Unter den jüngsten WeiachBlog-Artikeln des gerade vergangenen Jahres 2020 handeln mehrere von der Zeit des Zweiten Koalitionskrieges. In dessen erster Phase zog 1799 die Front zwischen den Franzosen und der Koalition aus Österreichern und Russen zweimal über unser Dorf hinweg und hat sich in mehreren Monaten von Einquartierung, Requisitionen und Kontributionen niedergeschlagen.
Einen dieser Beiträge (WeiachBlog Nr. 1614 mit dem Titel «Vom Weyacherberg kamen die Plünderer haufenweise») hat Daniel Gut, ein in den fleischkäsefarbenen Blöcken am Dammweg wohnhafter Weiacher, auf der Facebook-Gruppe «Du bisch vo Weiach, wenn...» wie folgt kommentiert:
«Wenn ich solche Sachen lese, bin ich doch sehr froh nicht dazumals gelebt zu haben. Da haben wir es trotz Corona immer noch besser.»
In dieser Krise des westlichen Selbstverständnisses ist es allerdings noch nicht so, dass wir die Auswirkungen der Ereignisse der letzten 12 Monate schon in voller Ausprägung spüren würden. Die Folgen (Wirtschaftszusammenbruch, rapider Bedeutungsverlust des Westens, etc.) kommen in den nächsten Jahren erst noch.
Aber es stimmt schon: kriegerische Ereignisse konventioneller Art, d.h. im scharfen Schuss und mit sichtbaren Truppen fremder Provenienz haben wir 2020 nicht erlebt.
Von Weiach aus den Bombenangriff erlebt
Anders war das in den späteren Phasen des Zweiten Weltkrieg, über den heute nur ganz wenige Zeitzeugen noch aus eigener, erwachsener Anschauung berichten können (viele der noch lebenden waren damals kleine Kinder).
Am 9. September 1944 griffen US-Jagdflugzeuge fahrende Züge bei Weiach und Rafz an. Und am 9. November 1944 liess eine Bomberstaffel ihre tödliche Fracht auf das NOK-Kraftwerk Eglisau nahe Rheinsfelden und dem Bahnhof Zweidlen fallen.
Als Augenzeuge erlebt hat diesen letzteren Angriff Hermann Gehring (1925-2014), Landwirt und langjähriger Gemeindeschreiber von Buchberg SH (vgl. Buchberger Nr. 117, 2/2007):
«Im Sommer 1944 absolvierte Hermann Gehring die RS. Anschliessend musste er in den Aktivdienst in Eglisau einrücken wo er gleichentags nach Weiach verladen wurde. An diesem Tag, am 9. November 1944, wurde das Kraftwerk Eglisau bombardiert (man vermutet, dass dies das Ziel gewesen sei). Die ganze Einheit konnte von Weiach aus zuschauen, wie das amerikanische Geschwader die Bomben herunterliess. „Es war, wie wenn Spaghetti vom Himmel fallen würden! Eine Katastrophe wurde vermieden, weil ein Gewitter über Eglisau tobte. Die Bomben wurden dadurch Richtung Rheinsfelden abgetrieben und verschonten, Gott sei Dank, das Kraftwerk. Von unserer Kompanie war ein Zug im Kraftwerk einquartiert gewesen. Es wäre furchtbar gewesen, wenn die Bomben getroffen hätten.“»
Distanzierte Rezeption?
«Am 9. November 1944 warfen US-Bomber 20 Sprengbomben über dem Glattfelder Weiler Rheinsfelden ab. Drei Tote und mehrere Verletzte waren die Folge. Der Eisenbahnviadukt der Linie Winterthur–Koblenz sowie mehrere Wohnhäuser wurden beschädigt. Das bei Rheinsfelden liegende Kraftwerk Eglisau wurde nicht beschädigt.»
Hier wird das Geschehen rein nach den Auswirkungen beschrieben und nicht von den mutmasslichen Intentionen der Angreifer her beleuchtet, wie die Schilderung Gehrings sie deutlich hervorhebt.
Die zeitliche Unmittelbarkeit macht es aus
Ganz anders die – aus der geographischen Distanz, aber offenbar in zeitlicher Unmittelbarkeit – gemachten Aufzeichnungen des Zeitzeugen Arthur Müller (
Kriegstagebuch 1943-1945):
«Donnerstag, 9. November 1944: Heute Morgen warfen amerikanische Flieger Bomben auf das Kraftwerk Rheinsfelden bei Eglisau. Das Kraftwerk wurde nicht getroffen, hingegen erhielt die Eisenbahnbrücke der Linie Basel - Winterthur einen Volltreffer. Der Zugverkehr wird für lange Zeit unterbrochen bleiben. Es sind 3 Opfer zu beklagen. Zur gleichen Zeit wurde auch die Strassenbrücke über den Rhein bei Diessenhofen bombardiert.»
