Sonntag, 31. Mai 2020

Aussenrenovation des Pfarrhauses, 1931/32

Anfangs der 1930er-Jahre war für das damals noch dem Zürcher Staat gehörende Weiacher Pfarrhaus wieder einmal eine Renovation fällig. Über die eingeholte Offerte (eine!!) musste (trotz Einstellung im Budget des laufenden Jahres) der Gesamtregierungsrat befinden:

«Für die im Budget 1931 vorgesehene Außenrenovation des Pfarrhauses in Weiach ist über die Maurerarbeiten nachstehende Offerte eingezogen worden: Gebr. Krämer, Baugeschäft, in Niederglatt, Fr. 3,932.60. Es kann die Offerte genehmigt werden.

Auf Antrag der Baudirektion beschließt der Regierungsrat:

I. Die Maurerarbeiten für die Außenrenovation des Pfarrhauses in Weiach werden laut Offerte vom 15. September 1931 im Betrage von Fr. 3,932.60 an die Firma Gebr. Krämer, Baugeschäft, in Niederglatt, vergeben.

II. Mitteilung an die Baudirektion zum Vollzug

Nach dem Historischen Lohnindex (HLI) des Swiss Historical Monetary Value Converter der Universität Bern (www.swistoval.ch) entspricht der vergebene Auftrag einem heutigen Wert von ca. 60'000 CHF. Und der Schreibende staunt immer noch darüber, dass EINE einzige Offerte ausreichend war.

Quelle
  • Regierungsrat des Kantons Zürich: RRB 1931/2092 vom 1. Oktober 1931. Pfarrhäuser. Signatur: StAZH MM 3.45 RRB 1931/2092.

Freitag, 29. Mai 2020

Sind die Chüechli gfrässe gsi...

Eine der umfangreichsten Serien, die auf WeiachBlog bisher erschienen sind, ist diejenige über die 1921 erschienene Autobiographie When I was a girl in Switzerland von Louise Griesser Patteson (vgl. WeiachBlog Nr. 1487 für eine Einleitung). Heute erscheint der 19. Artikel, der sich mit einem grenzüberschreitenden Thema befasst. Und dies gleich in zweierlei Hinsicht, wie man sehen wird.

«In those days also the Rhine was spanned by an ancient covered bridge which had a rumbling echo.» (S. 11)

Gemeint ist die 1823 von Baumeister Blasius Balteschwiler aus Laufenburg errichtete gedeckte Kaiserstuhler Holzbrücke über den Rhein, die 1876 durch ein Hochwasser zerstört wurde. Eine heute noch existierende gedeckte Rheinquerung Balteschwilers ist die Brücke von Rheinau.

Die im Buch Pattesons abgebildete Stahlbrücke von Kaiserstuhl zum Schloss Rötteln (vgl. unten) zeigt die als Ersatz von 1885 bis 1891 gebaute Stahlbrücke. Diese erwies sich bereits nach wenigen Jahrzehnten als nicht genügend tragfähig für schwere Lastwagen und wurde 1985 durch die heutige Stahlverbundbalkenbrücke ersetzt. 

Grenzüberschreitende Neckereien

Doch zurück zur alten gedeckten Brücke mit ihrem Echo, wozu Patteson anmerkt:

«It used to be great sport for us children to shout from one end of the bridge to the other as loudly as we could, and then listen to our own words. [...] Sometimes we went to the Rhine bridge, and just as sure as the children on the opposite side saw us they would shout over to us, “Oh, you Swiss cheese-bags!” Then we would shout back, “Oh, you Badener wind-bags!”» (S. 11-12)

Gemeint sind natürlich «Badenser Windbeutel», da damals (und bis 1871) der nördliche Brückenkopf Hoheitsgebiet des Grossherzogtums Baden war.

«During a visit to Switzerland I was sorry to miss that old bridge. In its place was a modern one. A statue of the martyred saint, John of Nepomuk, which used to be a wonderment to us children because it was so huge, had been removed from the far end to near the middle, so as to indicate the boundary line between the two countries.» (S. 12)

Da die Nepomukstatue 1752 vom Kaiserstuhler Bildhauer Franz Ludwig Wind geschaffen wurde, ist anzunehmen, dass sie ursprünglich auf dem Schweizer Ufer stand.

Weiacher Reben auch auf Kaiserstuhler Gebiet ennet dem Rhein

Im Kapitel XV von Pattesons Buch zeigt sich, dass es auch handfeste wirtschaftliche Weiacher Interessen an dieser Brücke gab. Es war nämlich so, dass nicht nur Kaiserstuhler Bürger sondern auch Weiacher auf dem ehemals zum Stadtbann gehörenden grossen sogenannten Efaden auf der Nordseite des Rheins Landparzellen besassen (umfassend alle Weinberge zwischen Hohentengen und der Ruine Weisswasserstelz; vgl. Argovia 104 (1992), S. 102-103). Unter anderen auch der Vater von Louise:

«Another of my steady jobs was to carry the noonday meal to our workers in distant parcels of land. Swiss farmers live in villages and have their lands outlying, a parcel here, another there. One of our vineyards was across the Rhine in Baden, about two miles distant. Our maid always went with the “hands” that worked there. As soon as I came from school at noon I had to start off with the dinner in a huge basket, which I wheeled in the baby cab to the Rhine bridge in Kaiserstuhl. There our maid met me, took the basket on her head and carried it to the vineyard. The accompanying picture shows the new Rhine bridge and the ancient castle mentioned in a previous chapter, and a stretch of the vine-clad Rhine bank in the background.» (S. 157-158)

Anzumerken ist, dass natürlich nicht in allen Gegenden der Schweiz eine räumliche Organisation der Landwirtschaft wie die beschriebene vorherrscht(e). Korrekt wäre die Angabe gewesen, dass dies in Teilen des Kantons Zürich der Fall sei, namentlich im Nordwesten, wo sich ihr Heimatdorf Weiach befindet. Zurückzuführen ist dies auf die Dreifelderwirtschaft, die mit Flurzwang durchsetzte, dass möglichst wenig Land durch Erschliessungsinfrastruktur verloren geht und sich die Wohn- und Ökonomie-Gebäude in einem Dorfkern konzentrieren. Nimmt man hingegen das Tössbergland im Zürcher Oberland, das Appenzellerland oder das Emmental in den Blick, dann sind in diesen stark gekammerten Gebieten traditionellerweise Streusiedlungen vorherrschend.


Grossherzogliche Grenzwächter mit Essen bestochen

«On the Badener side were gens d’armes, or tax-collectors, who inspected anything coming across. Mother always put some pie or cake in for them; otherwise they would disturb the dinner.

I had to travel that distance of a mile and back and eat my dinner and get back to school within an hour. Sometimes this continued for weeks at a stretch, because the care of his vineyard was a matter of great pride to Father. Those vineyards stretch in long, narrow panels down the embankment, and no sooner is one kind of pruning finished than it is time to begin again and go through with another kind.» (S. 158-159)

Es scheint fast so, als ob dieser Zweig der Familie Griesser in Weiach selber keinen Weinberg sein Eigen nannte. Oder war es doch die ennetrheinisch bessere Südlage, welche auch Wein höherer Qualität ergab als an den Weiacher Hängen?

Wie dem auch sei, kommen wir zur zweiten Grenzüberschreitung im Zusammenhang mit dem Weinberg auf der Hohentengener Seite:

Zu verlockende Chüechli

«One day Mother did not have the dinner all packed when I got home from school. I saw her put in a big tureen heaping full of fried cakes, and several on top for the gens d’armes. Imagine me, a youngster just from school, having had nothing to eat since an early breakfast, with the odor of those piping hot fried cakes being wafted to me as I pushed that cab ahead. After I had the village of Weiach behind my back I tasted one from under the napkin (I was careful not to take the gens d’armes’). It tasted so good I took another, and another, and so on, I suppose. That evening the maid asked Mother why she had sent so few fried cakes, not even enough to go once around. Of course, suspicion turned to me. To make a long story short, I was severely, and as I afterward concluded, unjustly, punished.» (S. 159)

Nun: Strafe muss sein, denn sie wusste ja, dass sie etwas Verbotenes tut. Das zeigt schon der Umstand, dass der erste Griff unter die Tücher erst nach Passieren des Bedmen erfolgte. Nach diesen Häusern gab es damals nämlich bis nach Kaiserstuhl keinerlei Gebäude mehr (vgl. die Wildkarte aus den 1850er-Jahren).

