Montag, 7. Dezember 2020

Witamy, Joanna Krauze!

Falls Google Translate etwas taugt, dann ist dieser Titel Polnisch und heisst übersetzt: «Willkommen, Joanna Krauze». 

Wie man heute auf der Website bzw. über den elektronischen Newsletter der Politischen Gemeinde (!) erfahren konnte (vgl. https://www.weiach.ch/short/LG8gnKBD), ist diese junge polnische Pianistin seit 1. Dezember 2020 offiziell Titular-Organistin der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Weiach, d.h. sie ist fix angestellt und erste Wahl bei allen Orgeldiensten.

Lydia Kellenberger nach über 23 Jahren im Ruhestand

Krauze löst die bisherige Stelleninhaberin Lydia Kellenberger ab, die seit November 1997 für die kirchenmusikalische Grundversorgung der Weiacherinnen und Weiacher verantwortlich zeichnete. Lydia wurde am 15. November mit allen Ehren in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Für ein Interview, wie es Regula Brandenberger im Herbst 1986 mit ihrem Vorgänger Harlacher geführt hat (vgl. WeiachBlog Nr. 1385), ist Lydia zu bescheiden. Es bleibt daher bei der Laudatio in der Kirche.

Vom Vorsinger zum Publikumsmagneten Frau Pfarrer

Bis Ende 1866 war Kirchenmusik reiner Gesang, geleitet von einem Vorsinger. Dieses Amt wurde lange Zeit qua Regierungserlass durch den Schulmeister bekleidet. Erst nach der Aufhebung dieses Amtszwangs wurde es schwieriger einen Vorsinger zu verpflichten, was 1867 der Anlass zur Beschaffung des ersten in unserer Kirche fix installierten Instruments war: einem Trayser-Harmonium.

In der Anfangszeit wurde dieses auch von der jungen Frau Pfarrer Stünzi gespielt, was nach den Erinnerungen der aus unserem Dorf stammenden US-Schriftstellerin Louise Patteson zu signifikant höheren Zahlen beim Gottesdienstbesuch durch Männer geführt haben soll:

«The first of Frau Pfarrer’s innovations was a harmonium. It resembled a large flat-topped desk, but was really a church organ. Frau Pfarrer played it at both the church and Sunday School services to the great delight of us children. But we were not the only ones who delighted in that organ. Men who had not been inside of a church for years now became regular attendants.» (Vgl. WeiachBlog Nr. 1506 für das Zitat und Quellenangaben).

Richtige Orgeln und lange Amtszeiten

Ab 1930 stand in der Weiacher Kirche dann eine «richtige» Orgel (von der Orgelbaufirma Kuhn am Zürichsee). Dieses Instrument erlebte gerade einmal zwei Titular-Organisten (vgl. WeiachBlog Nr. 1385): 

  • Albert Griesser: 1891-1946
  • Walter Harlacher: 1946-1997

Griesser spielte also bereits seit vielen Jahren auf dem Harmonium. Und Harlacher nach der grossen Restauration in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre auch auf der neuen Neidhart&Lhôte-Orgel von 1969.

Somit ist Joanna Krauze erst die zweite Person, die von der Kirchgemeinde auf dieses Instrument gewählt worden ist. Was das noch jugendliche Alter betrifft, so erinnert ihre Berufung durchaus an den jungen Walter Harlacher, der 1946 noch häufig mit dem Velo von auswärts anreiste.

Sieht man sich allerdings ihr Palmarès an (vgl. https://www.wcom.org.uk/yeoman/joanna-krauze/) und berücksichtigt überdies den Umstand, dass sie die erste Profi-Musikerin ist, die dieses Amt bekleidet, so ist es eher wenig wahrscheinlich, dass Krauze eine ähnlich lange Zeit unsere Titular-Organistin bleiben wird wie Kellenberger oder gar Harlacher.

Bach als kleine Einführung

Anders als die Kuhn-Orgel steht das Neidhart&Lhôte-Instrument seit 1969 auf der Empore (ähnlich wie das Harmonium von 1872 bis 1929). Von unserer Organistin wird man also wenig sehen. Als kleines Performance-Beispiel sei hier auf ein Youtube-Video verwiesen, das im Rahmen des 10. Internationalen Klavierwettbewerbs Johann Sebastian Bach, Würzburg im März 2019 aufgezeichnet wurde.

Der anlässlich dieses Wettbewerbs Geehrte hat bekanntermassen viele Werke auch für Orgeln geschrieben und sich selber auf vakant gewordene Organistenstellen gemeldet:

«Im Jahre 1720 bewarb sich Johann Sebastian Bach um die Organistenstelle an St. Jacobi. Jedoch erhielt statt seiner Johann Joachim Heitmann die Stelle, weil dieser im Gegensatz zu seinem berühmt gewordenen Mitbewerber in der Lage war, eine hohe Summe Geldes (4000 Mark) an die Kirchenkasse zu entrichten und darüber hinaus die Tochter des Hauptpastors zu ehelichen.

Johann Mattheson überliefert die Strafpredigt von Erdmann Neumeister, dem damaligen Hauptpastor von St. Jacobi: „Er glaube ganz gewiß, wenn auch einer von den bethlehemitischen Engeln vom Himmel käme, der göttlich spielte und wollte Organist zu St. Jacobi werden, hätte aber kein Geld, so möchte er nur wieder davon fliegen“.

Tatsächlich ist belegt, dass Bach an der großen Orgel in der benachbarten Katharinenkirche spielte. Der Zustand der Jacobi-Orgel war vorübergehend nicht sehr gut und Bach reiste vor dem offiziellen Probespiel ab.»  (Quelle: Wikipedia-Artikel über die Orgel der Hamburger Jacobi-Kirche).

Bach soll im September 1720 im Rahmen eines zweistündigen Auftritts in der Katharinenkirche u.a. auch seine Fantasie und Fuge in g-moll BWV 542 erstmals gespielt und die Anwesenden tief beeindruckt haben.

Wir wünschen gute Zusammenarbeit!

Nun, der derzeit amtierende Weiacher Pfarrer Plüss wird wohl keinen Anlass haben, sich über die Art und Weise der Besetzung der hiesigen Organistenstelle zu echauffieren, wie Neumeister anlässlich der Wahl von Heitmann (die wie oben beschrieben nur gegen Geld und weitere Kautelen zustande kam).

Allen Beteiligten (der frisch gewählten Organistin, dem ebenfalls noch jung im Amt stehenden Pfarrer und der Kirchenpflege) wünscht WeiachBlog hiermit gute Zusammenarbeit und ein erbauliches kirchenmusikalisches Leben.

Mittwoch, 2. Dezember 2020

500 Jahre St. Marien Hohentengen? Das Gotteshaus ist viel älter!

Am Sonntag, dem 2. Dezember 1520, also am heutigen Datum vor 500 Jahren, wurde die spätgotische Pfarrkirche St. Marien ennet dem Rhein in Hohentengen feierlich geweiht.

Weil wir heute nicht mehr mit dem julianischen Kalender rechnen, wie die Damaligen, ist erst am 12. Dezember nach gregorianischer Zeitrechnung exakt ein halbes Jahrtausend vergangen. Aber was sind schon 10 Tage auf mehrere Dutzend Generationen?

Es war auf jeden Fall ein grosses Ereignis für die ganze Gegend, war doch diese Kirche schon damals wohl seit mindestens einem halben Jahrtausend das spirituelle Zentrum für eine weitläufige Pfarrei, zu der nicht nur die namensgebende Stadt Kaiserstuhl und Hohentengen selber, sondern auf der linken Rheinseite auch Fisibach, Schwarzwasserstelz und Weiach, sowie auf der rechten Seite Wasterkingen, Hüntwangen, Herdern, Günzgen, Stetten, Oberhoven (Oberhof b. Bühl ennet dem Kalter Wangen?), Oeschingen (Bergöschingen), die Höfe Berchen und Türnen und sogar Küßnach gehört haben. Lienheim soll «wohl nicht sehr lange, mehr vorübergehend» zur Pfarrei Kaiserstuhl gehört haben. Bis zu seiner Abspaltung im Jahre 1421 war ausserdem Glattfelden noch Teil dieser Grosspfarrei. [Angaben nach Wind 1940, S. 18]

Nur den Weihbischof geschickt

Ein wichtiger Tag und doch liess sich der seit 1496 als Fürstbischof von Konstanz regierende Hugo von Hohenlandenberg nicht in Hohentengen blicken. Der aus der Adelsfamilie der Landenberger (mit Stammburg bei Bauma im Tösstal) stammende Hugo hatte offenbar Wichtigeres zu tun.

Er übertrug seinem Generalvikar, Weihbischof Melchior Fattlin (1518-1548 im Amt) die Aufgabe, die weitgehend neu aufgebaute Kirche zu konsekrieren, d.h. dem liturgischen Gebrauch der Gemeinde zu übergeben.

Melchior war der vierte Titularbischof von Ascalon (dem heutigen Ashkelon in Israel), ein Bistum das bereits Jahrhunderte zuvor an die Araber verlorengegangen war. Diese Würde wurde vom Papst rein formal verliehen. Und trotzdem steht dieser Titel natürlich in der Weiheurkunde, die seither im Stadtarchiv Kaiserstuhl aufbewahrt wird (Signatur: StAK Urk 141; vgl. Bild).

Bild: Südkurier, 19. Oktober 2020

Im Standardwerk Aargauer Urkunden Bd. XIII von Paul Kläui ist das Pergament als Nr. 159 auf S. 79 aufgeführt, jedoch bloss als Regest:

«1520 XII. 2. und 3. Der Generalvikar des Bischofs Hugo von Konstanz weiht die Pfarrkirche der Stadt Kaiserstuhl. - Orig. Perg. StAK Urk. 141 S. abgef. - Druck: Welti S. 73 Nr. 57»

Friedrich Emil Welti, der hier erwähnt wird, hat den vollen Wortlaut 1905 publiziert. Wir geben hier nur die ersten Zeilen wieder: 

«Melchior, dei et apostolice sedis gratia episcopus Ascalonensis, reverendi in Christo patris et domini, domini Hugonis, eadem gratia episcopi Constantiensis in pontificalibus vicarius generalis, recognoscimus per presentes, quod anno a natiuitate domini millesimo quingentesimo vicesimo, die vero secunda mensis decembris, insignia pontificalia in diocesi Constantiensi exercentes, ecclesium parrochialem opidi Keiserstuol, extra muros eiusdem situatam, in honore beatissime virginis Marie, unacum tribus altaribus, ...»  Für eine Übersetzung, siehe Wind 1940, S. 15.

Dieser Einleitung folgt eine detaillierte Aufzählung der sechs Altäre, die damals in der Kirche zu finden waren. Die Eckdaten dieser Bestätigung sind aber klar: Diese Baute ist der Gottesmutter Maria geweiht (die älteste Nennung des Patroziniums datiert nicht weiter zurück als 1440, vgl. AU XIII, Nr. 68).

Imposantes Bauwerk

Weiter geht aus der Urkunde klar hervor, dass die Pfarrei eben nach Kaiserstuhl benannt war (und nicht nach dem Standort der Kirche). Die dortige Siedlung nannte man übrigens nach diesem imposanten Kirchenbau «Dengen der hohen khirchen», woraus später Hohentengen wurde.

Wenn man sich das Gebäude anschaut und sich vergegenwärtigt, dass Hohentengen früher wesentlich weniger Einwohner hatte als in die Kirche passen, dann wird klar, dass sie nicht nur für die dort Wohnenden gedacht war, sondern für einen viel weiteren Kreis.

Älterer Vorgängerbau aus dem 11. Jahrhundert?

Wie oben erwähnt, wurde die Kirche nicht nur renoviert, nein, man hat sie praktisch neu gebaut. Was vom alten Gotteshaus übernommen wurde, war nur der Kirchturm. Kein Wunder, denn der ist so solid gebaut, dass er fast für die Ewigkeit taugt. Er wurde, so vermutet Paul Kläui, zweimal aufgestockt. Letztmals 1518 bis 1520, als die Gebäude (und auch der Turm) seine heutige Form und Höhe erhalten haben.

Kläui Grabungen, S. 283

Der romanische, «nördlich des gotischen Chors stehende Turm» hatte einen Chor enthalten, «der zu einem in der Achse der heutigen Kirche, aber rund 9 m nördlicher gelegenen Schiff gehörig war.» (Kläui Grabungen, S. 285)

Die ca. 90 cm dicken Mauern dieses alten Schiffs verschwinden unter den Fundamenten des Chorturms, was Kläui veranlasst hat, die bisher kursierenden These, dass der Kirchturm auf römischen Fundamenten stehe, zu verwerfen. Das alte Schiff war, wie man der Skizze entnehmen kann, nicht breiter als der Turm selber, d.h. nicht mehr als 7 Meter. Aber über 20 Meter lang, also ein langgezogener Schlauch, der im Innern nur deshalb nicht als solcher auffiel, weil der Baukörper durch eine Quermauer unterteilt war. Es gab also eine Vorhalle von ca. 8 Metern Länge und ein Schiff von 16.5 Metern Länge.