Was die Zeitungen 1944 berichtet haben
In der damals täglich erscheinenden Zeitung «Die Tat» wird über das Ereignis am 10. November aus erster Hand informiert. Aufgrund der Pressezensur war der Abdruck der offiziellen Mitteilung des Pressechefs des Territorialkommandos sozusagen Pflicht (s. links der Luftaufnahme):
Darunter sind Berichte aus erster Hand abgedruckt, die nur entstehen, wenn man selber vor Ort war (wie offenbar eine Art Leserreporter, vgl. die Angabe «Privattelephon» als Quelle zum Tat-Augenzeugenbericht).
Auch Korrespondenten der Zeitung «Der Bund» schafften es dank ihren Presseausweisen, noch am Tag des Angriffs in die Schadenzone zu gelangen. Dort konnten sie mit Anwohnern und Soldaten reden. Und lieferten einen
eindrücklichen Bericht ab («
Die Bombardierung von Rheinsfelden. Augenzeugenbericht»), der aktuellere Informationen enthielt als das auf derselben Seite abgedruckte Amtliche Bulletin zu diesem Angriff.
Journalisten hatten unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Territorialkommandanten auch am folgenden Tag Zutritt. Gaffer hingegen wurden nicht geduldet. So betitelten die «Neuen Zürcher Nachrichten» vom 11. November den entsprechenden Beitrag mit: «Das Gebiet von Rheinsfelden für Schaulustige gesperrt».
Was man da hätte sehen können, wird in exakt vier Jahren öffentlich zugänglich: nämlich die unter der Signatur StAZH N 1102.5, Nr. 14 (Teil 2) im Zürcher Staatsarchiv aufbewahrten Fotoalben der Kantonspolizei Zürich, welche in diesen Novembertagen 1944 zur Dokumentation der Schäden unter der Leitung von Polizei-Oberleutnant Hammer angelegt worden waren.
Die Auswirkungen beschränkten sich nicht auf Rheinsfelden. Auch die rund einen halben Kilometer glattaufwärts gelegene Spinnerei Letten (heutiges Hotel Riverside) wurde durch den Explosionsdruck beschädigt, wie die «Tat» bereits am 10. November vermeldete. Ebenso wurden in der Nähe der Spinnerei Teile von Eisenbahnschienen gefunden.
Grosse Kaliber abgeworfen. Kein Zufall!
Auch am folgenden Tag, dem Freitag, 10. November, waren die Tat-Journalisten vor Ort. Und da wurde klar, dass der Angriff wohl auch dem Kraftwerk gegolten hätte. Und nicht nur der Brücke:
«Am Freitagmorgen traf auch der amerikanische Militärattaché auf der Unglücksstelle ein. Die Bombentrichter liegen in einer Linie, aus der klar hervorgeht, daß der Angriff nicht der Brücke, sondern dem Werk galt, eine Ansicht, die die anwesenden Herren Amerikaner wohl oder übel bestätigen mußten. Ein bisher ungeklärter glücklicher Zufall verhütete die Katastrophe.
Ein Splitter mit der gestanzten Aufschrift "thousend [sic!] pounds" beweist, daß nicht gerade die kleinsten Kaliber verwendet wurden. Jedenfalls sind diese Bomben zehnmal schwerer gewesen, als jene, die im April über Schaffhausen niederprasselten.
Der Schaden an den Häusern scheint größer zu sein als anfänglich angenommen wurde. [...]
Die äußerlichen Schäden, abgesehen von den Verwüstungen an Bäumen, Feldern und Tieren (Kühe haben vorzeitig verworfen), werden in absehbarer Zeit wiederhergestellt sein. Der Vorschlag der "Tat", der englisch-amerikanischen und deutschen Regierung kleine Pläne mit den Grenzumrissen der Schweiz und eine Erklärung über unser Hoheitsabzeichen zur Verteilung an ihre Piloten zuzustellen, gewinnt angesichts der erneuten krassen und blutigen Neutralitätsverletzung an Aktualität und Dringlichkeit.» (
Die Tat, 11. November 1944)
Bild: M65 1,000-lb. Bomb (Source: National Museum of the United States Air Force)
Die dazugehörende Beschreibung dieses Bombentyps: «The M65 1,000-pound general purpose (GP) bomb was typically used against reinforced targets like dams and concrete or steel railroad bridges. The P-47 Thunderbolt could carry two M65s, while the B-26 medium bomber could carry four.»