Aber immerhin: die für die Gendarmen des Grossherzogs reservierten Chüechli hat die kleine Luisa nicht anzurühren gewagt. Respektspersonen halt.

Quelle
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 11-12 u. 157-159.

Donnerstag, 28. Mai 2020

Vor 25 Jahren wurde Weiach-Kaiserstuhl aufgegeben

Heute ist ein denkwürdiger Tag. Der Tag einer bitteren Erinnerung an vergangene Zeiten, als die Anbindung an den öffentlichen Bahnverkehr noch auf Gemeindegebiet von Weiach stattfand. Als wir noch einen richtigen Bahnhof hatten.

Es ist derjenige Tag, an dem der Bahnhofvorstand von Weiach-Kaiserstuhl nach 118 Jahren und 300 Tagen Betriebsdauer seinen letzten regulären Personenzug abfertigte.

Ein Kind der Nordostbahn

Der Bahnhof, der in einem Konzessionsgesuch der Stadt Winterthur vom Ende der 1860er-Jahre noch «Kaiserstuhl-Weiach» benannt worden war, wurde mit der Aufnahme des fahrplanmässigen Betriebs auf der Bahnstrecke Winterthur–Bülach–Koblenz der Schweizerischen Nordostbahn am 1. August 1876 eröffnet (vgl. dazu Weiacher Geschichte(n) Nr. 20 und 21, s. Literatur unten).

Das heute noch stehende Stationsgebäude ist ein Standardbau «Stationsgebäude Classe V», wie man ihn an allen Bahnhöfen dieser Strecke findet. An den Bahnhöfen Glattfelden, Zweidlen, Weiach-Kaiserstuhl, Rümikon-Mellikon, etc. wurden kompakte Holzbauten errichtet, mit Stationsbüro, Güterschuppen und im oberen Stock einer Dienstwohnung – alles unter einem Dach. Nur bei grösseren Ortschaften wie Zurzach oder Eglisau, wo ein Knotenpunkt geplant war, wurden Steinbauten mit eisernem Vordach sowie Nebengebäuden aus Holz erstellt.

Die Aargauer sorgten für ihre Studenländer. Die Zürcher für die Weiacher?

Auf den Fahrplanwechsel Ende Mai 1995 entstanden in den Aargauer Gemeinden Kaiserstuhl, Rümikon und Mellikon in Siedlungsnähe neue Haltestellen. Die alte Bahnhofsinfrastruktur gab es da zwar nicht mehr. Dafür viel kürzere Wege für die Einwohner dieser drei kleinen Gemeinden (Kaiserstuhl mit 418 Einwohnern ist immer noch die grösste unter ihnen).

Den Weiachern hingegen, von denen es damals bereits über doppelt so viele gab wie Kaiserstuhler, wurde und wird zugemutet, bis zur nächsten Bahnhaltestelle noch einmal 750 Meter weiter gehen zu müssen. Das ist die Strecke vom Alten Bahnhof der Kantonsstrasse entlang bis zur Haltestelle Kaiserstuhl AG.

Wo sich die Aargauer Gemeinden (und ihre Regierung) für die Einrichtung von neuen, separaten Haltestellen einsetzten, die im Fall von Rümikon AG und Mellikon gerade einmal 1.65 Kilometer auseinander liegen, da hat sich in Weiach gar nichts getan.

Und dies, obwohl doch damals schon klar sein musste, dass dereinst in der Ebene zwischen dem Bedmen und der Lederwaren-Fabrik Fruet am Bahnhof Weiach-Kaiserstuhl in einem Ausmass gebaut werden würde, das die Bevölkerungszahl von Kaiserstuhl locker egalisiert. Den Zustand haben wir heute nämlich.

Warum keine Bahnhaltestelle «Weiach»?

Warum 1995 nur in Weiach in Dorfnähe keine neue Haltestelle entstanden ist, z.B. dort, wo die Bahnlinie den Verlauf des Dorfbaches kreuzt, ist völlig unverständlich. Dieser Punkt liegt immerhin 1.35 Kilometer von der Haltestelle Kaiserstuhl AG entfernt. Das sind nur 300 Meter weniger als die Strecke zwischen Rümikon und Mellikon.

Sollte die Errichtung einer solchen Haltestelle aus fahrplantechnischen Gründen partout nicht möglich sein, und würde man das Bevölkerungsgewicht in die Waagschale werfen (Weiach mit um die 2000 Einwohnern, Kaiserstuhl mit rund 450 und Fisibach mit rund 550 Einwohnern gerechnet), dann müsste die Haltestelle längst wieder im Kanton Zürich und damit auf Weiacher Gemeindegebiet liegen.

Dass ein solches Vorhaben nicht schon längst auf dem Tapet ist, erklärt sich einerseits aus der vorherrschenden Ausrichtung der Pendlerströme auf die Stadt Zürich hin, sowie dem darauf angepassten dichten Busfahrplan und andererseits damit, dass die Gemeindeväter mit den Folgen des Baubooms der letzten Jahre mehr als ausgelastet sind.

Literatur

Mittwoch, 27. Mai 2020

Der Zollinger'sche Heumonat – dem Klimawandel geschuldet?

«Wissen Sie, welcher Monat mit dem Heumonat gemeint ist?» Mit dieser Frage beginnt der meistgeklickte Beitrag auf WeiachBlog: die Nr. 459 mit dem Titel «Alte Monatsnamen».

Nach Johann Heinrich Bluntschlis zweiter Auflage des Zürcher Lexikons «Memorabilia Tigurina» von 1711 wird der Juli im allgemeinen Sprachgebrauch seiner Zeit als «Heumonat» bezeichnet.

Der «Zedler», das zwischen 1731 und 1754 in Halle und Leipzig gedruckte Universallexikon des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum par excellence, sieht dies genauso (Total ca. 63'000 Seiten in 64 Bänden, vgl. Artikel in Band 24 über das Neuamt in WeiachBlog Nr. 9).

Und auch aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gibt es Belege für die offizielle Bezeichnung des Juli als Heumonat (vgl. WeiachBlog Nr. 819 für eine Urteils-Publikation über einen Weiacher Bürger im Amtsblatt des Kantons Zürich in der zweiten Jahreshälfte 1868).

Das sei so, doziert die Wikipedia, weil «im Juli die erste Heu-Mahd eingebracht wird».

Juni: der «eigentliche Heumonat»

Walter Zollinger, ab 1919 Primarschullehrer in Weiach und dieser Gemeinde bis Mitte der 1960er-Jahre treu, war da etwas anderer Meinung, wie man seinen Jahreschroniken entnehmen kann. Wenn Sie die Wetterartikel der letzten Jahre gelesen haben, dann ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass Zollinger in diesen Typoskripten für die Nachwelt (vgl. WeiachBlog Nr. 761) nicht den Juli, sondern den Juni als Heumonat bezeichnet.

Bereits im zweiten Band über das Jahr 1954 findet man die Formulierung «Der ganze Juni, seines Zeichens doch der "Heumonat"» (G-Ch Weiach 1954, S. 2). Was damit gemeint war erläutert die übernächste Chronik: «Der Juni, als eigentlicher Heumonat für unsere Bauern» (G-Ch Weiach 1956, vgl. WeiachBlog Nr. 220).

Diese Umdeutung nimmt Zollinger in der Folge immer selbstverständlicher vor – allerdings lediglich in seinen Jahreschroniken, die ja überhaupt erst ein Vierteljahrhundert nach Ablieferung in der Zürcher Zentralbibliothek von Dritten gelesen werden konnten.