Da sich die bei der Ausgrabung nach dem Brand von 1954 freigelegten, innerhalb des gotischen Baus von 1518-1520 liegenden Fundamente der Südmauer der alten Kirche ohne jegliche Fuge über die ganze Länge erstrecken, muss davon ausgegangen werden, dass die heutigen Ausmasse von Anfang an bestanden haben und keine Erweiterung erfolgt ist!

Von den Zähringern gebaut

Was die Datierung des Chorturms betrifft, so nimmt Kläui an, dass er in der ersten Hälfte der Regierungszeit des Bischofs Gebhard III. von Zähringen (im Amt 1084 bis 1110) errichtet worden sei und begründet das wie folgt:

«Das späte 11. Jahrhundert war die Zeit, in der die Zähringer sich um die Erfassung des Schwarzwaldes bemühten. Sie zeichnet sich in der Gründung von St. Georgen (1084), der Verlegung des Klosters Weilheim unter Teck nach St. Peter und in der Förderung von St. Blasien ab. Die Errichtung eines starken, möglicherweise auch wehrhaften Kirchturms in Hohentengen würde sich zwangslos einfügen in die Tätigkeit der Häupter der kirchlichen Reformpartei in Schwaben, Herzog Berchtolds II. von Zähringen und seines Bruders Gebhard, des Bischofs von Konstanz. Zieht man noch die enge Verbindung Herzog Berchtolds mit dem Reformkloster Allerheiligen in Schaffhausen in Betracht, so zeichnet sich überdies eine Linie ab, die die Frage erlaubt, ob nicht in baulicher Hinsicht direkte Beziehungen zwischen Hohentengen und Illnau zu suchen sind, denn Graf Adelbert von Mörsburg aus dem Hause Nellenburg, um 1100 Vogt von Allerheiligen, war auch Besitzer der Kirche Illnau.» (Kläui Grabungen, S. 289)

Karolingische Kirche aus dem 8. od. 9. Jahrhundert

Wie alt das zum Zeitpunkt des Turmbaus bereits vorhandene Schiff mitsamt Chor ist? Kläui nimmt – wieder in Analogie zu den Grabungsergebnissen von 1954 in Illnau sowie ebensolchen aus dem st. gallischen Eschenbach – an, dass es sich um eine karolingische Kirche aus dem 8. oder 9. Jahrhundert handeln dürfte. Also ein Steinbau, der zur Zeit Bischof Gebhards bereits ein Alter von zwei- bis dreihundert Jahren aufwies (Kläui Grabungen, S. 289) [Korrektur am 3.12.2020].

Wie ähnlich sich die Baupläne der beiden Kirchen von Hohentengen und Illnau (heute reformierte Kirche) sind, zeigt die nachstehende Skizze aus einer Publikation des Zürcher Denkmalpflegers Drack:

Auch bei der Illnauer Kirche liegt der mit massiven Mauern errichtete Chorturm im Osten, woran sich im Westen ein exakt in der Flucht der Turmmauern aufgeführtes Schiff anschliesst.

Mitfinanziert und doch kaum genutzt

Und die Weiacher? Die haben den Bau des grossen spätgotischen Neubaus ennet dem Rhein, dessen aufgestockter Turm auch vom Dorf aus nicht zu übersehen ist, mitfinanziert. Sie waren damals ja auch noch brave Katholiken. 

Zufälligerweise exakt in dieser Bauzeit, 1519, trat in Zürich bekanntlich Zwingli sein Amt als Leutpriester am Grossmünster an. Die nachfolgenden turbulenten Jahre der Reformation haben die Weiacher von ihrer Mutterpfarrei und der alten Kirche abgetrennt. Das dürfte sie sehr geschmerzt haben, wurden doch in dieser Kirche auch die von ihnen gestifteten Jahrzeiten für ihre verstorbenen Vorfahren zelebriert.

Quellen

Samstag, 28. November 2020

Vom Weyacherberg kamen die Plünderer haufenweise

Vor fast genau hundert Jahren, 1921, hat Emil Bolleter ein Büchlein mit dem aus unserer heutigen Sicht etwas verwirrenden Titelbestandteil «(Fisibach, jetzt Bachs, Kanton Zürich)» veröffentlicht: die erste zwischen harte Buchdeckel gefasste Monographie über die Bachser Ortsgeschichte. 

Als Ober-Fyßibach oder Fisibachs wurde nämlich früher Alt-Bachs bezeichnet, der westliche Teil des zürcherischen Bachs, als Unter-Visibach das früher zur Grafschaft Baden gehörende, heute aargauische Fisibach.

Auch Bolleter äussert sich, wie schon 1863 der Glattfelder Näf (vgl. einleitende Abschnitte von WeiachBlog Nr. 1613) zu den französischen Soldaten – und zwar im Kapitel «Das Bachsertal im Kriegsjahre 1799». Dieses geben wir nachstehend im vollen Wortlaut wieder, weil es das Verhalten derselben Truppe schildert, die aufgrund ihres Lagerplatzes auch Weiach heimgesucht haben dürfte. 

Von wo das 13. Regiment stammte

Es handelt sich um Angehörige des «13. Regiments der fränkischen Armee», gemeint ist ein Régiment d'infanterie. Dabei dürfte es sich um die 13ième demi-brigade (Halbbrigade) gehandelt haben, denn diesen Namen hatte der Nationalkonvent im Februar 1793 den Regimentern verpasst, um die Erinnerung an die royale Tradition zu tilgen (später wieder rückgängig gemacht). 

Die chasseurs à pied waren damals die normalen Fusssoldaten der leichten Halbbrigaden, die jeweils aus einem Profi-Bataillon der alten königlichen Armee und zwei neu aufgestellten Bataillonen von Wehrpflichtigen bestanden (sogenanntes «Amalgame militaire»). Einen Unterschied zwischen diesen Einheiten sah man anhand der Uniformen offenbar nicht, da diese einheitlich blau waren.

Die Angehörigen dieser 13ième demi-brigade de première formation (insgesamt ca. 2500 Mann) kamen zu zwei Dritteln aus der Gironde, dürften also aus der Gegend um Bordeaux stammen.

Tyrannig, so daß man kaum mehr des Lebens sicher war

Hier nun Bolleters Wortlaut zu dieser Plünderungsphase von Ende Oktober bis etwa Mitte November 1799. Unterbrochen dort, wo Anmerkungen zwingend sind:

«Im Jahre 1799 fochten die Österreicher und Russen ihren Kampf mit den Franzosen auf Schweizerboden aus. Der ganze nördliche Teil des Kantons Zürich wurde dabei hart mitgenommen. Wohl hatten sich die Österreicher in der ersten Schlacht bei Zürich (4. u. 5. Juni) in den Besitz der Stadt gesetzt; aber nach der zweiten (25. u. 26. September) mußten die Russen, welche die Österreicher inzwischen abgelöst hatten, fliehen und wurden von den Franzosen verfolgt. Über einen Monat blieben die letzteren an der Rheinlinie liegen, wobei die besetzten Dörfer viel Ungemach zu erdulden hatten.»

Es war einiges mehr als ein Monat, denn dem erwähnten Verband folgten weitere nach. Die Frontlinie am Rhein hatte von Ende September 1799 bis Ende April 1800 Bestand.

«Auch Bachs litt sehr. Die Jäger des 13. Regiments der fränkischen Armee hatten vom 23. bis 25. Oktober im Weyacherberg zwischen Bachs und Weyach ein Lager aufgeschlagen und kamen nun haufenweise in das Dorf und die umliegenden Höfe, um Wein, Brot, Fleisch, Fäsen [hier wohl gemeint: Dinkel oder Korn], Haber, Heu, Stroh, Geschirr usw. zu holen. Vom 25. bis 29. Oktober waren 135 Mann im Dorfe Bachs selbst einquartiert, nachher bis in den November hinein 60, die alle die Bewohner sehr bedrängten, besonders an Wein, "obgleich keiner mehr vorhanden war". Offiziere und Soldaten waren sehr "tyrannig, so daß man kaum mehr des Lebens sicher war"; der Aufforderung des Kommandanten, bis zum zweitfolgenden Tage 400 Rationen Fäsen, 6 Säcke Hafer, 1 Flasche Branntwein, 50 Hufeisen zu liefern, folgte die Drohung, das Dorf würde bei Nichtgehorsam ausgeraubt werden. 

Auch der Pfarrer hatte sehr zu leiden; die Offiziere quartierten sich, da sonst keine bequeme Unterkunft vorhanden, kurzerhand im Pfarrhause ein. Am 12. Dezember klagt Pfarrer Zimmermann in einem Briefe an die "Bürger Administratoren" darüber, wie arg es mitgenommen worden sei, nicht nur seien die 30 Mütt Kernen seiner Besoldung ausgeblieben, sondern auch die 10 Eimer Wein, "was sich ungleich schwerer vermissen lasse, zumal dieses Quantum für den Hausgebrauch niemals hinlänglich sei".»

Der nächste Abschnitt betrifft den Weiler Im Thal, der unter dem alten Stadtstaat noch zum Neuamt gehört hatte (der Rest von Bachs zur Herrschaft Regensberg):

«Bitteres hatte auch der Talmüller Ulrich Ott zu erdulden: er wurde nicht nur mißhandelt, sondern man stahl ihm auch 14 Saum Wein [1 Saum = ca. 150 Liter], 130 Viertel Fäsen [über 3000 Liter], 13 Mütt Kernen [ca. 1300 Liter], 25 neue Säcke, 80 Pfund [ca. 36 kg] dürres Schweinefleisch, 15 Maß Butter und Schmalz, 20 Pfund [ca. 9 kg] Salz, 15 Zentner Heu, ferner Brot, Hühner, hölzernes und gläsernes Geschirr, im ganzen für 856 fl. [Gulden] 

Zu alledem mußten die Bachser das Verlangte dem Heere zu- und nachführen, nicht nur in die nähere Umgebung, sondern bis nach Bülach, Glattfelden, Winterthur, Reckingen.» [gemeint: Rekingen, Kt. AG]

Gerade angesichts dieses letzten Satzes ist nicht ganz klar, ob es sich bei all diesen Zahlen nur um den Beginn dieses üblen Winters 1799/1800 gehandelt hat (mit der 13. Halbbrigade), oder um mehrere Plünderungsereignisse. Spätestens Mitte November war nämlich bereits der nächste Verband vor Ort. Da schlug die 67. Halbbrigade ihr Hauptquartier in Weiach auf.

Finanzielle Bezifferung des grossen Schadens

«Der Schaden durch Plünderung in den Häusern wurde auf 8200, derjenige durch Verheerung beim Lagern [gefällte Bäume] auf 3570 Fr. geschätzt, nach heutigem Geldwerte das Vielfache. 78 Haushaltungen waren arg mitgenommen worden.

Unsäglich war das Elend, welches das Kriegsjahr 1799 über unsere Gegend gebracht hatte. Über die Notlage einer Gemeinde (Rümlang) erschien eine eigene Broschüre, betitelt: "Getreue Darstellung des verarmten, unglücklichen Zustandes der Dorfgemeine Rümlang im Kanton Zürich". Das Elend des Dorfes wird hier in ergreifenden Zügen geschildert. Freuen wir uns, daß aus der trostlosen Lage der damaligen Zeit langsam eine schönere Zukunft heranwuchs!»

Die genannte Zahl von 11770 Franken hat umgerechnet mit dem SWISTOVAL-Tool der Uni Bern je nach verwendetem Index einen heutigen Wert zwischen 127'500 (Konsumentenpreisindex KPI) und 1.357 Mio. Franken (Historischer Lohn-Index HLI). Ob es sich dabei um den Gesamtschaden über eine längere Periode oder nur um den Schaden durch das von ihm genannte 13. Regiment gehandelt hat, geht aus Bolleters Text nicht hervor.

Quelle
  • Bolleter, E.: Geschichte eines Dorfes (Fisibach, jetzt Bachs, Kanton Zürich). Zürich 1921 – S. 228-229.

Freitag, 27. November 2020

General Raffzahn, oder: Wie Plünderer produziert werden.