Bei den P-47 Thunderbolt handelt es sich um einmotorige Jagdbomber. Die B-26 medium bomber hingegen sind zweimotorig und auch eher als Bomber erkennbar.
Da in mehreren Zeitungsmeldungen vom 10. November 1944 die Information zu finden ist, es habe sich um zweimotorige Flugzeuge gehandelt, dürfte die P-47 ausser Betracht fallen.
Man kann also folgende Schlussfolgerungen ziehen:
1. Falls es sich tatsächlich um M65-Bomben gehandelt hat (was gemäss Beschreibung oben plausibel erscheint), dann wäre auch die Eisenbahnbrücke ein mögliches Ziel gewesen, aber eben eindeutig auch das Kraftwerk und sein Staudamm. Falls
2. dieselben Staffeln sowohl Diessenhofen wie auch Rheinsfelden angegriffen haben, dann könnte die Anzahl Bomben (ca. 20) durchaus mit der Ladekapazität der B-26 übereinstimmen, wenn man von je 7-8 Flugzeugen pro Staffel ausgeht und berücksichtigt, dass sie einen Teil der Ladung bereits an anderer Stelle abgeworfen hatten (z.B. in Friedrichshafen, wo sich u.a. die Dornier-Flugzeugwerke befinden).
Was, wenn der Staudamm beschädigt worden wäre?
Auch aus Weiacher Sicht war es ein Glücksfall, dass die Bomben ihr eigentlich vorgesehenes Ziel verfehlt haben.
Man stelle sich nur einmal die Folgen vor, wenn sie den Staudamm massiv beschädigt hätten. Die daraus resultierende Flutwelle hätte rheinabwärts durchaus grosse Schäden anrichten können. So am Rheinhof auf Weiacher Boden, aber auch an der Rheinbrücke von Kaiserstuhl.
Bei Treffern in das Bassin direkt vor dem Stauwehr hätte es auch bei nicht geborstenem Stauwehr ein Overtopping geben können, also ein Überschwappen.
Dass auch Bomben in den Rhein gefallen sind, ist dem Augenzeugenbericht in der «Tat» vom 10. November zu entnehmen: «Fest steht, daß ein Teil der Bomben etwa 400 m oberhalb des Werkes in den Rhein fielen. Zahlreiche tote Fische, die gegen das Wehr angeschwemmt werden, reden eine deutliche Sprache.»
Und was ist jetzt mit den Spaghetti?
Da dürfte es sich um einen physikalischen Effekt gehandelt haben, indem die infolge des Unwetters hohe Luftfeuchtigkeit in der Trajektorie hinter der fallenden Bombe auskondensierte, was aus der Entfernung von rund 3.5 bis 4 Kilometern dann wie ein Spaghetti aussah.
Quellen und Literatur
- Kantonspolizei Zürich: Bombardement auf Rheinsfelden und Glattfelden am 9. November 1944. Tote und Verletzte. Signatur: N 1102.4, Nr. 14 (Teil 1). Schutzfristende: 31.12.2024.
- Kantonspolizei Zürich: Bombardement auf Rheinsfelden und Glattfelden am 9. November 1944. Fotoalben des Polizeikommandos Zürich in 2 Ausfertigungen. Signatur: N 1102.5, Nr. 14 (Teil 2). Schutzfristende: 31.12.2024.
- Müller, A.: Tagebuch von Arthur Müller während dem 2. Weltkrieg von 1943 bis 1945. Chronologie der Luftangriffe auf Süddeutschland – S. 15.
- Brandenberger, U.: Amerikanische «Luftgangster»? 9. September 1944: US-Luftwaffe beschiesst Güterzüge bei Rafz und Weiach. Weiacher Geschichte(n) Nr. 41. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2003 [Vgl. zu den diplomatischen Verwicklungen wg. den Neutralitätsverletzungen durch die US-Luftwaffe: Gesamtausgabe S. 89]
- Baur, S.: De „alt“ Schriber vo Buechbärg. Zweiteiliger Beitrag über Hermann Gehring, Buchberger Gemeindeschreiber 1949-1985. In: Buchberger. Offizielles Mitteilungsblatt der Gemeinde Buchberg. Nr. 117, 2/2007 – S. 13. [Beide Teile in einem PDF; Nur die Fundstelle]
- Meier, B.: Irrtümlicher Bombenangriff der Amerikaner brachte Tod und Verderben in Rheinsfelden. Am 9. November 1944 wurden auch die Menschen in unserer Gemeinde mit dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Kurz nach 11 Uhr brach über die Einwohner von Rheinsfelden die Hölle herein. In: Der Glattfelder, Vol. 24:22 (2014) – S. 10-11.