So in der Jahreschronik 1961: «Juni. Die ersten zwei Wochen des sogenannten Heumonates [...]» (WeiachBlog Nr. 1013) oder noch kürzer: «Juni. "Heumonat"!» (G-Ch Weiach 1962, WeiachBlog Nr. 1107). Im Jahr darauf verwendet der Chronist nicht einmal mehr Anführungszeichen: «Juni: Der Heumonat lässt sich gut an [...]» (WeiachBlog Nr. 1140).

1964 schliesslich wird der Heuet in der Zollinger'schen Jahreschronik bereits im Monat Mai erwähnt.

Auswirkung eines Klimawandels?

Dieselben Beobachtungen macht der Schreibende im 21. Jahrhundert auf seinem eigenen Betrieb. Selbst auf Höhenstufen, die weit über den in Weiach anzutreffenden liegen (900-1000 Meter über Meer) wird das erste Heu regelmässig bereits im Mai eingebracht. Den ersten Schnitt im Juni oder gar Juli erfahren in der Regel nur noch Wiesen, die sogenannte Ökoqualitätsbeiträge im Rahmen der Direktzahlungen von Bund und Kanton auslösen können. Sonst wird wesentlich früher gemäht. Bei Fettwiesen stehen im Verlauf des Jahres noch drei bis fünf weitere Schnitte an.

Da stellt sich dann doch die Frage, ob das nur so ist, weil die heutigen Landwirtschaftsbetriebe für das Raufutter in der Regel über Heubelüftungen verfügen und daher Futter einbringen können, das auf dem Heustock noch nachtrocknen muss. Eine solche Praktik hätte in früheren Zeiten unweigerlich zu Heustocküberhitzung und daraus entstehenden Bränden geführt.

Oder hat es tatsächlich (auch) damit zu tun, dass wir uns immer weiter von der kleinen Eiszeit entfernen? Die hat ja vom Anfang des 15. bis ins 19. Jahrhundert hinein gedauert. Das damals relativ kühle Klima hat sicher auch dazu beigetragen, dass erst der Juli der Heumonat war. Und nicht schon der Juni (wie bei Zollinger die Regel) – oder gar der Mai (wie das heutzutage festgestellt werden kann).

[Veröffentlicht am 28. Mai 2020 um 00:38 MESZ]

Sonntag, 24. Mai 2020

Festfreudige Weiacher Feuerwehrleute an Pfingstmontag

«Im Mai, im Mai, da mache-n-alli, was sie wei!» sang Emil Steinberger in seinem Sketch Buureregle. Denn schliesslich hatte ja der April mit einem gemacht, was ER wollte. Da durfte man sich dann im Wonnemonat des Lebens freuen.

So dachten wohl auch die Weiacher Feuerwehrpflichtigen. Sie feierten ein Fest, wenn es einen Anlass dazu gab. Wie beispielsweise die Feuerspritzenprobe am 16. Mai 1842. Woran sich zumindest ein der Freitagszeitung bekannter Zuträger ziemlich gestört hat:

«Hätte die Gemeinde Weyach zum Proben ihrer Feuerspritze keinen schicklichern Tag wählen können, als den Pfingstmontag, zumal es bei und nach der Probe so laut hergegangen sein soll, daß darüber, wie man hört, Klage erhoben wurde?»  (Züricher Freitagszeitung, Nummer 21, 27. Mai 1842)

Risiken und Nebenwirkungen der Nutzung eines arbeitsfreien Tages für einen ohnehin anstehenden Feuerspritzentest. Ob es sich dabei um eine neue Spritze gehandelt hat, sie repariert worden war oder es einfach um eine Feuerwehrübung ging, das ist WeiachBlog zurzeit nicht bekannt.

Bekannt ist hingegen, dass die Spritze anderthalb Jahrzehnte später ersetzt werden musste, wie man der blauen Chronik von Walter Zollinger entnehmen kann:

«Ins Jahr 1858 fällt sodann die Anschaffung einer neuen Feuerspritze. Ihr «Verfertiger war Kanthonsrath Gross in Otelfingen» und der Preis derselben betrug 3700 Franken, Trinkgeld und Schläuche inbegriffen.» (Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach, 1. Aufl., 1972 – S. 63)

Das war übrigens nicht gerade wenig Geld. Rechnet man dies mit dem Historischen Lohnindex (HLI) von Swistoval (Swiss Historical Monetary Value Converter der Universität Bern) auf Durchschnittslöhne von 2009 um, dann ergibt sich ein Wert von 345'000 Franken.

Samstag, 23. Mai 2020

Arbeiter der Stirn. Interview mit Pfarrer Thomas Koelliker, 1983

In einigen der ersten Ausgaben der Mitteilungen für die Gemeinde Weiach (MGW; heute: Mitteilungsblatt Gemeinde Weiach) finden sich Gespräche mit dörflichen Amtsträgern, die Regula Brandenberger führte und aufzeichnete (vollständige Liste siehe WeiachBlog Nr. 784).

Nach zwei Interviews mit dem damals amtierenden Gemeindepräsidenten Mauro Lenisa (WeiachBlog Nr. 1366) sowie seinem Amtsvorgänger Ernst Baumgartner-Brennwald (WeiachBlog Nr. 1479) folgte als dritter Beitrag ein Interview mit Thomas Koelliker, seit Mitte Oktober 1981 Weiacher Pfarrer.

In dieser Zeit war der Weiacher Pfarrer gleichzeitig auch Seelsorger der Reformierten in den Aargauer Gemeinden Kaiserstuhl und Fisibach, wie im Pastorationsvertrag aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs festgehalten (vgl. WeiachBlog Nr. 396 mit verlinkten Artikeln).

Koelliker (korrekte Schreibweise mit oe, nicht mit ö), geboren 1950, ist der 27. residente Pfarrer von Weiach. Mit dem Begriff «resident» werden die dreissig (von mehr als hundert) Pfarrern bezeichnet, die dauerhaft mitten unter ihren Gemeindegliedern wohnhaft waren. Gemäss der Pfarrerzählung WPZ (vgl. Quelle und Literatur unten) ist er Nummer 92, Amtsdauer 16.10.1981 bis 31.7.1995. Danach war er 20 Jahre bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2015 Pfarrer in Zollikerberg (Kirchgemeinde Zollikon), wo er auch heute noch mit seiner Ehefrau lebt.

Nachstehend der Volltext des Interviews mit Kommentaren von WeiachBlog in eckigen Klammern. Zwischentitel stammen ebenfalls vom Kommentator:

UNTER UNS... 
Diesmal ein Gespräch mit einer andern Amtsperson: 
Pfarrer Thomas Kölliker 
[falsche Schreibweise; korrekt mit oe]

R.B. - Herr Pfarrer, Sie sind nun bereits knapp zwei Jahre bei uns  ist es Ihnen immer noch wohl hier?

T.K. - Ja, es gefällt mir immer noch!

Was tut eigentlich ein Pfarrer  ausser Predigten halten?

R.B. - Das Amts- und Pflichtenheft eines Allein-Pfarrers in einer Landgemeinde unterscheidet sich bestimmt vom Aufgabenkreis eines Stadtpfarrers (oder Pfarrers einer grösseren Gemeinde), der noch Amtskollegen hat. - Trotzdem, einmal ganz allgemein: Was tut eigentlich ein Pfarrer?

T.K. - In der Kirchenordnung des Kantons Zürich heisst es im Kapitel "Pfarramt" unter Abs. 2:

Er ist verantwortlich für Gottesdienst, Taufe, Abendmahl und kirchlichen Unterricht, vollzieht kirchliche Trauungen und Abdankungen und ist Seelsorger der Gemeinde.