Der Glattfelder Pfarrer Arnold Näf beschreibt in der 1863 veröffentlichten Monographie über die Geschichte seiner Gemeinde auch die Kriegszeit von 1799/1800. Er erwähnt ausführlich die Plünderungen beider Kriegsparteien und streift die Gefahr für Leib und Leben nur am Rande: 

«Einem Manne wurde von einem Kaiserlichen der Kopf zerspalten, weil er nicht ohne Weiteres das verlangte Geld hergab. Sonst werden die Kaiserlichen und Russen im Allgemeinen als freundliche Leute geschildert, während die Franzosen als härter und rücksichtsloser galten.» (Näf, S. 51/52)

Mit den Kaiserlichen sind die Soldaten der Habsburgermonarchie gemeint (meist pauschal als «Österreicher» bezeichnet, obwohl auch Verbände ungarischer und anderer Nationalität zum Einsatz kamen). Beim Sammelbegriff «Russen» ist es ähnlich. Darunter sind Angehörige aller möglichen Völkerschaften des Zarenreichs zu verstehen, einschliesslich sehr fremdländisch aussehende, wie die westmongolischen Kalmücken.

Der Beitrag Nr. 1612 vom letzten Sonntag hätte auch den Titel «Wie die Weiacher die Franzosen hassen lernten» tragen können. 

Nachstehend werden weitere Erklärungen für das Phänomen geliefert, dass der eingangs geschilderte Angriff eines Österreichers (der leicht tödlich geendet haben kann und von dem wir nicht wissen, ob er vor ein Kriegsgericht kam) in der Retrospektive offenbar nicht allzu sehr ins Gewicht fiel.

Unterschiedliche Logistik- und Finanzierungs-Konzepte

Ja, auch die Russen haben alles, was ihrer Ansicht nach essbar war, aus Gärten und vom Feld geplündert, so z.B. in der Gemeinde Eglisau: «sie kochten in ihren Töpfen unreife Trauben, Nüsse, Aepfel, Bohnen, Unschlitt, u.s.w. durch einander» (Näf, S. 51). Da scheint es mit dem Nachschub nicht geklappt zu haben. 

Anders bei den Kaiserlichen: «Während die Oesterreicher Lebensmittel aus Schwaben und Tirol hatten kommen lassen, nährten sich die 95'000 Franzosen, die jetzt in der Schweiz standen, ganz vom Raub», notiert Nägele 1979 (Separatdruck, S. 8).

Wer dafür verantwortlich war, kann man aus erster Hand erfahren. Aus Briefen, die C.N. Morin, ein französischer Zivilist, der zum Hauptquartier der Armée de l'Helvétie abkommandiert worden war, 1799 aus der Schweiz an seine Kontaktpersonen nahe der Pariser Machtzentrale geschrieben hat.

Diese Briefe stammen aus der Autographen-Sammlung des Genfers Henri Fatio und wurden 1930 von Schlumberger-Fischer in der Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde veröffentlicht. 

Sie machen deutlich, dass der erwähnte räuberische Ansatz zur Versorgung der Truppen von den Machthabern in Paris zumindest in Kauf genommen, wenn nicht gar explizit angeordnet worden ist, schreibt Schlumberger-Vischer doch einleitend:

«Les troupes françaises ne s'étaient point bornées à prêter leur aide pour l'institution du nouveau régime.» [Gemeint: die Regierung der jungen Helvetischen Republik]. «Leurs généraux et leurs commissaires recevaient bientôt les ordres de remplir les caisses vides de l'armée par l'imposition de contributions fort lourdes, d'autant plus pénibles que par cette longue occupation le pays se voyait arriver à la fin de ses ressources.» (Schlumberger-Vischer, S. 96)

Herr Morin fragt sich: Sachverhaltsirrtum oder bewusste Täuschung?

Morin, geboren 1768 in Lyon, war offiziell Sekretär von Masséna, im Geheimen aber so etwas wie ein Kriegskommissär mit besonderem Aufgabenportefeuille, der insbesondere dort zum Einsatz kam, wo sich die finanztechnischen Probleme der Revolutionsarmee häuften, so schon 1797/98 als «liquidateur des dépenses arrierées de la guerre» (Schlumberger-Vischer, S. 99).

Er regt sich einem Schreiben von Mitte Juli 1799 darüber auf, dass den französischen Armeen in Helvetien zwar eine Kreditlinie von 900'000 Franc zugesichert worden sei, diese aber alsbald verpuffe, da die Ausgaben um ein Vielfaches höher seien. Keines der Probleme sei gelöst, im Gegenteil. Damit sei die Armée de l'Helvétie keineswegs aus der Krise heraus. Genau das würde aber in Paris behauptet und geglaubt. Und er fragt sich «Se trompe-t-on où veut-on tromper»?


Bild: Transkript des Briefs vom 18. Juli 1799 (Schlumberger-Vischer, S. 130)

Die dringend benötigten finanziellen Mittel waren in keiner Art und Weise gesichert: «Ils ne sont nulle part.» Und Morin spricht offen von einem Systemversagen (défaut de sistème) auf höchster Ebene in Paris, wobei er nur die Auswirkungen auf dem Territorium der Helvetischen Republik anspricht: 

«Comment veut-on compter sur une armée qui est entre la vie et la mort? comment veut-on que le pays ne souffre pas, lorsqu'il est surchargé de troupes qui manquent de tout?»

Schaut halt selber! Wird schon irgendwie gehen.

Und das hat einer geschrieben, der damals wirklich direkt an der Quelle sass. Mit unmittelbarem Zugang zu den obersten Heerführern, namentlich André Masséna, dem Mastermind der Helvetien-Operation, der zu diesem Zeitpunkt noch etliche Wochen von seinem grössten militärischen Coup entfernt war, der Zweiten Schlacht von Zürich am 25./26. September.

Die Ratlosigkeit, die aus Morins Zeilen spricht, ist geradezu mit Händen zu greifen. Mitte Juli waren die Franzosen seit Monaten nur noch im Krebsgang. Und dass die Front seit Anfang Juni mehr oder weniger eingefroren war, das war vor allem der Passivität ihrer Gegenspieler geschuldet, die sich nicht auf ein offensives Vorgehen einigen konnten. In der Innerschweiz flackerten Aufstände auf. Viele weitere Gegenden der noch besetzten Gebiete Helvetiens warteten nur darauf, gegen die Franzosen loszuschlagen, sodass sie auch dort mit der Aufstandsbekämpfung gebunden gewesen wären. Aber die obersten Entscheidungsträger in Wien und Moskau haben diesen Trumpf aus der Hand gegeben.

Malheureux que je suis!

Masséna selber fürchtete gegen Ende Mai kurz, es sei alles verloren, als er mitten in der Nacht mit der Nachricht aufgeweckt wurde, die Koalition hätte zwischen Koblenz und Kaiserstuhl an mehreren Stellen den Flussübergang über den Rhein geschafft (vgl. den Brief Morins vom 25. Mai 1799, S. 118). 

Masséna habe das für eine Falschmeldung gehalten, so Morin: «Ma ligne du Rhin est gardée, l'ennemi n'a pu passe sans se battre, et si l'on se battait j'en serais instruit.» Es stellte sich heraus, dass französische Generalstabsoffiziere den Zusammenfluss von Reuss und Aare mit dem von Aare und Rhein verwechselt hatten, was am 23. Mai zu einem Rückzug von der Rheinlinie geführt habe. Masséna reagierte heftig: 

«Malheureux que je suis, s'écrie le général, si l'ennemi a un camp de 8 à 10,000 sur ce point [d.h. am Unterlauf der Aare], la Suisse est perdue, je suis déshonoré, et on pourra à juste titre m'accuser d'avoir vendu la Suisse... après cette exclamation bien naturelle dans la circonstance, il reprend son sangfroid et donne des ordres pour attaquer l'ennemi.»

Dann begann die Gegenoperation: «Le général Tharreau était chargé de culbuter l'ennemi par Coblentz et Zurzach, le général en Chef [d.h. Masséna selber] devait l'attaquer en flanc par Kaysertoul» (gemeint: Kaiserstuhl). Tharreau musste also die Gegner zurückstossen, Masséna nahm sie aus der Flanke in die Zange. Nur 12 Stunden nach dem Alarm, so Morin, sei das südliche Rheinufer wieder fest in französischer Hand und 500 Kaiserliche gefangengenommen gewesen. 

Der peinliche Fehler mit der Verwechslung der beiden Zusammenflüsse wurde in der Meldung an die Regierung in Paris tunlichst verschwiegen. Keiner der Beteiligten wollte riskieren, abgesetzt zu werden, was einem höheren Stabsoffizier (vom Brigadier an aufwärts) auch heute noch von einem Moment auf den anderen passieren kann, wenn die politisch Verantwortlichen das Vertrauen in ihn verloren haben.

Auf des Messers Schneide

Wären die Kaiserlichen tatsächlich mit Macht ins Wasserschloss der Schweiz vorgedrungen und hätten sie sich auch auf einem westlichen Brückenkopf auf der anderen Seite der Aare festsetzen können (z.B. bei Döttingen, woran sie tatsächlich gescheitert sind), dann hätte dies die Armée de l'Helvétie in grösste Schwierigkeiten gebracht, ja das Ende der Revolution in Frankreich überhaupt bedeuten können, zumal es auch General Lecourbe im Südosten der Schweiz sehr schlecht lief. Wo die Nachschublogistik in einem Alpental nicht funktioniert und man die lokale Bevölkerung nicht mehr weiter auspressen kann, weil die auch nichts mehr hat, da verhungert einem auch leicht die eigene Truppe.

Und wohlverstanden: das war im ersten Halbjahr 1799. Der sogenannte «Hungerwinter 1799/1800» (vgl. Leuthold in WeiachBlog Nr. 1612) stand den Soldaten und den Einheimischen da noch bevor.

Vom 7. Juni bis 25. September lag die Front auf einer Linie von der Albiskette, quer durch den heutigen Westteil der Stadt Zürich (Albisrieden war in französischer Hand, die Altstadt in der der Koalition), und entlang der Limmat und Aare bis zum Rhein. Östlich dieser Linie hatten auf dem Gebiet der Schweiz die Österreicher, ab 1. September die Russen das Sagen. Und deren Schwäche nutzte General Masséna (Späterer Übername: «L'enfant chéri de la victoire») mit strategischem Geschick, guter Planung und taktischer Überrumpelung innert wenigen Tagen aus.

Wenn sich die Russen und die Österreicher im Sommer 1799 nicht zerstritten hätten, dann wäre die Armee Massénas mit hoher Wahrscheinlichkeit erledigt gewesen. Dank den Erfolgen Soults bei der Aufstandbekämpfung und Lecourbes Eroberung des Gotthards im August wendete sich aber das Blatt. Dann gelang Masséna bei Dietikon auch noch der Übergang über die Limmat (eine militärische Glanzleistung, die auf dem Arc de triomphe in Paris verewigt ist). Ein Scheinangriff bei Zürich verwirrte die Koalition. Und kurz darauf wurden die Russen unter Korsakow überrumpelt und flüchteten überstürzt über den Rhein. Damit rollte die Front Ende September 1799 erneut über Weiach hinweg. 

Diese Zweite Schlacht bei Zürich (Vgl. das Gemälde Le général Masséna à la bataille de Zurich, le 25 septembre 1799, par François Bouchot) sprengte letztlich die Koalition, indem die Russen nach diesem und dem Suworow'schen Debakel in den Alpen aus dieser austraten und die Preussen sich ihr nicht anschlossen. Das hat die französische Revolutionsregierung gerettet.

Die Plünderung als staatl. genehmigter Modus operandi

«Masséna gilt bis heute als einer der fähigsten Heerführer Napoleons. Überschattet wird dieses Andenken nur durch die Beutegier des Marschalls, der die von ihm besetzten Gebiete systematisch ausplündern ließ, um sich zu bereichern. Neben Marschall Nicolas Jean-de-Dieu Soult zählt Masséna daher zu den größten Plünderern der Napoleonischen Kriege»So eine Passage im Wikipedia-Artikel über Masséna, die ein Anonymus am 18. Mai 2007 eingestellt hat.

Wann Masséna auch privat angefangen hat, sich als General Raffzahn zu gebärden, das ist nicht ganz klar. Es dürfte sich aber eher um seine Zeit in Süditalien gehandelt haben. Bei General Soult (1799 ebenfalls in der Schweiz im Einsatz) weiss man, dass er seine beträchtliche Gemäldesammlung zusammengestohlen hat (wohl u.a. in Spanien). Was auch immer man von der militärischen Genialität dieser Heerführer sagen mag: Die von ihnen geduldeten Kriegsverbrechen und der Umstand, dass sie als Kleptomanen in Uniform auch in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, all das lastet schwer auf ihrem Ruf.

Aber – und das haben vorstehende Abschnitte und insbesondere die Briefe Morins deutlich gezeigt – solche Typen sind immer auch ein Produkt des Systems, das ihr Emporkommen ermöglicht hat. Wer seine Leute nicht anständig alimentiert, der muss sich nicht wundern. In Paris waren die nämlich kein Haar besser. Wer den von ihnen eingesetzten Generälen an der Front einfach zu verstehen gibt: «Make it happen! Wie, ist uns letztlich egal. Wird schon irgendwie gehen – auch ohne die nötigen Mittel, oder?», der macht sich mitschuldig.

