Battened Down on Women and Children--Inhuman Conduct of the Crew.» (NYT 06-Apr-1873)

Grosse Aufregung: Wer ist schuld?

Die Untersuchungskommission lastete die Schuld mehrheitlich dem Kapitän und seinen Offizieren an. Insbesondere wurde kritisiert, dass offenbar nicht so viel Kohle geladen war, wie der Kapitän dies behauptet hatte. Weiter wurden der Besatzung Navigationsfehler sowie das Unterlassen der Besetzung zusätzlicher Ausgucke trotz schlechter Sicht vorgeworfen.

So schreibt die St. Galler Zeitung am 9. April 1873: «Der erste Lieutenant des "Atlantic", dem im Momente der Katastrophe die Führung des Dampfers anvertraut war, ist nicht umgekommen, sondern wurde am Nachmittage nach dem Unglücke im Tackelwerk des Wracks gefunden und ans Land gebracht. Falsche Berechnung von Fahrgeschwindigkeit und Strömung sollen einen falschen Kurs zur Folge gehabt haben. Die Aufregung an den englischen Häfen ist groß. Offiziere und Mannschaft sowohl als auch die Kompagnie selbst kommen in der Presse nicht am besten weg. Wer die eigentlichen Schul[d]igen sind, wird jedenfalls erst durch die angehobene gerichtliche Untersuchung ermittelt werden.»  (vgl. auch New York Times, 19. April 1873: «THE ATLANTIC DISASTER; Decision of the Halifax Commission Careless Before, Brave After the Wreck Capt. Williams Suspended.)

Abgleich der Namenslisten erweist sich als schwierig

Die Immigrant Ships Transcribers Guild führt ein ganzes Seitenbündel zu diesem Unglück. Dort kann man sehen, dass sich der Abgleich all dieser Listen als nicht gerade einfach erweist. Denn häufig wurden die Namen so geschrieben, wie sie halt für den Schreiben tönten.

Auf Seite 4 von 7 ist unter den STEERAGE PASSENGERS LOST auch der im Titel dieses Artikel erwähnte junge Weiacher aufgeführt. Er erscheint mit Nr. 679 in der New York Times vom 4. April als «Ulrich Herzog».

«Steerage» steht als Begriff für das Zwischendeck. Google Translate beschreibt dieses Deck als 
«the part of a ship providing accommodations for passengers with the cheapest tickets». Auf diesem haben sich die meisten Passagiere aufgehalten. Viele von ihnen waren Auswanderer.

Ein Friedhof für fast die Hälfte der Opfer

Wo Ulrich Herzog begraben wurde und ob man seine Leiche überhaupt je gefunden bzw. identifiziert hat, ist nicht bekannt. Es könnte sein, dass sich sein Grab im «SS Atlantic Heritage Park» (180 Sandy Cove Road, Terence Bay, Nova Scotia, Canada B3T-1Y5) befindet:

«The Ismay family donated the monument pictured below in 1915; Thomas Henry Ismay was the founder of the White Star Line, which owned the SS Atlantic. The monument reads:



Near this spot
was wrecked the
S.S. 'Atlantic'
April 1st, 1873
When 562 persons
perished, of whom 277
were interred
in this church yard.

This monument is
erected as a sacred memorial
by a few sympathetic friends.

Jesus said
'I am the resurrection and the life.'




Die Kunde vom Unglück gelangt auch in die Heimat der Auswanderer

Bereits am 2. April berichtet die Neue Zürcher Zeitung in ihrem Zweiten Blatt des Tages (Nr. 168) unter der Rubrik «Telegramme»: 

«Paris, 2. April. Der Dampfer „Atlantic“ mit 1000 Personen an Bord hat bei der Mars-Insel neben Canada Schiffbruch gelitten. Man versichert, es seien 700 Personen ertrunken

Eine der ersten Schweizer Zeitungen (so ergibt es zumindest aktuell die Suche bei e-newspaperarchives.ch), die über die aus dem Kanton Zürich stammenden Opfer des Unglücks berichtet hat, ist seltsamerweise das Berner Intelligenzblatt vom 23. April 1873, S. 5:

«Auf dem verunglückten Auswandererschiff "Atlantic" befanden sich laut "Z.Pr." auch eine Anzahl Zürcher. Nach Mittheilungen des "Volksfreunds" sind von Letzteren gerettet: Lee von Glattfelden; Schmid von Glattfelden; Albrecht von Stadel und Mülli von Schöfflisdorf.
Vermißt werden: Herzog, Sattler von Weiach und Heinrich Meier von Glattfelden.
»


Die Züricherische Freitagszeitung, Nummer 17, 25. April 1873 - S. 3 bringt nur die Herkunftsorte der vom Unglück betroffenen Zürcher, differenziert aber nicht zwischen Geretteten und Ertrunkenen:

«Auf dem untergegangenen Auswanderungsschiff „Atlantic" befanden sich auch einige Zürcher von Glattfelden, Schöfflisdorf, Stadel und Weiach; vier werden als gerettet, zwei als vermißt bezeichnet.» 