Das sieht praktisch etwa so aus:

1.) Zuerst alle auf Grund der Kirchenverordnung "nachweisbaren", regelmässigen Amtspflichten:
- Gottesdienste + Amtshandlungen (Taufen, Trauungen und Abdankungen)
- Kirchlicher Unterricht = 10 Stunden (Schulen Fisibach, Kaiserstuhl, Stadel; und Konfirmandenunterricht)

[Der Religionsunterricht an der 3. Klasse der Primarschule Weiach wurde erst in späteren Jahren von Pfr. Koelliker abgehalten]

Dazu gehört die Zeit für die entsprechenden Vorbereitungen:
- für Predigten (Abdankungen u.s.w.) ca. 6-8 Stunden - bei Ueberarbeitungen etwas weniger):
- pro Unterrichtsstunde ca. 1 Stunde

2.) Alle andern, in diesem Sinn nicht "kontrollierbaren" Aufgaben:
- Spitalbesuche (Dielsdorf, Bülach, Baden, etwa auch Zürich)
- Kasualbesuche (Taufen, Hochzeiten + Abdankungen)
- seelsorgerische Hausbesuche
- Durchführung von Kursen und Tagungen, Altersnachmittagen, Konfirmandenreisen und -lagern.

3.) Diverse Sitzungsverpflichtungen, wie sie andere Amtspersonen auch haben.

4.) Erledigung aller Schreibarbeiten (reine Büroarbeit); in grösseren Gemeinden (bei mehreren Pfarrstellen) ist dies die Arbeit der Gemeindehelferin oder des Kirchgemeindesekretariates.

Welchen Schulrucksack muss ein Pfarrer mitbringen?

R.B. - Tatsächlich ein sehr reichhaltiges Pflichtenheft! - Welche Ausbildung braucht es denn, bis ein Pfarrer eine Gemeinde übernehmen kann? Konkret: Wo, und wie lange sind Sie zur Schule gegangen?

T.K. - Nach der Primarschule 7 Jahre Mittelschule; anschliessend 6 Jahre Universität in Zürich und Tübingen. Verlangt wurde im Studium an der

1.) Vorprüfung (Propädeutikum):
- Latein, Griechisch + Hebräisch
- allgem. Geschichte + Kirchengeschichte
- Geschichte der Philosophie
- Religionsgeschichte
- Vorlesungen über altes und neues Testament

2.) für den Studienabschluss (Staatsexamen):
- Ethik und Dogmatik
- Theologie des alten und neuen Test.[aments]
- Religionspädagogik und katechetische Uebungen
- Psychologie
- Predigtlehre
- Rhetorik

3.) Praxis; d.h. 1 jährige Lehrzeit (Vikariat) bei einem amtierenden Pfarrer, in meinem Fall bei Pfarrer Hess im St. Peter in Zürich.

4.) Praktische Prüfung und Ordination

Das Pfarrerbild der Öffentlichkeit und wie der Pfarrer dazu passt

R.B. - Kehren wir zurück, zum Pfarrer in der Gemeinde! Der Pfarrer: würdiger Herr im Dorfe, der (nebst der Sonntagspredigt und einigen Unterrichtsstunden) im Studierzimmer sitzt und schöne Bücher liest, erbaulich,  dazwischen in dunkler Gewandung durchs Dorf spaziert und allseitig freundlich grüsst  ich glaube kaum, dass dieses Bild eines Pfarrers noch sehr verbreitet ist. - Freilich wird er auch heute noch freundlich grüssen   

[Dieses Bild vom Pfarrer war in früheren Zeiten tatsächlich die Regel. Vgl. dazu einige Ausschnitte aus der Autobiographie von Louise Griesser Patteson aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: WeiachBlog Nr. 1512]

T.K. - Sicher! Aber es gibt offensichtlich vom Pfarrer selber  von seiner Person, seiner Art her  ganz verschiedene Berufsauffassungen, ganz abgesehen von den nochmals sehr verschiedenen Vorstellungen und Auffassungen seines Berufes innerhalb seiner jeweiligen Gemeinde.  Ein Glücksfall ist es, wenn der Pfarrer seine Person möglichst vollumfänglich in seine Aufgabe integrieren kann, und seine Auffassung zudem möglichst nahe am mehrheitlichen Pfarrerbild seiner Gemeinde liegt.

[Das galt und gilt auch und gerade dann, wenn die Gemeinde ihren Pfarrer selbst wählt (in Weiach erstmals 1837) und zu grossen Teilen selber finanziert (in Weiach seit 1591 der Fall). Wenn der Pfarrer nicht zur Gemeinde passt, dann gibt es unweigerlich Probleme, ob vor 400 Jahren oder heute.]

R.B. - In einer Zürcher Gemeinde ist am Pfarrhaus eine Messingtafel angebracht mit der Aufschrift: Sprechstunden von 10-12 Uhr, oder auf telefonische Vereinbarung. Was sagen Sie dazu?

T.K. - Wir haben grundsätzlich ein offenes Haus; wenn wir daheim sind, stehen wir gerne zur Verfügung!

[Ein solches – im Extremfall 24/7 offenes Haus – ist heute eine Seltenheit geworden. Diese Haltung gegenüber ihrer Gemeinde hat der Pfarrfamilie Koelliker in Weiach zweifellos etliche Positivpunkte beschert.]

R.B. - Ihr Beruf ist weitgehend eine Arbeit ohne Echo, ohne "sichtbares" Ergebnis. Ist es nicht oft frustrierend, beispielsweise 8 Stunden an einer Predigt zu arbeiten, dann eine Stunde Konzentration während des Gottesdienstes, und dann ist alles verhallt, vorbei  niemand sagt ein Wort! Oder gibt es anderes, das Sie mehr belastet?

Kreativität nach Fahrplan. Die Angst vor dem leeren Blatt Papier

T.K. - Sicher ist das zum Teil frustrierend. Viel grösser ist jedoch der Druck, immer und immer wieder vor einem leeren Blatt zu sitzen mit dem Wissen, dass dieses Blatt bis zu einer bestimmten Stunde gefüllt sein muss, damit ich dann wieder in der Oeffentlichkeit sprechen kann. Es gibt einen dazupassenden Vers von Eugen Roth [1895-1976, deutscher Lyriker]:

«Ein Mensch sitzt kummervoll und stier
vor einem weissen Blatt Papier.
Jedoch vergeblich ist das Sitzen;
auch wiederholtes Bleistiftspitzen
[Schärft statt des Geistes nur den Stift.]
und der Zigarre bittres Gift,
Kaffee gar, Kannenvoll geschlürft,
den Geist nicht aus den Tiefen schürft,
worinnen er, gemein verlockt [korrekt: verbockt],
höchst unzugänglich einsam hockt. -
[Dem Menschen kann es nicht gelingen,
Ihn auf das leere Blatt zu bringen.]
Der Mensch erkennt, dass es nichts nützt,
wenn man den Geist an sich besitzt,
weil Geist uns ja erst Freude macht,
sobald er zu Papier gebracht.» -

[Das Gedicht trägt den Titel «Arbeiter der Stirn». Vollständiger Text nach lyricstranslate.com. Die Passagen in eckigen Klammern fehlen im Interview mit Pfr. Koelliker.]

Die Rolle der Pfarrfrau wandelt sich

Ich habe aber das grosse Glück, dass meine Frau mich in meinem Beruf sehr unterstützt, nicht unter ihrer Rolle als Pfarrfrau leidet und tatkräftig und fröhlich überall mitarbeitet, wo es nötig ist. Dass dies heute keineswegs mehr eine Selbstverständlichkeit ist, zeigt u.a. der betreffende Artikel im "Kirchenboten", Nr. 8.

[Wie man der Autobiographie von Louise Griesser Patteson entnehmen kann (vgl. u.a. WeiachBlog Nr. 1497), war das Rollenbild der Pfarrfrau früher wesentlich fester gefügt. Die damalige Gesellschaft erwartete von ihr aber auch nicht, eine eigene ausserhäusliche Karriere verfolgen zu sollen, so wie das die heutige tut. Ihre Karriere war die soziale Führungsrolle in der Gemeinde, ähnlich der einer First Lady.]

R.B. - Wir sprachen vorher von den belastenden Seiten in ihrem Beruf. Gibt es noch andere?

T.K. - Ja; sagen wir dem einmal die "seelischen Wechselbäder": Es ist durchaus denkbar, dass ein Tag mit einem Abdankungsgespräch in einem Trauerhaus beginnt, dann folgt eine Schulstunde mit halbwüchsigen, problemgeladenen Schülern, nach dem Mittagessen ein Spitalbesuch oder ein Seelsorgebesuch, dann ein Trau-Gespräch im Pfarrhaus und abends noch eine Sitzung. Dazwischen läutet es noch 3x an der Haustüre und 8x am Telefon. Den ganzen Tag zuhören, umstellen, da-Sein, entgegennehmen, oder leiten und unterrichten  und dann ist meine Frau auch noch da ....!