Irgendwie kommt einem das doch sehr bekannt vor. Die Parallelen zu gewissen Bereichen des heutigen Gesundheitswesens sind erkennbar. Resultat sind Zynismus und schliesslich desertierende Einsatzkräfte (Pflexit). Und am Schluss wird dann wieder gefragt, wie das bloss so weit kommen konnte.

Quellen

  • Näf, A.: Geschichte der Kirchgemeinde Glattfelden mit Hinweisungen auf die Umgebung. Scheuchzer, Bülach 1863. Neuauflage: Verkehrs- und Verschönerungsverein 8192 Glattfelden 1985 – S. 51-52.
  • Schlumberger-Fischer, E.: Lettres de Morin, secrétaire de Masséna, an 7 de la République. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde. Bd. 29 (1930) – S. 95-145.
  • Nägele, H.: Die entscheidenden Kämpfe gegen Napoleon im Rheintal. In: Unser Rheintal, 36. Jg., 1979 – S. 57-59. Zitiert nach Separatdruck in der Reihe Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz.

Sonntag, 22. November 2020

Weiacher durch französische Soldaten ermordet?

«Der Kanton Baden 1798-1803». So lautet kurz und knapp der Titel der Dissertation von Rolf Leuthold aus dem Jahre 1933. Auf 245 Seiten rollt der Autor die Geschichte dieses helvetischen Verwaltungsbezirks von Frankreichs Gnaden auf. Dieser ging mit der von Napoleon zur Ablösung des gescheiterten Einheitsstaat-Experiments «Helvetische Republik» diktierten Mediationsakte von 1803 im erweiterten Kanton Aargau auf, nachdem bereits 1801 und 1802 beschlossen worden war, ihn aufzulösen (vgl. den Artikel im e-HLS: Baden (AG, Kanton)).

Auf Seite 85 dieses Werks findet man die Passage «Weiacher durch einen Soldaten getötet.» Das lässt natürlich aufhorchen. Was ist da passiert? Einige Gedanken zur Franzosenzeit im Zweiten Koalitionskrieg 1799/1800.

Enttäuschte Hoffnungen bei den Schweizern...

Schon die Alte Eidgenossenschaft war zu grossen Teilen faktisch ein Klientelstaatenbund des französischen Königreichs. Mit der Helvetischen Republik nahm diese Verbindung mit Frankreich eine noch stärker spürbare Form an. Es gab einen Bündnisvertrag und viele Errungenschaften der Französischen Revolution (gute und schlechte) kamen auch in Helvetien zur Anwendung. 

Die französischen Truppen hatten nach der Eroberung der Alten Eidgenossenschaft 1798 die Staatsschätze von Bern und Zürich abgezügelt. Das hätten die Schweizer allenfalls noch verkraften können (auch wenn es unvorstellbare Reichtümer gewesen sein müssen, die da verloren gingen; der Staat Bern hätte beispielsweise in den letzten 200 Jahren keine Steuern erheben müssen!). 

Dass aber sämtliche Hoffnungen auf bessere Zeiten durch die brutalen Härten der Kriegsjahre zunichtegemacht wurden, das nahmen die Untertanen der jungen Helvetischen Republik ihrer Obrigkeit und den Franzosen sehr übel. Auch, wenn viele Hiesige letztlich Opfer der eigenen Naivität geworden waren und sich das nicht eingestehen wollten.

Besonders schön zeigt sich das Problem anhand einer von Leuthold zitierten Eingabe der Munizipalität Albisrieden (also des Gemeinderates) vom Sommer 1799 an die Verwaltungskammer des Kantons Baden (Kantonsverwaltung), die interessanterweise in bestem Französisch abgefasst ist. Albisrieden (das Teil des zürcherischen Distrikts Mettmenstetten war) gehörte kriegsbedingt ein paar Monate zum Kanton Baden, da es den Kontakt zur Zürcher Verwaltung ennet der Frontlinie verloren hatte:

«Nous avouons franchement que les Français font voir des vues toutes contraires au traité d’alliance qui parle presqu’à toutes les pages d’un amour fraternel, d’amitié loyale, d’un traitement honnête… A nos remontrances, à nos plaintes, à nos prières portées aux généraux, aux officiers français, il ne suit d’autre réponse que: Voilà les malheurs de la guerre! Accompagnés alors de leurs plaisanteries malplacées et de leur rires nous pouvons retourner dans nos chaumières, exposés de nouveau à tous les excès.» (Fn-156: EA. 1196, 37. [EA: Eidgenössisches Archiv (Helvetik) Bern])

... resignativer Zynismus bei den Franzosen

Der Gemeinderat von Albisrieden vor den Toren der Stadt Zürich beklagt sich also darüber, dass das Verhalten der französischen Offiziere bis hinauf zu den Generalsrängen so gar nicht zu den schönen Worten und Versprechungen der Revolutionsrhetorik passen wolle. Dass sie auf all ihre Klagen nichts anderes als Achselzucken und den fatalistischen Hinweis: «Das ist halt das Unglück des Krieges» zu hören bekämen, gepaart mit deplatzierten Witzen und Gelächter. So sassen die Albisrieder also in ihren Strohdachhäusern und sahen sich weiterhin den fortgesetzten Übergriffen der französischen Soldaten schutzlos ausgeliefert.

Dass die fremden Offiziere nur noch mit einem Achselzucken reagierten, ist leicht erklärbar, wenn man sich in deren Lage versetzt. 

Für die Mehrheit der in Uniformen gesteckten Franzosen waren bereits die vergangenen zehn Jahre seit der Revolution eine einzige Abfolge von schrecklichen Erlebnissen und Nachrichten. Das war eine Zeit voller Gewalt und Entbehrung, hervorgegangen aus den wirtschaftlichen Problemen des bankrotten Feudalstaats, die in der eigentlichen Revolution von 1789 mündeten, den Jahren des Terrors der Jakobiner, dem Aufstand in der Vendée (unter vielen anderen) und das alles verflochten mit dem Versuch der Koalition der Fürsten, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen (Erster Koalitionskrieg, 1792-1797). Die Antwort darauf war französischerseits ab 1793 die Levée en masse, also die Generalmobilmachung aller nur irgendwie verfügbaren Männer als Wehrpflichtige, sowie der Revolutionsexport, um den Konflikt ins operative oder sogar strategische Vorfeld zu tragen. In den Zweiten Koalitionskrieg (1799-1800) wurde auch das Gebiet der heutigen Schweiz hineingezogen.

Logistikprobleme pur!

Militärische Operationen dieser Grössenordnung verschlingen enorme Mittel, das war damals nicht anders als heute. Anders war vor allem, dass die Logistik sich auf Rüstungsgüter beschränken musste und nicht auch noch für Lebens- und Futtermittelnachschub ausreichte, was die Truppen letztlich dazu verdammte, sich unmittelbar aus den Vorräten des Gebietes zu bedienen, in dem sie sich gerade aufhielten. 

Man kann sich die Probleme am besten anhand der Ersten Schlacht bei Zürich (4.-7. Juni 1799) vorstellen. Die Stadt hatte damals (nach einer Volkszählung der Helvetischen Republik von 1800) rund 10'000 Einwohner, der ganze Kanton Zürich rund 180'000 Einwohner. In Stadtnähe lagerten 30'000 Franzosen und 40'000 Österreicher bzw. Russen. Ein temporärer Bevölkerungszuwachs von rund 40 Prozent. Bei der Zweiten Schlacht um Zürich (25./26. September 1799) waren es sogar noch mehr: 75'000 Franzosen und 60'000 Österreicher bzw. Russen (75 Prozent)! Darauf war die Lebensmittelversorgungsinfrastruktur der damaligen Schweiz nicht ansatzweise vorbereitet.

Und nun versetze man sich in die Stimmungslage eines durchschnittlichen Soldaten. Fern der Heimat in irgendeinem Dreckkaff zu sitzen. Nicht zu wissen, wann man die Heimat wiedersehen wird und ob überhaupt. Und dabei selber von der eigenen Regierung und Heeresleitung auch nicht gerade pfleglich gehalten werden. Da bleiben einem zum Selbstschutz nur noch Zynismus und schlechte Witze angesichts von Klagen der Zivilbevölkerung.

Winning hearts and minds? Forget it!

Das Ziel von Stabilitätsoperationen heutiger Prägung ist es, die Herzen der Zivilbevölkerung zu gewinnen. Denn nur dann hat man als Armee im fremden Gebiet die volle Handlungsfreiheit. An so etwas war 1799 nicht ansatzweise zu denken, wie man auch der Dissertation von Leuthold entnehmen kann:

«Im Hungerwinter 1799/1800 hielt sich im Distrikt Zurzach die 67. Halbbrigade auf [eine Halbbrigade umfasste rund 2500 Mann]; sie hinterließ einen denkbar schlechten Ruf. Mannschaft und Offiziere steckten unter derselben Decke, nahmen mit Gewalt weg, was sie nicht sonst erhielten. Beschwerden bei höhern Kommandanten nützten nichts. Sie waren Partei und Richter zugleich. Über Mißhandlungen häuften sich die Klagen. Gewöhnlich unterließ man es in den Dörfern, sofort einen „procès verbal“ aufzunehmen, ohne den später von vornherein nichts mehr zu machen war.»

Chef der helvetischen Zivilverwaltung in diesem uns benachbarten Distrikt war ein Unterstatthalter namens Welti (ein in dieser Gegend bekannter Familienname).

Die zu diesem Abschnitt gehörende Fussnote 157 lautet: «KAA. M.F. Einzig aus Oberendingen sind uns 3 Procès verbaux erhalten; Unterstatthalter Welti berichtet darüber an die Verwaltungskammer: Der 77jährige Greis Werder wurde mit seiner Frau aus dem Bett geworfen und mißhandelt. (Werder starb kurze Zeit darauf.) Dem Agenten [d.h. Direktunterstellten des Unterstatthalters in der Gemeinde Oberendingen] wird, da er zu wenig Wein auftischt, der Rest der Mahlzeit ins Gesicht geworfen usw. 

Ein einziger Fall von Ermordung eines Zivilisten durch französisches Militär ist uns bekannt: In Fisibach wurde Franz Jos. Weiacher durch einen Soldaten getötet. Mangels rechtsgültiger Zeugen wurde dieser vom französischen Militärgericht freigesprochen. Welti, der auch für diesen Fall die nötige Sühne wünschte, bekam die verlangten Akten nicht zur Einsicht und konnte deshalb auch keine weitern Schritte unternehmen. Ferner wurde in Besenbüren ein gewisser Jos. Leonz Etterli von französischen Soldaten verwundet.»

«Dem Regierungsstatthalter [d.h. dem Chef der Kantonsverwaltung in Baden] schrieb Welti in dieser Angelegenheit am 21. Januar 1800: „Ich weiß wohl, es braucht rechtmäßige Beweise, und hierzu ist unser Volk zu dumm.“ Mit größter Selbstlosigkeit setzte sich Welti für die Bevölkerung und deren Beschwerden ein und scheute sich nicht, mit den verantwortlichen Kommandanten zu verhandeln. Der Erfolg war – aus seinen Berichten zu schließen – sehr gering.»

Wie der Fall des Fisibachers zeigt, gab es zwar durchaus eine Militärjustiz. Ob die Verantwortlichen allerdings wirklich durchgreifen wollten, wenn es nicht gerade Tote gab, darf bezweifelt werden. Es ist einfacher, der eigenen Truppe das Plündern quasi zu erlauben, wenn man schon selber nicht für adäquaten Nachschub sorgen kann. 

Deshalb ist es kein Wunder, dass die Franzosen verhasst waren. Nicht nur im Kanton Baden. Und, dass sie deshalb auch in den Monographien über die Geschichte von Weiach alles andere als gut wegkommen.

Quelle
  • Leuthold, R.: Der Kanton Baden 1798-1803. Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der philosophischen Fakultät I der Universität Zürich. Sauerländer Aarau, 1933. In: Argovia, Jahresschrift der historischen Gesellschaft des Kantons Aargau, Bd. XLVI (1934) – S. 1-243. Hier: S. 84-85.
    Ausgabe A: Diss. Phil. I. Univ. Zürich; Aarau, 1933; Kollation: II, 245 S.
    Ausgabe B: Separatabdruck aus Argovia; Aarau, 1934; Kollation: IV, 244 S.

Samstag, 14. November 2020

Tot schweigen gilt nicht. Zum 30. Jahrestag des Absturzes

14. November 1990 – 20:11:18 MEZ. Exakt dreissig Jahre ist es nun her. In dieser Sekunde ist die DC-9 der Alitalia im Gebiet Surgen in den Haggenberg gerast. 46 Menschen mussten in diesem fatalen Moment das Leben lassen.