Erbschaftskurier überlebt, aber das Geld ist weg

Über die konsularisch-diplomatischen Kanäle gelangten die Informationen über vom Schiffsunglück direkt betroffene Schweizer via Bern auch nach Zürich. 

Am 28. April (vom Kanzlisten irrtümlich auf einer mit 26. April 1873 vordatierten Seite des Regierungsratsprotokolls notiert) findet man die Zuschrift des Bundesrates «betr. die beim Untergang des Schiffes Atlantic verunglückten Zürcher»:


«Der Bundesrath theilt mit Zuschrift vom 25. dieß auf Grund eines Berichtes des schweiz. Konsulates in New-York und unter Vorbehalt späterer genauern Mittheilungen, die Namen der zürch. Angehörigen mit, welche beim Schiffbruch des Dampfers Atlantic in der Nacht vom 31. März/1. April in der Nähe von Halifax umgekommen oder gerettet worden sind, nämlich:

1. Umgekommen:
Albrecht Heinrich von Stadel 28 Jahre alt
Herzog Ulrich, von Weiach 28 Jahre alt
[...]
2. Gerettete»[Auszug mit den Unterländern]
Von Glattfelden: Schmid Jakob (31), Meier Heinrich (32), Lee Rudolf (29)
Von Schöfflisdorf: Mülli Albrecht (22) und Mülli Johann (22)

Ein Vergleich mit dem Intelligenzblatt (s. oben) ergibt, dass laut behördlichen Erkenntnissen der Stadler Albrecht und nicht der Glattfelder Meier ums Leben gekommen ist.

«Im Weitern fügt der Bundesrath bei; Die Geretteten seien inzwischen in New-York eingetroffen, von der dortigen schweiz. Hülfsgesellschaft aufs Beste aufgenommen worden und hätten dann, jeder mit 10 Dollar Reisegeld versehen, ihre Weiterreise ins Innere des Landes unternommen. Lee von Glattfelden soll in der Heimat, wohin er aus Amerika auf Besuch gekommen, kürzlich eine Erbschaft von Fr. 6 000 erhalten haben, welche er in Baarschaft bei sich getragen und bei der Katastrophe natürlich verloren habe.»

Unter Verwendung von Swistoval.ch, dem Swiss Historical Money Value Converter der Uni Bern, beläuft sich diese Summe von 6000 Franken umgerechnet nach dem Historischen Lohnindex HLI auf heutige Werte auf rund 325'000 Franken.

«Es wird verfügt: [...] II. Den Gemeindräthen der übrigen interessirten Gemeinden [u.a. Weiach] wird von vorstehendem Berichte Kenntniß gegeben.»  (StAZH MM 2.200 RRB 1873/1024)

Wie viele tote Schweizer sind es wirklich?

Derweil versuchte man immer noch, die Passagierlisten mit den Listen der Geretteten und Umgekommenen abzugleichen, was alles andere als einfach war. Die Opferzahl umfasste nach einem Monat 62 Schweizerbürger, wie die Neue Zürcher Zeitung, Nummer 219, 2. Mai 1873 berichtet:

«Schiffbruch des Atlantic. Das Bundesblatt vom 29. April führt unter den ca. 600 Ertrunkenen des Atlantic 62 Angehörige der Schweiz auf, darunter zwei Zürcher, nämlich Hrch. Albrecht von Stadel, 28 Jahre alt und Ulrich Herzog von Weiach, 28 Jahre alt. 
Der schweiz. Konsul in Liverpool ist vom Bundesrathe beauftragt, sorgfältige Erkundigungen über die Zahl und die Namen der Schweizer einzuziehen, welche sich auf dem Atlantic eingeschifft haben.»

Das entspricht den Zahlen, die im Bundesblatt (BBl 1873 II 192) samt den Namen der Opfer veröffentlicht wurden.

Wieder einen Monat später publizierte dann die Zeitung Le National Suisse aus Neuchâtel in der Ausgabe Nummer 130 vom 1. Juni 1873 eine Liste, die noch 21 Opfer dazurechnete:

«En date du 23 mai, le Consul suisse à Liverpool a envoyé au Conseil fédéral une liste complète des passagers du steamer l'Atlantic, échoué le 1° avril dernier devant Halifax. Cette liste, comme toutes celles de ce genre, ne renferme que l'indication des noms, de l'âge et du port d'embarquement, sans faire mention de l'origine des passagers, de telle sorte que l'on n'a, pour découvrir leur nationalité, que le nom de famille et le lieu d'embarquement.» 


Die Gemeinden Movelier (damals bernisch, heute Kt. Jura) und Sevelen im St. Galler Rheintal waren wesentlich stärker betroffen als Weiach oder Stadel (je 1 Opfer), haben sie doch durch dieses Unglück 22 bzw. 28 ihrer Bürger verloren, darunter ganze vielköpfige Familien.

[Veröffentlicht am 25. Juni 2023 um 09:25 MESZ]