«Work-Life-Balance»

R.B. - Damit kommen wir zur Freizeit, zu allfälligen Steckenpferden in der freien Zeit ...

T.K. - Offizieller "Freitag" ist der Montag. Richtig freie Montage sind aber an einer Hand abzuzählen, da alle Pfarrkapitel und derartige Veranstaltungen (Seminarien, Weiterbildung) an Montagen stattfinden. Und die Schulstunden und der Konfirmandenunterricht müssen auch vorbereitet sein! Gerade weil ich in meinem Amt nie "fertig" bin mit der Arbeit, ist es nötig, sich ab und zu freie Zeit zu nehmen, um Distanz zu bekommen zum Amt und zum Studierzimmer. Meine freie Zeit widme ich gerne Büchern (über Geschichte), oder dem Fotografieren.

R.B. - Wie steht es mit den freien Sonntagen?

T.K. - Im Jahr sind es 4 freie Sonntage und insgesamt 4 Wochen Ferien.

Zürcher Disputation 84

R.B. - Haben Sie ein bestimmtes Projekt, das sie in der Gemeinde in absehbarer Zeit verwirklichen möchten?

T.K. - Wie im "Kirchenboten" zu lesen war, hat der Kirchenrat die Absicht, anlässlich der Jubiläumsfeier der Reformation erneut eine Disputation durchzuführen wie seinerzeit Ulrich Zwingli: Diese aktive Auseinandersetzung  Teil der Schweiz[erischen] evangelischen Synode (SES) ergibt hoffentlich auch in unserer Gemeinde den Rahmen, um in Gruppen über unsere vielfältigen Probleme nachzudenken. In dieser Disputation mitzudenken und mitzuarbeiten sind alle, die Alten wie aber auch die Jungen herzlich eingeladen.

Weiach, 24. August 1983
R. Brandenberger

Das Ziel der beiden Zürcher Disputationen vom Januar und Oktober 1523 war es, die Differenzen, die durch Ulrich Zwinglis Predigten ab 1519 unter den Gläubigen entstanden waren, in offener Aussprache auszudiskutieren. Danach folgte dann der formelle, 1525 gefällte Entscheid, die Reformation einzuführen und die Messe abzuschaffen.

Koelliker nimmt hier Bezug auf die Zürcher Disputation 84 (vgl. StAZH Z 5.5653), in der – diesmal von jedermann – öffentlich über religiöse Fragen diskutiert (oder eben disputiert) werden konnte.

Der genannte Jubiläumsanlass war nicht die Zürcher Reformation an sich, die sich ab 1519 zu entfalten begann, sondern das Geburtsjahr Ulrich Zwinglis, 1484. Die Schweizerische Evangelische Synode bestand von 1983 bis 1987.

Quelle und Literatur
  • Brandenberger, R.: Unter uns... Pfarrer Thomas Koelliker. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, September 1983 – S. 16-19.
  • Brandenberger, U.: Weiacher Pfarrerzählung (WPZ). Kombinierte Liste nach allen Quellen. (Ab 1520, d.h. inklusive Kaplane nach katholischem Ritus vor der Reformation). Unveröffentlicht, erstellt Oktober 2018.

Freitag, 22. Mai 2020

Vom Umgang mit Respektspersonen

«Der Pfarr Herr, wie er auf die Canzel und der Straße gehet». So beginnt die Beschreibung unter diesem Bild aus einer Kupferstich-Sammlung von Johann Andreas Pfeffel, die er 1750 in Augsburg unter dem Titel «Schweitzerisches Trachten-Cabinet» herausgegeben hat. Sie folgt gleich nach der Darstellung eines Ratsherrn aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.


Beide, Ratsherr wie Pfarrherr, tragen eine weisse Halskrause, dazu einen hohen schwarzen Hut, sowie einen schwarzen Mantel über einem Gehrock. Die Botschaft ist unmissverständlich: das ist eine Respektsperson. 

Im 19. Jahrhundert haben die offiziellen Amtstrachten nicht mehr ganz so pompös ausgesehen wie noch ein Jahrhundert früher. Gewisse Elemente dürften sich aber gehalten haben, wie man an der Beschreibung von hohen Seidenhüten sieht, welche die Vorgesetzten der Gemeinde noch um 1860 getragen haben müssen (vgl. WeiachBlog Nr. 1498, Abschnitt: Amtsträger sassen im Chorgestühl).

Der Unterschied zum Normalsterblichen war unverkennbar und für das gemeine Volk ist die Amtstracht ein Hinweis darauf, wie diese Person zu behandeln sei. Nämlich mit grossem Respekt.Was selbstverständlich auch den Kindern von klein auf beigebracht wurde.

Der Fauxpas zeigt, was sich schickte

Aus der Autobiographie von Louise Griesser Patteson (1853-1922) konnte WeiachBlog seit Mitte April schon etliche Müsterchen zitieren, die direkten Bezug auf das Dorfleben Mitte des 19. Jahrhunderts haben. So auch in den nachstehenden Fällen, an denen man exemplarisch ablesen kann, welche Erwartungshaltung bezüglich Anstandsregeln vorherrschte:

«One rainy day I was playing alone. I had made several trips to the brickyard for clay, and my shoes were muddy, the strings untied and trailing. While I had my hands in the “dough,” along came the Herr Pfarrer down the road toward our house.»

Beim Genannten dürfte es sich um Pfr. Johann Ludwig Schweizer (1855-1865 in Weiach) gehandelt haben, der aus dem Pfarrhaus (Büelstrasse 17) auf die Strasse trat und sich nach Nordwesten begab. Das Elternhaus von Louise Patteson dürfte die heutige Liegenschaft Büelstrasse 10/12 gewesen sein.

«Now in a Swiss village Herr Pfarrer is the most august personage. Whenever a child meets him, a respectful curtsy and proffer of the right hand is in order. I wiped my muddy hands on my apron and extended my right with the usual greeting, “God greet you, Herr Pfarrer”. As I did so I happened to think of my disreputable-looking shoes, and, forgetting all about the dignity and loftiness of Herr Pfarrer, I held up a foot and asked him to tie the string. I think the Reverend gentleman must have been touched by the innocence and spontaneity of my request, for he did smilingly stoop without a moment’s hesitation and tie both of my shoes. I can to this day see the dark streaks which those muddy strings left across the backs of his white hands. When he had finished he took out his immaculate handkerchief and wiped them off.»

Man stelle sich das vor: der Herr Pfarrer wurde also (wie heutzutage nur noch Würdenträger allerhöchsten Ranges) mit einem Knicks und den Worten «Gott grüezi, Herr Pfarrer» begrüsst. Das (nach dem Abwischen der als weiss beschriebenen Pfarrerhände) nicht mehr so makellose Nastuch hat offensichtlich einen tiefen Eindruck hinterlassen. Der Vorgang war ja auch bemerkenswert: der Würdenträger bückte sich, um einem kleinen Mädchen die Schuhe zu binden.

Man kann es mit dem Grüssen auch übertreiben

Wer einmal Militärdienst gemacht hat, der kennt das: Vorgesetzte wollen gegrüsst sein. Und so kommt es dann, dass man als höherer Offizier (besonders auf Waffenplätzen mit Rekruten) dauernd den Arm heben und die Hand zum Gruss an die Mütze halten muss. Mit der Zeit belastet das den rechten Ellbogen und nervt dann doch etwas. Bei allem Respekt und Verständnis für die erwiesene Reverenz.

Ähnliches widerfuhr Pfarrer Schweizer vor Louise Pattesons Elternhaus (Büelstrasse 10), von wo diese Hobelspäne zum Brennholzlager (wohl in Büelstrasse 12) tragen musste, während er sich mit ihrem Vater unterhielt:

«On another occasion I was busy carrying shavings from our carpenter’s work-bench into the wood-shed. Herr Pfarrer had stopped to talk with my father, and I had to pass them every trip, both going and coming. It had been so forcefully impressed upon me that Herr Pfarrer must be greeted in the proper way whenever you pass him, that I stopped every time to curtsy and to proffer my hand, until finally Father told me I was excused.»