Heute vor fünf Jahren habe ich geschrieben, die Weiacherinnen und Weiacher wollten die Vergangenheit ruhen lassen (vgl. WeiachBlog Nr. 1244). Aber verdrängen geht nicht. Für uns nicht. Und für die betroffenen Angehörigen erst recht nicht. Am 14. November kommt das wieder hoch. Es ist wie bei 9/11. Jede(r) weiss, was er zu diesem Zeitpunkt gerade gemacht hat.

Solche Erinnerungen bleiben im Gedächtnis, nisten sich im Unterbewussten ein. So wie die Traumata des Absturzes vom 4. September 1963 in Dürrenäsch (Flug SR 306), wo eine ganze Generation aus der Gemeinde Humlikon ums Leben kam. Die haben auch nach 50 und mehr Jahren ihre Ausläufer in die Gegenwart, vgl. dazu den eindrücklichen Film des Schweizer Fernsehens aus dem Jahre 2013.

Die Humliker hat's getroffen, die Stadler dafür verschont

Was in der SRF-Doku nicht erwähnt wird, ist der Umstand, dass an diesem 4. September nicht nur die Landwirtschaftliche Genossenschaft Humlikon den Versuchsanlagen der Dr. R. Maag AG in Coppet VD (nahe der Stadt Genf) einen Besuch abstatten wollte. Auch der Landwirtschaftliche Kreisverein, dem Stadler und auch einige Weiacher angehörten, hatte an diesem Tag einen Besuch am selben Ort geplant und wollte eigentlich auch mit der Swissair nach Genf fliegen. Da ihnen aber die Humliker beim Buchen der Plätze in der Unglücks-Caravelle zuvorgekommen waren, blieb ihnen nur die Variante, mit drei Cars ans Westende des Genfersees zu reisen (Quellen: Elsbeth Ziörjen-Baumgartner und Hans Meier, alt Gemeindeschreiber). Das Schicksal oder die göttliche Vorsehung hat die Weichen so gestellt, dass nicht unsere Nachbargemeinde getroffen wurde, sondern eine kleine Gemeinde im Weinland.

Zu tief geflogen und doch genügend hoch

Wir wissen nicht, aus welchem Grund die Maschine nur 300 und nicht 450 Meter unter dem Gleitpfad geflogen ist. Wäre letzteres der Fall gewesen, dann hätte es auch in unserem Dorf Tote und Verletzte geben können (vgl. WeiachBlog Nr. 1610 von gestern Freitag). So sind die 46 Opfer des Unglücks alle Auswärtige, die aber für immer mit unseren Annalen verbunden sind, denn ihre Namen sind samt und sonders im Weiacher Zivilstandsregister eingetragen. Aus 11 Nationen stammten sie, sagt der damals für die Registerführung verantwortliche Hans Meier (85) im Gespräch mit WeiachBlog. Er erinnere sich gut an die Kontakte in alle Welt, die mit dem Austausch der erforderlichen Formalien verbunden waren.


Das Denkmal, das an die Gefallenen erinnert. 
Mit 46 Kerzen, die von Deborah Meier zum 30. Jahrestag in der Landi und im Volg gekauft
und dort hinauf getragen worden sind. [Foto: D. Meier]

Denkmal-Pflege: Gemeinschaftsaktion Stadel/Weiach

Im Vorfeld des 30. Jahrestags haben sich die beiden Gemeinden Stadel und Weiach je hälftig an der Pflege des Denkmals und seines Umfelds beteiligt. So wurde der Bewuchs entfernt, ein neues Holzkreuz eingesetzt sowie die Inschriften auf dem Stein vom Moos befreit. Auf Ende November wird noch eine Sitzbank aus Eichenholz dazukommen (Quelle: Gemeinderat Weiach, Thomas Steinmann). 

Das sind sehr schöne Gesten von offizieller Seite. Die Gemeinde hätte den Jahrestag allerdings auch kaum vergessen können. Denn im Vorfeld gab es dem Vernehmen nach etliche Anrufe: Der scheidende Präsident der Ortsmuseumskommission, Daniel Bryner, hat WeiachBlog erzählt, dass ihn in den letzten Tagen mehrere von der Gemeindeverwaltung vermittelte Telefonanrufe erreicht hätten, wo Angehörige der Absturzopfer den Ort des Unglücks bzw. den Gedenkstein gesucht und nicht gefunden haben. Eine Anruferin habe gefragt, ob die Gemeinde einen Gedenkanlass organisiere. Nein, gedacht wird im Stillen.

Erinnerungskultur spiegelt Unternehmenskultur

Auffallend ist, wie unterschiedlich Fluggesellschaften mit ihren «Gefallenen» (Fliegende Besatzung und Passagiere) umgehen. Die Alitalia hat sich (soweit ersichtlich) nie wirklich um den Absturzort auf unserem Gemeindegebiet gekümmert – auch nicht nach Abschluss der Gerichtsverhandlungen, in welchen es um die Schuldfrage ging. Und: Das Denkmal wurde von den Hinterbliebenen errichtet. 

Anders die heutige Swiss: 1963 war es die damalige Swissair, die den oben erwähnten Absturz zu bewältigen hatte, bei den Abstürzen von 2000 bei Nassenwil und 2001 bei Bassersdorf die Swissair-Tochter Crossair. 

Die Swiss zeichnet heute noch für den Unterhalt des Denkmals auf dem Gebiet von Niederhasli verantwortlich, wie die Gemeindeverwaltung und die Media Relations der Swiss WeiachBlog gegenüber übereinstimmend erklärten. In Nassenwil will man die Toten nun (20 Jahre nach dem Absturz) ruhen lassen (vgl. Tele-Züri-Beitrag v. 10. Januar 2020).

In Bassersdorf ist die Gemeinde für den Unterhalt des Denkmals zuständig. 

Ob das eine angemessene Erinnerungskultur ist, das mögen dazu Berufenere beurteilen. Aber es wäre schon gut, wenn die Gemeindeverwaltungen von Weiach und Stadel einen Handzettel mit einer Wegbeschreibung bereithalten würden. Das wird umso wichtiger, je älter die Angehörigen der Opfer werden. Denn auf Weiacher Gebiet herrscht auf Waldstrassen Fahrverbot. Und auch von der nächstgelegenen Ortschaft Raat aus sind doch etliche Meter bis zum Denkmal am Haggenberg zurückzulegen. 

Freitag, 13. November 2020

Nur 150 Meter tiefer und die DC-9 hätte den Wingert gestreift!

Der Wingert (Flurname für Alter Weingarten, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 111) ist ein Ausläufer des Sanzenbergs, dem westlichen Hügelzug von den dreien, die das alte Dorfzentrum von Weiach schützend umgeben. Der Schutz gegen Wetterfronten ist schon seit Jahrtausenden bekannt. Seit bald 50 Jahren schützt der Sanzenberg aber auch gegen Flugzeuge. Wie das?

Wenn wir aus Anlass des 30. Jahrestags des Absturzes der Alitalia-Maschine (vgl. WeiachBlog Nr. 15 v. 14. November 2005) an unserem südlichen Hausberg, dem Haggenberg, eine Risikoanalyse für die eigene Bevölkerung wagen, dann wird schnell klar, weshalb.

Der Gleitpfad ...

Der Wingert liegt wie ein Riegel unter der Anflugschneise, was man durch das Verlängern der 1976 eröffneten Piste 14 (Blindlandepiste) bis nach Kaiserstuhl sieht (mit den offiziellen Landeskarten z.B. auf map.geo.admin.ch). 

Die Daten von swissALTI3D/DHM25 der Swisstopo ergeben dann für den Anflugpfad auf diese Piste ein Höhenprofil wie das untenstehende (mit dem Wingert als erstem Hügel von rechts, beim roten Doppelpfeil):Auf der Abszisse (x-Achse) ist die Entfernung vom südlichen Pistenende abgetragen, auf der Ordinate (y-Achse) die Höhe im Metern über Meer. Der Gleitpfad, wie ihn die Systeme des Flughafens vorgeben, ist als oberste schwarze Linie eingetragen. Fliegt man exakt auf diesem Pfad, dann führt er das Luftfahrzeug an die nördliche Pistenschwelle (dort wo die Linie auf den roten Boden trifft; die Piste 14 ist ca. 3.2 km lang).

... und seine systematische Unterschreitung

Die mittlere schwarze Linie zeigt den Pfad, den die DC-9 der Alitalia am 14. November 1990 kurz nach 20 Uhr genommen hat, sie liegt um 300 Meter zu tief, was unweigerlich dazu führt, dass das Auftreffen auf den Boden bereits am Haggenberg erfolgt (siehe den rosa-violetten Doppelpfeil). Hätte die als zentrale Ursache identifizierte Fehlfunktion am ILS-Instrument des Captains die Piloten zu einem noch 200 Meter tieferen Anflugpfad verleitet, dann wäre die Maschine an der Frankenhalde zerschellt, d.h. am Nordwesthang des Wingert.

Der schlimmste anzunehmende Fall

Bei sonst gleichen Bedingungen wie im Bericht der Flugunfall-Untersuchungskommission beschrieben wäre der worst case aus Weiacher Sicht an diesem Abend vor 30 Jahren dann eingetreten, wenn die Piloten um ziemlich genau 150 Meter tiefer, d.h. 450 Meter unter dem Gleitpfad geflogen wären. Wenn  ihre DC-9 dann die Südkante des Wingert gestreift hätte (Situation mit dem roten Doppelpfeil), dann wäre die Unglücksmaschine auseinandergebrochen und die Trümmerteile hätten sich den physikalischen Gesetzen folgend mit Geschwindigkeiten um die 300 km/h in Richtung Süden über dem Dorfkern verteilt. Die Mehrzahl davon im Bereich des Quartiers Chälen.

Was das bedeutet hätte, kann man sich ausmalen, so man es denn will. Es hätte Tote und Verletzte auch unter der Dorfbevölkerung geben können. An mehreren Orten wären Dächer und Hauswände von Trümmern durchschlagen worden, Treibstoffreste und andere Ursachen hätten an vielen Stellen Brände entfacht. Kurz: ein Inferno, das zu schrecklich ist, um es sich vorstellen zu wollen. 

Kein Wunder also, dass die damals damit Konfrontierten das Ereignis in der Tendenz eher verdrängen möchten (vgl. WeiachBlog Nr. 1244). Ändern kann man daran ja nichts. Und vor allem: es könnte jederzeit wieder so etwas passieren. 

Wie ein Tweet vom 18. November 2017 nahelegt, hatten vor drei Jahren anscheinend auch Piloten der portugiesischen Fluggesellschaft TAP die Hügel um Weiach herum nicht auf der Rechnung. Da nützt dann unter Umständen auch die neue Befeuerung auf dem Stadlerberg wenig. Die Risiken bleiben.

Das Protokoll der letzten Sekunden

Wie man dem Schlussbericht der Eidg. Flugunfall-Untersuchungskommission entnehmen kann, liefen die letzten ca. 25 Sekunden des Fluges AZ-404 über Weiacher Gebiet wie nachstehend skizziert ab. Ein Abbild der bei den Piloten herrschenden totalen Verwirrung über die Anzeigen ihrer Instrumente:

«Bei 6,25 NM Final unterhielten sich die Piloten wie folgt: "- dies ergibt für mich keinen Sinn -" "- für mich auch nicht -". 2 Sekunden nach dieser Unterhaltung rief der PIC: "Zieh, zieh, zieh, zieh!" Gleichzeitig war das Ausschalten des Autopiloten zu hören. Position: ca. 500 ft/AGL über Weiach, resp. ca. 350 ft QFE. Zwei Sekunden später sagte der COPI "go around", was vom PIC mit "Nein, nein, nein,... packe den Glide" erwidert wurde. Gleichzeitig registrierte der DFDR eine Pitchänderung von -2° (AND) auf +5,4° (ANU). Der Schub wurde gleichzeitig von 1,3 auf 1,7 EPR erhöht. Die Sinkgeschwindigkeit flachte von 1100 ft/min. auf 190 ft/min. ab. Nach 11 Sekunden (Pitch pendelte bei +1° ANU) fragte der PIC: "Kannst Du sie halten?", was mit einem "Ja" des COPI quittiert wurde. Eine Sekunde nach der Antwort des COPI war die Warnung des Radiohöhenmessers (pip, pip, pip) zu hören, welche bei 200 ft/ AGL anspricht. Der PIC sagte währenddessen: "Warte, versuchen wir ...". Um 19.11.18 Uhr schlug das Flugzeug an der Nordflanke des Stadlerbergs in einer Höhe von 1660 ft QNH auf. Koordinaten der Unfallstelle: 675 900 / 266 600 (= E 008° 26' 51 "/N 47° 32' 50"). Höhe: ca. 510 m/M.»