I am sure I should not remember these incidents were it not for the fact they were common gossip. I had to hear about them from time to time until we left for America.»

Gerade der letzte Abschnitt zeigt, warum sich die Autorin noch an diese beiden Vorfälle erinnert. Und in welcher Form die Erinnerung in ihr Gedächtnis gelangte. Nämlich auch und gerade über den Umweg der Neckereien Dritter, die sich über ihre kindlichen Anstands-Fehltritte belustigten. Die musste sie sich bis zur Abreise in die USA im Oktober 1867 immer wieder anhören.

Quellen
  • Pfeffel, J. A.: Schweitzerisches Trachten-Cabinet oder allerhand Kleidungen, wie man solche in dem löblichen Schweitzer-Canton Zürich zutragen pflegt [E-Helvetica Schweizerische Nationalbibliothek. nbdig-26228, PDF, 26.17 MB] – S. 3.
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 28-30.
  • Brandenberger, U.: Kirchensitzordnung nach Geschlecht, Amt, Zivilstand und Alter. WeiachBlog Nr. 1498 v. 26. April 2020.
[Veröffentlicht am 23. Mai 2020 um 16:08 MESZ]

Donnerstag, 21. Mai 2020

Kunststrasse hat schweren Stand gegen dörfliche Überlieferung

Was eine «Kunststrasse» ist? Nein, mit bildenden Künstlern nach heutigem Verständnis haben die nichts zu tun. Dafür viel mit Ingenieurskunst. Der Begriff bezeichnet eine Strasse, die auf dem Reissbrett geplant und in die Landschaft gelegt wurde. Man hätte sie auch «künstliche Strasse» nennen können. Also eine, die nicht nach und nach aus den Gewohnheiten der Menschen heraus entstanden ist. Solche von Fusswegen zu Fahrwegen ausgebaute Strassenverbindungen hatten oft den Nachteil, dass sie steile Passagen aufwiesen, die den Verkehr behinderten.

Steigungen entschärfen

Schauen wir uns die alte Zürichstrasse von Weiach in Richtung Seebach an. Sie beginnt beim Gasthof Sternen, führt über die Büelstrasse auf die Oberdorfstrasse, zweigt dann rechts ab auf die heutige Alte Post-Strasse. Das nun folgende Teilstück, die Bergstrasse, führt mit einer doch ziemlich starken Steigung bis auf die Anhöhe, wo die heutige Bebauung endet und die Landschaft wieder von Einzelgebäuden geprägt wird. Diese alte Strasse schwang sich am Westhang oberhalb der heutigen Stadlerstrasse wie eine Girlande in Richtung Oberraat, wo die heutige Bannacherstrasse den alten Verlauf der Zürichstrasse aufnimmt, die hier Kaiserstuhlerstrasse genannte Kunststrasse quert und schliesslich als Alte Landstrasse nach Unterraat führt. Und auch da findet sich zwischen den beiden historischen Ortsteilen ein recht steiles Strassenstück. Die Kunststrasse entschärfte diese Steigung.

Eine Folge der liberalen Staatsumwälzung

Wie die Reform des Schulwesens (die u.a. zum sogenannten Stadlerhandel führte, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 114) war auch der Ausbau des Strassennetzes ein Projekt der 1831 an die Macht gekommenen Progressiven. Im August 1844 war es für die Strecke Seebach-Weiach-Kaiserstuhl so weit.

StAZH PLAN S 385 (Ausschnitt)

Mit Tinte, Grafitstift und Aquarellfarben zeichnete Ingenieur Ludwig Pestalozzi die Linienführung der neuen Strasse durch das Weiacher Oberdorf ein. Eine schnurgerade Linie von oberhalb der Mühle bis zur Vereinigung mit der alten Landstrasse an der Einmündung der Chälenstrasse.

Ein weiterer Ingenieur, David Hüni aus Riesbach, erstellte im Mai 1845 den Ausführungsplan, der schon wesentlich detaillierter daherkommt und auch für alle von der neuen Strasse betroffenen Parzellen die Grundeigentümer auflistet.

Mitten durch die Gärten hinter den Häusern!

Der untenstehende Ausschnitt zeigt die Situation an einem heute zentralen Punkt im Dorf. Dort, wo die Oberdorfstrasse in die Stadlerstrasse mündet. 

Die rot bezeichnete Nr. 45 ist das Baumgartner-Jucker-Haus (heute im Besitz der Gemeinde Weiach). Die rote Nr. 43 (Oberdorfstrasse 2) ist das Wohnhaus der oberen Amtsrichter, der Zuname eines Zweiges der Familie Baumgartner, die dort seit über 200 Jahren ansässig ist. Der verstorbene Mann der dort wohnhaften aktuell ältesten Weiacherin, Martha Baumgartner (*1923), war unter dem Zunamen Amtsrichters Edi bekannt. Die Nr. 39 wurde mittlerweile bereits zweimal durch einen Neubau ersetzt. Ab 1931 durch eine Scheune und später durch ein modernes Mehrfamilienhaus (Oberdorfstr. 6/8).

Die Nummer 119 südwestlich des eingezeichneten Trassees der neu zu bauenden Strasse ist das heutige Alte Schulhaus (1836 eingeweiht). Die Nr. 42 gehört Erwin Griesser (Stadlerstrasse 12) und wie man sieht, haben die Vorbesitzer wegen der Kunststrasse einen guten Teil ihres Gartens verloren.

StAZH PLAN S 386 (Ausschnitt)

Die von Ingenieur Hüni mit den Nummern 9 und 10 bezeichneten, vom Bauvorhaben betroffenen Parzellen, sind heute die Grundstücke Weiach-352 und Weiach-353. Nr. 9 gehörte den Gebrüder Willi, genannt Dekers. Die Nr. 10 ist auf PLAN S 386 auf Rudolf Meierhofer Schuster eingetragen.

Relative Bezeichnungen orientieren sich an der alten Landstrasse

Kommen wir noch einmal auf das Gebäude Nr. 43 der oberen Amtsrichters zurück. Der Haupteingang liegt auf der Nordostseite. Denn dort führte die alte Landstrasse vorbei. Nach Südwesten waren nur die Gärten der Nachbarn. Die Nordost-Richtung ist also «vor-use» und auf der entgegengesetzten Seite liegt «hine-use».

Diese Bezeichnungen sind nicht auszurotten, da mag die Kunststrasse mittlerweile auch bald 175 Jahre alt sein. Wie mir gestern eine Angehörige dieser Familie bestätigte, ist und bleibt die Seite Stadlerstrasse (auf der man eine beeindruckende Sammlung von Kakteen bewundern konnte) im Sprachgebrauch all derjenigen, die dort einmal wohnten «hine-use». Kunststrasse hin oder her.

Montag, 18. Mai 2020

COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich.

Erinnern Sie sich? Am 28. Februar diesen Jahres ging es mit den Virusbekämpfungs-Erlassen aus Bundesbern los. Die erste Verordnung war noch kurz und bündig, verhängte ein schweizweites Verbot von Grossveranstaltungen mit über 1000 Personen bis zum 15. März und sah so aus:
COVID-19-Verordnung Nr. 1 vom 28. Februar 2020

Was danach kam, wissen wir. Der ganz grosse Hammer. Die Proklamation der «Ausserordentlichen Lage». Lockdown. Gegossen in die COVID-19-Verordnung 2 vom 13. März 2020. Mittlerweile ist die 16. Revision in Kraft. Lockerungen werden gewährt. Wirtschaftliche, politische und gesundheitliche Kollateralschäden begutachtet. Und die Corona-Saga geht weiter.