Über Weiach hatte die DC-9 gemäss Bericht eine Geschwindigkeit von 150 kt über Grund. 150 Knoten bei 1.852 km pro nautischer Meile entsprechen 277 km/h, also ca. 75 m/s.

6.25 NM Final (d.h. 6.25 nautische Meilen à 1852 Meter oder 11.575 km vor der Pistenschwelle) ist ungefähr dort, wo sich die Frankenhalde befindet, also der Nordabhang des Sanzenberg-Ausläufers Wingert oberhalb der Ebene des Hasli.

150 Meter weiter oder 23 Sekunden vor dem Auftreffen am Haggenberg war das Flugzeug direkt über dem Hügelausläufer des Sanzenbergs, genannt Wingert. Dort erfolgte die Aufforderung «Zieh, zieh, zieh, zieh» des PIC (Pilot in command, d.h. der Captain) an den Copiloten (COPI), die Nase des Flugzeugs anzuheben. 

Weitere 150 Meter in Richtung Süden, d.h. in etwa über dem westlichen Teil der Neurebenstrasse leitete der Copilot (COPI) das Durchstart-Manöver (go around) ein.

Der im Bericht erwähnte «Pitch» ist die relative Lage des Flugzeugs in der Y-Achse. Die Gradangabe zeigt  auf, ob die Nase über oder unter der Flugebene liegt. Beim Go-Around ging die Nase also hoch und die Sinkrate verringerte sich massiv. Nur, das reichte leider nicht. Denn diesen Durchstart-Versuch, der das Unglück abgewendet hätte, verhinderte der Captain mit dem Befehl, wieder den Gleitweg «zu packen».

Go around wäre die Rettung gewesen

Das Durchstart-Manöver hörten die Weiacherinnen und Weiacher als kurzes Aufheulen der Triebwerke. Daran erinnern sich noch viele.

Bis zu diesem Zeitpunkt sank die Maschine mit jeder Sekunde um 5.5 Meter ab, danach nur noch mit 1 m/s, die beiden Piloten wähnten sich ja immer noch auf dem Gleitweg.

Selbst wenn das Flugzeug in den nun folgenden rund 18 Sekunden nicht mehr abgesunken wäre: Diese rund 20 Meter hätten es auch nicht retten können. Nur das Durchstarten. 

Aus diesem Grund verlangen die Regeln nun, dass ein Go Around – einmal ausgelöst – von niemandem mehr abgebrochen werden darf. Auch nicht vom Captain!

Quelle

  • Schlussbericht der Eidgenössischen Flugunfall-Untersuchungskommission über den Unfall des Flugzeuges DC-9-32, ALITALIA, Flugnr. AZ 404, I-ATJA am Stadlerberg, Weiach/ZH, vom 14. November 1990. Nr. 1990/57 - S. 11   https://www.sust.admin.ch/inhalte/AV-berichte/1457.pdf

Mittwoch, 11. November 2020

Martini: Schulbeginn und Zinszahlungstermin

Der heutige Tag, 11. September, ist der «dies Martini», wie der Martinstag in lateinischer Sprache genannt wird. Abgekürzt wurde deshalb dieser Termin als Martini bezeichnet. Auf Martini waren die Zinszahlungen der Bauern fällig. Und an Martini begann früher in Weiach auch die Winterschule.

Das geht sowohl aus der Zürcher Schulumfrage von 1771/72 wie aus der Stapfer-Enquête von 1799 hervor. Die von der Zürcher Regierung durchgeführte ältere Erhebung wurde (gemäss Katalog des Staatsarchivs) für unsere Gemeinde «vermutlich» durch Johann Heinrich Wiser (1728-1782) beantwortet. Er war von 1769 bis 1782 Pfarrer von Weiach.

Die Frage Ab6 befasst sich mit der sogenannten Winterschule. Diese wurde damals von den meisten Kindern besucht, die Sommerschule nur von einem Teil von ihnen (wo sich die Eltern das leisten konnten).

Die Obrigkeit fragte: «Wie lange dauert gewöhnlich die Winter-Schule? Sind im Winter auch Ferien, z. Ex. an gewissen Markt-Tagen?»

Antwort für Weiach: «Die winter schul dauret von Martini bis ostern, ferien sind keine.»

Das Problem dabei: Ostern ist nicht an ein bestimmtes Datum gebunden. 

In der Stapfer-Enquête von 1799 wird ebenfalls Martini als Termin für den Schulbeginn genannt. Als Endtermin aber ein fixes Datum, der 1. April.

Quelle und weiterführende Literatur

  • Staatsarchiv des Kantons Zürich (Hrsg.): Zürcher Schulumfrage 1771/1772. Weiach. Signatur: StAZH E I 21.9.16.
  • Brandenberger, U.: Die konfessionelle Spaltung prägt das Denken. WeiachBlog Nr. 1449 v. 23. Dezember 2019. [Zur Stapfer-Enquête]
  • Brandenberger, U.: Sommerschulen bringen «gar großen nuzen», 1771/72. WeiachBlog Nr. 1548 v. 19. Juli 2020. 

Samstag, 7. November 2020

Transparenzgate. Ist das nur Unfähigkeit oder schon Absicht?

Anfangs dieses Jahres und noch vor den coronabedingten Einschränkungen hat WeiachBlog die neue Unübersichtlichkeit der Kommunikation der Politischen Gemeinde aufs Tapet gebracht (Vgl. Ökosparmassnahme? Nein, ein Schuss ins eigene Knie. WeiachBlog Nr. 1457 v. 2. Januar 2020). 

Auf den Jahresbeginn erlangte nämlich der Opt-in-Modus für das Mitteilungsblatt Gültigkeit. Die Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, jenes noch von Mauro Lenisa sel. begründete Zentralorgan weiacherischen Nachrichtenaustauschs, in dem ab Juni 1982 alles Wesentliche über Gemeindebelange zu finden war, gehen seither nicht mehr automatisch an jeden Haushalt. Wer sich bis Dezember 2019 nicht aktiv darum bemüht hat, erhält die Gemeindemitteilungen nicht mehr in gedruckter Form per Post, sondern muss sie selber von der Gemeindewebsite herunterladen. Man kann sie zwar jederzeit wieder in Printform anfordern. Aber auch da: ohne Eigeninitiative läuft nichts.

Die Lichtblicke zuerst

Die Diskriminierung der Digital Natives und all derjenigen, die bewusst auf die Printausgabe verzichten (z.B. aus den offiziell genannten Öko-Gründen) ist mittlerweile behoben. Seit Anfang April 2020 stellt der (im Auftrag des Gemeinderates tätige) Web-Dienstleister backslash.ch einen E-Mail-Erinnerungsservice für neue Inhalte auf der Gemeindewebsite zur Verfügung (wie in WeiachBlog Nr. 1457 als Massnahme gefordert). Der unter dem Toplink Newsletter anmelden zu findende Service funktioniert (soweit erkennbar) reibungslos. Allerdings nur, wenn es um eine Information geht, die unter der Rubrik Aktuelles aufgeschaltet wird. Von sonstigen neuen oder geänderten Inhalten auf der Website erfahrt man nämlich nach wie vor rein gar nichts.

Auch das bereits in Nr. 1391 monierte veraltete Impressum ist längst angepasst (Vgl. «Mitteilungsblatt». Weit mehr als nur ein neuer Name. WeiachBlog Nr. 1391 v. 28. März 2019). Im Impressum auf Seite 2 steht nichts mehr von Offiziellem Publikationsorgan (eine Funktion, die gemäss Gemeinderatsbeschluss vom 16. Oktober 2018 lediglich noch der Website www.weiach.ch und dort insbesondere der Kategorie Amtliche Publikationen in der Rubrik Aktuelles zukommt).

Print-Liebhabern wird vieles vorenthalten

Die Auswirkungen des Gemeinderatsentscheids von Mitte Oktober 2018 sind dennoch gravierend. Wer die Implikationen dieses strategischen Pferdewechsels nicht mitbekommen hat und sich in hergebrachter Manier auf das Mitteilungsblatt verlässt, der oder die erfährt vieles nicht, was wesentlich wäre für eine staatsbürgerliche Partizipation auf Gemeindeebene. Das betrifft viele alteingesessene Weiacherinnen und Weiacher, die nach wie darauf vertrauen, dass Wichtiges im Mitteilungsblatt erscheint. Dem ist leider nicht so. Wer nicht zweigleisig fährt und immer auch noch auf der Website nachschaut, der schaut in die Röhre.

Man könnte ja mit viel gutem Willen noch darüber hinwegsehen, dass Baupublikationen nur noch online erfolgen und im Mitteilungsblatt nicht mit einem Wort darauf verwiesen wird. Wenn es um staatsbürgerliche Rechte geht, dann hört der Spass allerdings definitiv auf.

Vernehmlassung findet nur online statt?

Da wurde ja bekanntlich vor geraumer Zeit per Initiative die Schaffung einer Einheitsgemeinde verlangt (Fusion von Primarschulgemeinde und Politischer Gemeinde). Die Stimmberechtigten haben dieses Begehren an der Urne für erheblich erklärt und den Behörden der beiden Gemeinwesen den Auftrag erteilt, eine entsprechende Vorlage auszuarbeiten. 

Über diese Vorlage wurde nun am 29. Oktober in coronabedingt ausgedünnter Anwesenheit von sage und schreibe 14 Stimmberechtigten informiert (wie WeiachBlog aus gewöhnlich gut unterrichteter Quelle erfahren hat). 

Danach hat die Politische Gemeinde auf ihrer Website eine neue Rubrik Einheitsgemeinde eingerichtet und darunter drei PDF-Dateien zur Verfügung gestellt:

  • Präsentation der Informationsveranstaltung vom 29. Oktober 2020 (pdf, 1.0 MB)
  • Bericht zur Vernehmlassung Gemeindeordnung Weiach (pdf, 131 KB)
  • Gemeindeordnung-Synopse (pdf, 303 KB)

Zurzeit (und noch bis Ende November) läuft die Vernehmlassung der neuen Gemeindeordnung, über die im kommenden Juni abgestimmt wird.

Und nun der Hammer: Im Mitteilungsblatt Gemeinde Weiach vom November findet man überhaupt keine Informationen über diese Vernehmlassung! Rein gar nichts! Da findet sie schlicht und ergreifend nicht statt.

Schlimmer noch: auch die online-affinen Newsletter-Empfänger haben davon nichts erfahren! Keine Benachrichtigung. Nada.

Kommunikationsstrategie aus einem Guss?

Um das operative Controlling der schriftlichen Kommunikation kommt eine Behörde nicht mehr herum, in Zeiten von Corona erst recht nicht.

Dass diese Informationsveranstaltung am 29. Oktober stattfinden würde, war seit Monaten bekannt. Also hätte man problemlos auch die einheitliche Kommunikation über alle verfügbaren Kanäle professionell planen und umsetzen können. Samt Information im Mitteilungsblatt vom November. 

Liebe Gemeinderäte! Ist da eine «Hobbytruppe» unterwegs, wie es ein Twitterer jüngst in einer Antwort an WeiachTweet mit Blick auf die Schulpflege (und deren Art über die Schulraumplanung zu kommunizieren) formuliert hat? Hat Eure Kommunikationsstrategie hier eine gravierende Fallmasche? Absicht will ich nicht unterstellen.

Es ist nur so: Wir sind hier – einmal mehr, vgl. WeiachBlog Nr. 1532 – an einem Punkt, wo zwar alles formal legal abläuft (diesmal gestützt auf den GR-Beschluss vom 18.10.18), man sich aber ernsthaft fragen muss, ob ein solches Vorgehen noch als legitim gelten darf. 

Im Sinne der Transparenz und einer möglichst breiten Mitwirkung müsste es doch eigentlich so sein, dass jedermann, ob Online-Aficionados oder Alteingesessene ohne Internet-Affinität und mit traditionellem Verständnis von Kommunikationswegen, dieselbe Chance bekommt, oder nicht?

Beantragte Massnahmen

1. Publikation der Vernehmlassung in der Dezembernummer des Mitteilungsblatts. 

2. Verlängerung der Eingabefrist für Kommentare zur neuen Gemeindeordnung bis Ende Januar 2021. 

Dann haben alle ihre Chance. Und man wird Euch diesmal keine Geheimniskrämerei vorwerfen können. Wie wär's damit?

Nachtrag vom 15. November 2020

Mit Zeitstempel Montagmorgen, 9. November, 08:00 stellte die Gemeindeverwaltung einen offiziellen Hinweis auf die Vernehmlassung zur Einheitsgemeinde-Initiative auf die Website. Und zwar unter der oben bereits erwähnten Rubrik Aktuelles:

Davon haben die Abonnenten des elektronischen Newsletters der Gemeinde Weiach allerdings nichts erfahren. Aus welchen Gründen auch immer: Von DIESER Mitteilung erfährt nur, wer aktiv auf die Website der Gemeinde geht und sie dort findet. Ins elektronische Postfach geschoben wird sie einem jedenfalls nicht. Und da wären wir dann erneut bei der Frage: Unfähigkeit oder Absicht?