Gegen die Pestilenz aus Marseille und der Enden

Vor fast genau 300 Jahren hatte Mitteleuropa ebenfalls mit einer Seuche zu kämpfen, die von Süden kam. Die Zürcher Regierung sah sich genötigt, ausserordentlich gesetzgeberisch tätig zu werden. Sie erliess am 19. August 1720 ein Mandat, das als Einblattdruck erschien, öffentlich angeschlagen und von allen Kanzeln durch die Pfarrherren verlesen werden musste. Das sah dann so aus:

Mandat der Stadt Zürich betr. Massnahmen gegen die Pest aus Marseille vom 19. August 1720

Schon wesentlich umfangreicher für einen ersten Erlass. Dieses mutmasslich von Heidegger & Rahn gedruckte Blatt der Stadtschreiberkanzlei im Format 45 x 35 cm ist im Staatsarchiv des Kantons Zürich unter der Signatur: StAZH III AAb 1.8, Nr. 91 zu finden. Es wird nachstehend im Volltext zitiert und kommentiert.

Grussformel

«Wir Burgermeister und Rahte der Stadt Zürich: Entbieten allen und jeden Unseren Angehörigen zu Stadt und Land / Unseren gönstigen gnädigen Willen / und darbey zuvernemmen;»

Diese Formel, mit kunstvoll ornamentierten Initialen versehen, steht so oder ähnlich am Beginn jedes Mandats, das sich wie eine Ansprache an die Untertanen richtete. Viele hörten es ja auch nur, wenn es in der Kirche vorgelesen wurde. Vor den eigentlichen Gesetzesartikeln, die aber (wie hier) nicht immer nummeriert wurden, wird die Veranlassung erläutert und die danach erlassenen Gebote und Verbote dadurch in den Kontext gestellt:

Erwägungen

«Daß nachdeme Uns von verschiedenen Orthen haro / die versicherte und bedaurliche Bericht eingeloffen / wie daß auß sonderbahrer Verhängnuß Gottes / eine leidige gefährlich-ansteckende Pest-Krankheit zu Marseille in Provençe eingeschlichen; Wir aus wahrer Lands-Vätterlicher Sorgfalt / und Vergaumung Unsers lieben Vatterlands vor dergleichen schwehren Ohngemach / nach dem Exempel anderer / zwüschent Marseille und uns gelegnen Herrschafften und Länderen bewogen worden / Unsere vormahls in Truck gefertigete Sanitets-Anstalten hiermit von Neuem wiederum heraußzugeben / und gewohnter Orthen zu Jedermänniglichs Verhalt anschlagen zulassen :»

Eingeschlichen hatte sie sich tatsächlich, denn die ganze Malaise war nur entstanden, weil Kaufleute die Verantwortlichen im Marseiller Hafen bestochen hatten, um die Quarantäne zu umgehen. Man sieht auch schön, dass sich die Zürcher an den Erlassen anderer Staaten orientierten. So läuft das heute ja auch. Man kann nicht handeln, als wäre man allein auf einer Insel. 

Und die Zürcher Regierung erläutert hier auch, weshalb der erste Erlass zum Thema Marseiller Pest bereits einen stattlichen Umfang aufweist: da gab es bereits Vorlagen von früheren Seuchen-Zügen.

Nun folgen die eigentlichen Vorschriften, eingeleitet mit der Formel «ernstlicher Befehl, Will und Meinung»:

Art. 1  Briefe und Pakete ausräuchern

«Gestalten dann Unser ernstlicher Befehl / Will und Meinung ist / daß fürohin keine von denen inficierten und verdächtigen Orthen ankommende Brieffschafften und Pacquets, so nicht erforderlicher massen beräucheret / sollen abgenommen / oder eröffnet / auch keine derselben / ohne daß man sie von neuem wiederum beräuchere weiters versendet werden.»

Art. 2  Kontrolle über ankommende Waren und Personen

«So danne solle die unter denen Stadt-Pforten und auf denen Gränzen bestellte Commissarii bey Eydtlicher Pflicht auf die ankommende Persohnen / Wahren und Güter geflissene Aufsicht haben;»

Die Grenzen wurden also nicht dichtgemacht, aber alles Hereinkommende sollte kontrolliert werden.

Art. 3  Verbot der Wareneinfuhr aus Marseille und Umgebung

«Wie dann Unser fehrner-ernstliche Befehl und Meinung dahin gehet; daß weder Wollen / Baumwollen / Syden / Leinin Gezeug / Fäder / Beltz / noch alle andere Wahren / was Gattung selbige immer seyn möchten / auß denen inficierten Orthen sollen durchgelassen :»

Offensichtlich war man der Meinung, dass das die Seuche auslösende Übel in den genannten Warenkategorien zu finden sei. Das war dann später auch der Grund für weitergehende Massnahmen, die eigentlich bereits in Marseille hätten stattfinden sollen (vgl. Weiacher Geschicht(n) Nr. 9 und 10).

Art. 4  Erfolgreiche Quarantäne wird erwartet

«Denenjenigen Persohnen und Wahren aber / so auß verdächtigen Orthen ankommen / der Durchpaß nicht anderst verstattet werden / als so fehrn sie mit authentischen Sanitets-Zeugnussen / daß sie an gesunden oder ohnverdächtigen Orthen die Quarantaine außgehalten / versehen.»

Vorerst war die Zürcher Regierung noch der Meinung, dass mittels Begleitdokumenten die anderswo ausgestandene Quarantäne belegt werden könne.

Art. 5  Gesundheitsatteste sind zwingend

«Es sollen auch sonsten alle Reisende Persohnen / von was Stands und Alters die wären / mit erforderlichen Gesundheits-Scheinen / daß sie von gesunden Orthen harkommen und passiert / versehen seyn :»

Auf diesen Dokumenten musste letztlich der ganze Reiseweg mit Unterschriften von Funktionären der durchreisten Gebiete dokumentiert werden. Sonst riskierte man, an der Zürcher Grenze abgewiesen zu werden.

Das erinnert schon etwas an die gerade aktuelle Diskussion über COVID-19-Immunitätsnachweise. So verhandeln aktuell offenbar die EU-Tourismusminister darüber, den Nachweis des Corona-Immunitätsstatus zur Bedingung für grenzüberschreitendes Reisen im Schengen-Raum zu machen. Und da die Schweiz Schengen-Mitglied ist, läuft das letztlich wohl auf einen auch hierzulande auszustellenden Impfpass hinaus.

Art. 6  Fremde Strolche und Bettler abschieben

«Alles frömbde Strolchen- und Bättel-Gesind / und andere verdächtige ohnbekannte Landläuffling aber / selbige haben gleich Päß oder nicht / von denen Dorffwachten / mit allem Ernst ab- und zuruckgewisen / und nach dem Innhalt Unsers letsthin publicierten Bätteljägi-Mandats / von Wachten zu Wachten bis auf die Gränzen weggeführet werden:»

Auch der Evergreen der zürcherischen Mandate darf hier natürlich nicht fehlen, denn die unkontrollierten Wanderungsbewegungen des Lumpenprekariats waren den Gnädigen Herren (und ihren Untertanen) schon in normalen Zeiten ein Dorn im Auge. Da wurden regelmässig Bettler-Jagden veranstaltet und die aufgescheuchten Fremden dann per Schub von Dorfwache zu Dorfwache bis an die Grenze geleitet. Da konnte sich dann der Nachbarstaat ihrer erfreuen.

Art. 7  Verkehrsbeschränkung

«Zu dem End die gemeinen Landstrassen allein gebraucht / und alle nebent-Strassen und Beyweg verbotten und beschlossen seyn;»

Von besonderer Bedeutung ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Verkehrs von fremden Personen und Waren auf die Hauptachsen. Das galt nicht nur für die Bettlerfuhren. Auch die auswärtigen Kaufleute mussten sich daran halten. Nebenstrassen durften bei Strafe nicht genutzt werden.

Art. 8 Strafbestimmungen

«Und so jemand wider diseres Verbott / sich erfrechen thäte / sich selbsten oder auch Wahren von was Gattung selbige immer wären / durch solche nebent-Weg durchzutringen / solche nicht nur von Niemandem beherberget / sondern auf betretten / je nach Beschaffenheit an Leib und Guth werden gebüßt werden.»