Der Inhalt der Mitteilung vom 9. November ist auch nicht wirklich ermutigend. Denn da prangt nach wie vor der Endtermin 30. November. Und das, obwohl man sich behördlicherseits erst im Februar 2021 wieder damit befassen will, man dem Souverän also eigentlich mehr Zeit geben könnte. Warum wird nicht berücksichtigt, dass die Individuen, die diesen Souverän ausmachen, es nun einmal nicht als ihren Lebensinhalt ansehen, alle paar Tage auf der Website nachzusehen, was es Neues gibt? Für so etwas hat man schliesslich den Newsletter, in den alles hineingepackt wird, was unter Aktuelles veröffentlicht wird. Würde man meinen. Ist aber leider nicht so.

Insofern: Noch ein Gewichtsstein auf diejenige Waagschale, die für Absicht spricht? Wenn nun nicht endlich dafür gesorgt wird, dass backslash.ch den Service so programmiert, dass ALLE Mitteilungen, die unter Aktuelles veröffentlicht werden, auch bei den Interessenten landen, dann muss man das leider annehmen.

Sonntag, 1. November 2020

Wohlhabende Witwe darf in Weyach bleiben

Sich in einen Ausländer zu verlieben, ihn zu heiraten und zu ihm zu ziehen, das kostete eine Frau in früheren Zeiten das Bürgerrecht ihrer Heimatgemeinde. 

Wenn sie dann – aus welchen Gründen auch immer – wieder in die alte Heimat zurückwollte, dann standen diesem Ansinnen etliche Hürden entgegen. Zurücknehmen musste die Gemeinde ihre ehemalige Bürgerin nämlich nicht.

Die Bürgschaft eines hablichen Weiachers und/oder eigene finanzielle Sicherheiten konnten da Wunder wirken. Wie bei dieser Frau, über deren Schicksal der Regierungsrat (damals Kleiner Rath) am 14. Oktober 1820 zu befinden hatte und deren Vorname zu nennen sich die regierungsrätliche Kanzlei gleich ganz erspart hat. Doch lesen Sie selbst:

«Die L. Commißion des Innern erstattete der hohen Behörde des Kleinen Rathes mit Weisung d. d. 20sten passati [d.h. 20. September 1820] den Bericht, es halte sich in ihrem Geburtsorte Weyach die 62. jährige Wittwe des Adam Scheerli, Schmid von Oberdiggisheim im Würtembergischen bey einem Sohne erster Ehe, Schmid Bersinger auf, und die Bemühungen des Oberamtes, ihr einen Heimathschein zu verschaffen, seyen fruchtlos geblieben, weil ihre Ehe mit dem Scheerli seiner Zeit während der Revolution, ohne Bewilligung seiner Landesobrigkeit geschloßen worden.»

Dieser heute Oberdigisheim geschriebene Ort liegt in einem Hochtal der Schwäbischen Alb auf 773 m ü. NN. Die Ortschaft gehört zur Gemeinde Meßstetten im Zollernalbkreis, Baden-Württemberg.

Nur geduldet, aber immerhin

Die rechtliche Ausgangslage war also verzwickt. Denn ohne Heimatschein war auch zu damaligen Zeiten nichts zu machen. Da blieb man sans papiers. Welcher Zeitraum von den Württembergern als «Revolution» bezeichnet wurde, ist unklar. Am ehesten dürfte es sich um die Zeit des Zweiten Koalitionskriegs 1798-1802 gehandelt haben, als auch in unserer Gegend einiges drunter und drüber ging, funktionierende Behörden eher die Ausnahme waren und ordnungsgemässe Aktenführung daher dem Zufall überlassen blieb. Und doch hatte Witwe Scheerli Glück im Unglück:

«Uebrigens habe diese Person noch einiges Vermögen, und da ihr obbemeldter Sohn Bürgschaft für sie leiste so trage die Gemeinde Weyach kein Bedenken, selbige zu dulden. Unter solcher Bewandnuß haben UHHerren und Obern, in Betrachtung der bedauerlichen Lage, in welche die Wittwe Scheerli durch Wegweisung aus hiesigem Kanton gerathen müßte, erkennt, derselben den lebenslänglichen Aufenthalt in der Gemeinde Weyach zu gestatten.

Hievon wird dem Lobl. Oberamte Regensperg zu Handen der Gemeinde Weyach und der Wittwe Scheerli, unter Beylage des Bürgschaftsscheines für erstere und einer besondern Ausfertigung gegenwärtiger Erkanntnuß als Niederlaßungs-Urkunde für letztere Kenntniß gegeben, auch das Secretariat der L. Commißion des Innern beauftragt, diese Ansäßin auf dem Tableau zu verzeichnen.
»

Heute vor 200 Jahren hatte also Witwe Scheerli die Gewissheit, ihren Lebensabend in Weiach bei ihrem Sohn verbringen zu dürfen. Vermögen und Bürgschaft sei Dank. Ihr altes Bürgerrecht aber, das erhielt sie nicht zurück. Rechtlich blieb sie in der eigenen Heimat eine Fremde.

Quelle
  • Kleiner Rath des Cantons Zürich (Hrsg.): Niederlaßungsbewilligung für die Wittwe Scheerli von Oberdiggisheim im Würtembergischen. Beschluss vom 14. Oktober 1820. Signatur: StAZH MM 1.74 RRB 1820/0841.

Samstag, 31. Oktober 2020

Vor 300 Jahren: Zürich sperrt Handels- und Reiseverkehr mit Genf

Es gibt ja in Zeiten von Corona unterschiedliche Arten des Umgangs mit dieser Bedrohung. Dirigistische, ja diktatorische mit knallharten Ausgangssperren wie in Frankreich für den ganzen November verhängt. Solche die auf durchgehende Maskierung setzen und ganze Branchen wie Gastronomie, Events und Hotellerie abwürgen. Aber auch einige, die wesentlich stärker auf die Eigenverantwortung der Bürger setzen und wo man, wie in Schweden, keine gravierenden Probleme zu haben scheint, obwohl auch da einige Spitäler mit ihren Intensivpflegekapazitäten am Anschlag sind.

Handels- und Reisesperre gegen Frankreich

Vor genau 300 Jahren mussten sich die Zürcher Untertanen mit den Folgen eines Pestausbruchs in der südfranzösischen Hafenstadt Marseille herumschlagen. Pesttote gab es in Zürich (im Gegensatz zu vorangehenden Jahrhunderten) noch keine, was vor allem damit zusammenhing, dass die vorgelagerten Gemeinwesen radikal durchgegriffen und jegliche Handels- und Reisetätigkeit mit Südfrankreich unterbunden haben (oder es zumindest versuchten). 

Die Zürcher Obrigkeit verhängte ab dem 19. August 1720 im Abstand von wenigen Wochen mehrere sogenannte Mandate, d.h. staatliche Anordnungen mit Strafbewehrung, die von den Kanzeln aller Kirchen verlesen wurden. So natürlich auch in Weiach durch den damaligen Pfarrer Hans Rudolf Wolf (1708-1747 in Weiach; Grabstein in der Kirchenmauer).

Das erste Mandat vom 19. August wurde unter dem Titel COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich besprochen (vgl. WeiachBlog Nr. 1510 vom 18. Mai 2020). Das zweite Mandat in derselben Angelegenheit kann samt Kommentar im Artikel Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720 abgerufen werden (vgl. WeiachBlog Nr. 1599 vom 9. Oktober 2020).

Unter dem 31. Oktober 1720 publizierte die Kanzlei der Zürcher Regierung eine ergänzende Anordnung in der leidigen Pest-Angelegenheit, wobei die Obrigkeit ihren Untertanen gegenüber entschuldigend betonte, es sei wirklich «ohnumgänglich nohtwendig», nun bereits das dritte Contagions-Mandat in nur zweieinhalb Monaten zu erlassen:


Das Erlufftungshaus wird gebaut

In Weiach wurde derweil durch den Sanitätsrat (Vorläuferin der Gesundheitsdirektion) ein Lagerhaus geplant und (wohl ab Oktober 1720) auch gebaut, in dem unter Quarantäne gestellte Waren (insbesondere Stoffballen) «erlufftet» werden konnten, indem man sie aufschnitt und so zu erreichen hoffte, dass die Erreger abgetötet würden (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 9 und 10, s. Quellen).

Massnahmen für Reisende und Handel werden verschärft

Der Erlass vom letzten Tag des Weinmonats basiert mehrheitlich auf dem Text des zweiten Mandats. Er bringt folgende wesentliche Neuerungen:

Art. 1: Ausweitung der totalen Sperrzone für Personenverkehr und Handel u.a. auf Lyon, Burgund, Savoyen, Piemont und Genf.

Art. 2: Quarantäne für Personen und Waren aus dem Raum nördlich des Genfersees, d.h. aus dem bernischen Waadtland. Einfuhr und Einreise nur mit amtlichen Attesten.

Art. 3: Gesundheitsatteste müssen eine Identifizierung der Person erlauben und lückenlose Aufenthaltsverfolgung ermöglichen.

Wie will man sicher feststellen, dass die auf einem Zettel genannte Person mit derjenigen identisch ist, die ihn vorweist? Daher wurden jetzt Mindestvorgaben betr. Signalement gemacht (Statur, Alter, Haare bzw. Bart).

Für den mit landwirtschaftlichen Arbeiten befassten Weiacher änderte sich also nicht viel. Für Reisende, Textilhändler und Transporteure, sowie für die Kontrollorgane dafür umso mehr. Gerade der Artikel 3 zeigt ja auch deutlich, auf welche praktischen Probleme man in den etwas mehr als zwei Monaten der Sperrmassnahmen im täglichen Vollzug gestossen war.

Das Mandat im vollen Wortlaut

«Wir Burgermeister / Klein und Grosse Rähte der Statt Zürich: Entbieten allen und jeden Unseren Angehörigen zu Stadt und Land / Unseren gönstigen gnädigen Willen / und darbey zuvernemmen; Daß nachdeme sinth letsthin unterem 9ten letst abgeloffenen Herbstmonats publiciertem Unserem Sanitets-Mandat die verläsliche und sichere Bericht von verschiednen Orthen eingetroffen / was gestalten die leidige Contagion nicht nur in der Stadt Marseille sondern auch umligenden Orthen in Provence, noch immer hefftig grassiere; Wir in sorgfältiger Erwegung und Beherzigung solch trauriger und gefahrlicher Zeitungen / und damit Unser werthes Vatterland vor so schwehr antrohender Straff Gottes / unter außbittend seiner fehrneren Gnaden-Hilff / möchte verschohnet bleiben / Unsere über die bereits obbedeuter maassen außgegebne Sanitets-Vorsorgen / annoch hernachfolgende Verordnung ergehen / und publicieren zulassen ohnumgänglich nohtwendig befunden. Benantlichen

1. Sollen Erstens mit und neben denen in besagt-Unserem Mandat außgesetzten Provinzen Frankreichs / Provence, Languedoc und Dauphiné, auch Lion, Lionnois, Bresse, Burgund / Franche-Comté, Genff / Savoye und Piemont gänzlichen bannisiert und von Unserem Commercio, so lang bis Wir hierum eine andere Verordnung thun werden / außgeschlossen seyn / also daß weder Persohnen / Veich / noch Wahren / auf kein Weis noch Weg / bey der in mehrbesagt Unserem Mandat angesetzten ernstlichen Straff / nicht hereingebracht noch eingelassen werden mögen / und

2. Aller Handel und Wandel mit der dißseithigen ganzen Gegend des Genffer-Sees / in der Meinung suspendieret / daß alle von daharkommende Persohnen / ehe und bevor sie in- oder durch Unsere Bottmässigkeit gelassen werden / Fünfzehen Tag / die Wahren aber Ein und Zwanzig Tag die Contumaz außzustehen angehalten / und beynebent mit Eydtlichen und beglaubten Attestatis, und Sanitets-Zeugnussen / wie Unser offtbemeldtes Mandat enthaltet / begleitet seyn. Wornebst Wir

3. Besagter Attestationen und Sanitets-Scheinen der Reisenden Persohnen halber Unsere Verordnung dahin erleutheren / daß in solchen hinkönfftig derselben Statur, Alter / Haar und Barth ordenlich / und zugleich bemerket werden solle / daß selbige innert 40. Tagen Zeit an keinem obbemeldten verdächtigen / und von Uns verbottenen Orthen sich aufgehalten haben / oder dorten durchpassieret seyen; Zu welchem Ende dann / die Reisende ihre mithabende Paßschein / von Orth zu Orth fleissigest unterschreiben zulassen / sich zu Ihrer eigenen Sicherheit obgelegen halten werden:

Da Wir im übrigen es bey dem Inhalt vor und offtbemeldten Unsers unterem 9ten Herbstmonats in den Truck gegebenen und publicierten Mandats lediglich bewenden lassen / und solches hiemit in allen seinen Puncten und Artiklen kräfftigest bestäten / zumahlen Jedermänniglich / zu genauer Beobachtung desselben Obrigkeitlich erinneret / und hiedurch sich selbsten vor Schaden und Ungnad zuvergaumen verwahrnet haben wollen.

Geben den 31. Weinmonat A°. 1720.    Cantzley der Statt Zürich»

Quellen

  • Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich (Hrsg.): Mandat vom 31. Weinmonat 1720. Einblattdruck, 46 x 35 cm. Originale unter den Signaturen StAZH III AAb 1.8, Nr. 93 sowie ZBZ M&P 2:343. Letzteres verfügbar auf e-rara.ch Nr. 86253. Literatur: Schott-Volm, Policeyordnungen Zürich, Nr. 1477.
  • Brandenberger, U.: Mit Mörsern gegen die Pest. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 1). Weiacher Geschichte(n) Nr. 9. Erschienen in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach (MGW), August 2000 – S. 9.
  • Brandenberger, U.: Europäisches Handelshemmnis und lokale Einnahmequelle. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) Nr. 10. Erschienen in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach (MGW), September 2000 – S. 13-14.

Dienstag, 27. Oktober 2020

Die Psychologie der unsichtbaren Todesdrohung

Ein Winzer ärgerte sich darüber, dass ihm Trauben gestohlen worden waren. Er montierte daher am Zaun eine Tafel mit der Aufschrift: «Achtung! In diesem Weinberg ist eine Mine versteckt!». Tags darauf waren erneut Trauben weggekommen. Und auf der Tafel stand die handschriftliche Ergänzung: «Jetzt zwei!».

Dieser makabre Witz zirkulierte vor bald zwanzig Jahren in der Multinationalen Brigade Süd der KFOR, dem militärischen Verband, der nach dem durch NATO-Bombardement 1999 erzwungenen Abzug der serbischen Streitkräfte aus der Provinz Kosovo für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Sicherheit zuständig war (und zu Teilen noch heute ist).

Mental mit dem Messer zwischen den Zähnen

In der Schweiz leben wir seit Jahrzehnten in einer von Gefahren zunehmend gesäuberten Welt. In einer solchen erwischt einen die 2020 breitflächig eingetretene Erkenntnis einer neuen, unsichtbaren und unkontrollierten Gefahr besonders heftig. Wie gehen wir damit um? Ein Vergleich zwischen einem heimtückischen Virus und hinterhältigen Sprengstoffen.

Dass man einen Blindgänger nicht berühren, sondern in gebührendem Abstand markieren und sofort der Polizei melden soll, das wissen auch die meisten Schweizerinnen und Schweizer. Aber dass man besser nicht durchs Gebüsch streifen sollte? Fiele uns nicht im Traum ein. Und doch: Das lernen vielerorts auf dem Westbalkan (und in vielen anderen Weltgegenden) bereits kleine Kinder.

Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn die Schweizer Armee die für den Einsatz in einem ehemaligen Kriegsgebiet vorgesehenen Peacekeeper der Swisscoy vorgängig wochenlang auf Vorsicht und Wachsamkeit drillt – mittlerweile seit über zwanzig Jahren.

Das ging auch dem Schreibenden nicht anders. Nach wochenlanger Ausbildung in der Schweiz und einem Force Integration Training mit den Österreichern in Bruck an der Leitha landeten wir im Frühjahr 2001 auf dem von russischen Soldaten besetzten Pristina Airfield. Mental sozusagen mit dem Messer zwischen den Zähnen. 

Grundimmunisiert auf die Piste geschickt

Die uns verpasste Grundimmunisierung gegen leichtsinniges Verhalten war auch höchst angezeigt. Denn vordergründig waren da keine Gefahren erkennbar. Abgesehen von den zerstörten Häusern erinnerte nicht viel an Tod und Vernichtung. 

Wären da nicht die immer wieder anzutreffenden (damals meist dreieckigen, auf den Boden weisenden) roten Tafeln mit Totenkopf und gekreuzten Beinknochen mit der Aufschrift MINA gewesen. 

Solche Schilder warnen vor Minen, Sprengfallen und Blindgängern. Und sind in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Kosovo (wie in vielen anderen, von Krieg und Bürgerkrieg überzogenen Weltgegenden) auch Jahre nach dem Konflikt noch gegenwärtig:

Bildquelle: Norwegian People's Aid Kosovo. Bild von 2019
Aufschrift der Tafel lautet übersetzt: «HALT! Nicht explodierte Kampfmittel»

Absichtlich verlegte Personenminen und in der Landschaft nach Bombenabwürfen verteilte Blindgänger (Unexploded Ordnance, UXO) sind seit 1999 Teil des Alltags im Kosovo. Trotz grossen Anstrengungen in der Minenräumung. Die tödliche Gefahr nimmt zwar tendentiell ab. Aber sie verschwindet nicht. Die Angst bleibt. Man muss mit ihr umgehen und leben lernen.

Uns Soldaten wurde regelmässig eingeschärft, auf keinen Fall von befestigten Wegen abzuweichen. Und wenn, dann nur mit einem ortskundigen Führer. 

Wie häufig wir das zu hören bekamen, illustriert der von Angehörigen der deutschen Bundeswehr mit einem Augenzwinkern zum Besten gegebene Spruch: «Du weisst, dass Du zu lange im Einsatzgebiet warst, wenn Du Dich mit Händen und Füssen dagegen wehrst, von Deiner Freundin ins Gebüsch gezogen zu werden.» Diese Vorsicht wurde auch ganz jungen Armeeangehörigen sozusagen zur zweiten Natur, zumindest im Einsatzgebiet.

Willst Du wegen diesen Idioten sterben?

Bei Menschen, die mit dem Helfergen ausgestattet sind, war und ist das nicht automatisch der Fall. Besonders eindrücklich war ein Erlebnis etwa in der Mitte meines Einsatzes. Die Deutschen hatten ihr Kontingent ausgewechselt. Wieder waren viele TAPSI angekommen (die Bezeichnung wird auch als Akronym für «Total ahnungslose Person sucht Informationen» verstanden; in der Schweizer Armee würde man das «Hamburger» nennen - einer der den ersten WK macht), aber auch solche mit Einsatzerfahrung, darunter ein altgedienter Flottillenarzt «in Endverwendung», wie er selber sarkastisch bemerkte.

Medizinisches Fachpersonal ist auch bei den Streitkräften rar und deshalb war es bereits sein x-tes Halbjahr, das besagter Marineoffizier nicht in seiner Dienststellung an einem Bundeswehrkrankenhaus, sondern fern von seiner Familie in einem Feldlager verbrachte, erst in Bosnien, jetzt im Kosovo.

Zusammen mit einer Zeitsoldatin (Stabsunteroffizier mit Rettungssanitäter-Ausbildung, aber im ersten Einsatz) hatte er zwei skandinavischen Kontingenten zwecks Erfahrungsaustausch einen Besuch abgestattet. Auf dem Weg zurück nach Prizren über die kurvenreiche, kürzlich neu asphaltierte Duljepass-Strasse waren sie bei den Ersten, die an einen fürchterlichen Autounfall heranfuhren. Frontalzusammenstoss, wohl aufgrund überhöhter Geschwindigkeit (die Hauptgefährdung im Einsatzgebiet). Eines der Fahrzeuge mit offensichtlich schwer Verletzten lag mehrere Meter von der Strasse entfernt in Gestrüpp. Ein italienischer Militärpolizist regelte bereits den Verkehr.

Es sei ihm, gestand mir der Flottillenarzt bei einem Tagesabschluss-Bier wenige Tage später, nur unter Einsatz von Körperkraft gelungen, seine Kollegin davon abzuhalten, sofort Erste Hilfe zu leisten. Er habe sie festhalten müssen und «hätte der Stuffze beinahe eine Backpfeife verpasst», als sie trotz der Frage, ob sie wegen diesen Idioten sterben wolle, Anstalten gemacht habe, sich seinem Befehl zu widersetzen.

Der Passübergang war im Kosovokrieg umkämpft gewesen. Man musste also jederzeit sowohl mit Minen wie mit UXO rechnen. Auch wenn da Schwerverletzte am Verbluten sind: zuerst muss der Kampfmittelräumdienst (Explosive Ordnance Disposal, EOD) den Zugang freigeben. Da waren die Vorschriften knallhart. Als deren Einsatzleiter grünes Licht gab, war es bereits zu spät; alle drei Insassen des von der Strasse abgekommenen Sportwagens waren tot. Die Kollegin sei danach psychisch zusammengebrochen und werde jetzt psychologisch betreut. «Und wie geht es Dir?», fragte ich. «Ich spüre den Konflikt mehr als ich mir zugestehen möchte.» Mehr als verständnisvoll nicken blieb mir da nicht.

Area denial auf Jahrzehnte

Minen sind teuflische Erfindungen. Sie sind billig herzustellen. Lange haltbar. Einfach verlegbar. Meist lauern sie versteckt. Und wie eine als Justitia verkleidete Rachegöttin richten sie ohne Ansehen der Person, wes Alter und Stand dieselbe auch sein mag. Es gibt scheinbar keine Grenze der Perversität. Minen sind mit Stolperdrähten kombinierbar, die besonders perfiden Modelle haben gar einen Springmechanismus, der sie vor dem Zünden der Sprengladung einen Meter in die Luft wirft. Eine solche Explosion reisst einem Kind den Kopf weg.

Die Sprengladung ist aber nicht darauf ausgerichtet, sofort zu töten. Sie soll optimal verletzen. Wer im Militär den Film «6 Stunden für ein Leben» gesehen hat, weiss, was ich meine. Dem Gegner soll der grösstmögliche Sanitätsaufwand aufgezwungen werden, der gerade noch als sinnvoll gilt. Denn im Krieg gilt das Triageprinzip: Wer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überlebt, der wird eher liegengelassen. Schreiende Verletzte senken die Kampfkraft weiter.

Das alles produziert Angst. Die wirkt sogar, wenn überhaupt nie eine Mine da war. Wie in unserem eingangs erwähnten Weinberg-Beispiel. Der muss jetzt nämlich Zentimeter für Zentimeter abgesucht werden. Man weiss ja nie.

Psychologische Effekte unter Kontrolle bringen

Angst wirkt nachhaltig. Pulverisiert Unbeschwertheit. Sie macht aber auch vorsichtig. Wildtiere lernen sehr rasch, wo, zu welcher Jahreszeit und unter welchen Umständen es gefährlich wird (wäre auch beim Wolf so, wenn er denn bejagt werden dürfte). Mit dem Restrisiko müssen und können sie trotzdem leben.

Man kann in einem Minenfeld Glück haben oder «nur» einen Gehörschaden davontragen. Aber wenn es dumm läuft, dann bezahlt man mit dem Leben. Und gefährdet andere, wie die junge Rettungssanitäterin.

Und: Minen können sich auch weiterverbreiten. Regenfälle und dadurch ausgelöste Erdbewegungen haben schon manche Personenmine freigelegt oder ganz ausgewaschen und an einen anderen Ort verfrachtet. 

Wer in einem ehemaligen Kriegsgebiet lebt, muss das immer im Hinterkopf haben. Es mag kurios tönen, aber auch heute noch werden immer wieder belgische Landwirte zu Opfern des 1. Weltkriegs: wenn beim Pflügen eine Granate explodiert (vgl. diesen Filmbeitrag der Deutschen Welle über die Gegend um Ypern). Landwirt als Risikoberuf der besonderen Art. Kosovaren kennen das auch.

Mit Sars-Cov2 ist dieser Psychokrieg auch bei uns angekommen. Denn das Virus wirkt pychologisch in einigen Aspekten wie unexplodierter Sprengstoff. Es ist dumm, sie verleugnen zu wollen. Denn sie sind nicht nur beide gefährlich, sondern auch in der Lage eine Gesellschaft sozusagen optimal zu schädigen. Deshalb muss man Gegen- und Schutzmassnahmen in vernünftigem Ausmass ergreifen (und nicht einfach von Panik getrieben einen Lockdown herbeischreien). Ein Restrisiko bleibt. Vor allem auch für Risikogruppen wie das Medizinpersonal.

Schon HIV hat unser Leben über Jahrzehnte teils massiv beeinträchtigt (man denke nur an die sorglose Promiskuität in den 60ern und 70ern), Sars-Cov2 wird das ebenfalls tun.

Ob es sich bei diesen Viren nun um Waffen aus Militärlaboren handelt oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle. Es ist so, wie es der frühere Platzspitz-Arzt André Seidenberg heute im Interview mit der NZZ ausdrückt: «Wir müssen lernen, gelassen mit unserer Angst umzugehen.»