Hier steht nun zwar nicht, dass man auch beim illegalen Benutzen von Hauptstrassen bestraft werde. Aber die Gnädigen Herren zu Zürich gingen wohl davon aus, dass die an den Grenzübergängen Ankommenden zumindest nicht unbemerkt durchschlüpfen könnten.

Interessant ist, dass hier auch die Gastwirte in die Pflicht genommen werden, denn diese Strafbestimmung verlangt letztlich die Überprüfung der Reisepässe von Übernachtenden auf ordnungsgemässe Einträge.

Schlussformel

«Gleichwie Wir nun nicht zweiflen / es werde durch sothane Verordnung / das Land / durch die mitwürkende Krafft Gottes fehrnerhin bewahret / und vor dergleichen Landsverderblichen Plagen verschohnet bleiben; Also wollen Wir auch Jedermänniglich zu deren gehorsammer und geflissner Beobachtung bey Hoch-Oberkeitlich zugewarten habender Straff und Ungnad / verwahrnet haben.»

Auch diese Formel ist in ähnlicher Form in jedem Mandat vorhanden. Es wird die Hilfe Gottes angerufen und dann den Untertanen noch einmal eingebläut, dass Verstösse gegen das eben Verkündete Konsequenzen haben.

Datumsangabe und Herausgebervermerk

«Geben Montags den 19. Tag Augstmonat / von der Gnadenreichen Geburth Christi unsers Herren und Heilandes gezellt / Eintausent / Siebenhundert und Zwanzig Jahre. -- Cantzley der Stadt Zürich»

Herrn lic. phil. Christian Sieber vom Projekt e-RQZH des Staatsarchivs des Kantons Zürich sei hiermit herzlich für die Erstellung und Zusendung einer Aufnahme des Erlasses gedankt.

Sonntag, 17. Mai 2020

Weiacher Postkutschenromantik aus erster Hand

«Die alte Postkutschenromantik – das gab es nämlich auch durch unser Dorf» habe mit der Eröffnung der Eisenbahnlinie Winterthur-Koblenz im Sommer 1876 aufgehört, schreibt Walter Zollinger in seiner 1972 publizierten Dorfchronik. Liest man etwas weiter, dann erfährt man gleichenorts auch, dass diese Postkutsche ein ziemlich kurzzeitiges Phänomen war: sie verkehrte nämlich nur zwischen dem 1. Juni 1852 und dem 31. Juli 1876, nicht einmal ein Vierteljahrhundert.

An diesem 1. Juni 1852 übernahm der Gemeindeschreiber Rudolf Meierhofer die Funktion des Posthalters und die seit 1842 bestehende Postablage wechselte ihren Standort von der Oberdorfstrasse an die Stadlerstrasse, heute Alte Post-Strasse 2 (Schmid, S. 53).

Dort, beim Restaurant zur Post, hielt auch der zweiplätzige Postkutschenwagen der auf der Linie Kaiserstuhl-Zürich-Kaiserstuhl verkehrte (ab der Eröffnung der sogenannten Herdöpfelbahn nach Bülach am 1. Mai 1865 nur noch auf der Strecke Kaiserstuhl-Niederglatt).

Diesen Postwagenkurs hat die junge Louise Griesser Patteson (1853-1922; 1867 in die USA ausgewandert) noch selber erlebt, denn sie war oft bei ihrer Tante Elisabeth, die mit dem oben erwähnten Posthalter Rudolf Meierhofer verheiratet war:

«I liked most of all to go to Aunt Elizabeth, my father’s younger sister. Her husband was the village postmaster. Now the Swiss Federal Railroad brings the mail and passengers to Weiach; but in those days a stage-coach brought them. There were always some children present to watch it come and go, for it was driven by a gaily uniformed postilion, with horses in glittering harness; and he used to play lively airs on his bugle as they galloped through the village, and on toward the little town of Kaiserstuhl.» (Patteson, S. 9-10)

Den Morgenkurs werden diese Kinder wohl nicht bewundert haben, denn der ging bereits um 5 Uhr früh in Kaiserstuhl ab, war um 7 Uhr 50 in Zürich, ging von dort um 16 Uhr wieder ab und muss jeweils kurz nach 18 Uhr 30 in Weiach eingetroffen sein.

Leider hat die Autobiographie Pattesons keine Tonspur. Es wäre interessant zu hören, welche Signale der Postillion auf seinem Horn geblasen hat.

Quelle und Literatur
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 9-10.
  • Zollinger, W.: Weiach 1271-1971. Dielsdorf 1972 [PDF, 4.53 MB] – S. 65-66.
  • Schmid, E.: Postgeschichte Bezirk Dielsdorf. Philatelie und Heimatkunde. Windlach 2008 – S. 53-55.

Donnerstag, 14. Mai 2020

Hohe Übersterblichkeit anfangs des 18. Jahrhunderts

Das Gebiet des Zürcher Stadtstaates war vor etwas mehr als 300 Jahren noch so etwas wie heute ein Entwicklungsland am Ende der Weltrangliste. Mit hoher Kindersterblichkeit und – besonders was die ärmeren Bevölkerungsschichten betrifft – häufig prekären Verhältnissen bei der Lebensmittelversorgung.

Ein Problem, das querbeet auftrat

Unterschied zu heute: Die Kindersterblichkeit war auch in sonst gutgestellten Familien des städtischen Bürgertums (wie den einflussreichen Escher zum Glas) ein grosses Problem. Nur ein Beispiel von vielen: Hans Conrad Escher (1651-1711), der Begründer des in der Geschichte der Zürcher Seidenindustrie massgebenden Zweiges der «Escher zum Wollenhof». Von seinen fünfzehn Kindern wurden ganze sechs älter als fünf Jahre! (vgl. die Stammtafel der Escher zum Glas, Nr. 72)

Anhand der sterblichen Überreste einer mit ca. 35 Jahren verstorbenen Frau, die im aufgegebenen alten Friedhof im Weiacher Oberdorf bei Ausgrabungen gefunden wurden, kann festgestellt werden, dass auch die überlebenden Kinder Schädigungen davongetragen haben: «Sind, wie hier, die Frontzähne befallen, müssen im Alter zwischen zwei und sieben Jahren Ernährungsmängel oder starke Krankheiten das Wachstum des Körpers beeinflusst haben.» (Vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 120, Gesamtausgabe S. 515).

Tragekapazität des Bodens erreicht

Für die Gemeinde Weiach gilt, dass die Bevölkerungszahl spätestens im 17. Jahrhundert eine quasi natürliche Grenze erreicht hatte (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 8). Die Ertragskapazität des Bodens liess sich nicht beliebig vermehren, jedenfalls nicht mit der damaligen Form von Landwirtschaft. Andere Einkommensquellen gab es kaum. Man musste also von dem leben, was die Natur hergab.

Oder eben in der Fremde sein Glück suchen, wie dies nachweislich Ende des 17. Jahrhunderts (um 1690) ganze Weiacher Familienverbände in kurzer Zeit in die Tat umsetzten. Auch im ganzen 18. Jahrhundert war der Auswanderungsdruck hoch. Da konnten die Pfarrherren noch so sehr von der Kanzel obrigkeitliche Gegenpropaganda verbreiten (vgl. WeiachBlog Nr. 1503). Manch eine(r) hielt es da im Zweifel mit den Bremer Stadtmusikanten aus Grimms Märchen, die sich sagten: «Etwas Besseres als den Tod findest du überall».

466 Tote von 1700 bis 1718

In den von Walter Zollinger mehrfach verwendeten Aufzeichnungen von Pfr. Ernst Wipf (in Weiach von 1903 bis 1907) findet sich in einem Heftumschlag mit der Aufschrift «Aus den Konstanzer Regesten» (gemeint sind wohl die ab 1895 erschienenen Bände der Regesta Episcoporum Constantiensium, REC) auch anderes Material, das aus dem Weiacher Pfarrarchiv bzw. Kirchgemeindearchiv stammt.

So z.B. eine Aufstellung über die Anzahl Todesfälle von 1700 bis 1718. Aufaddiert wurden in diesen 19 Jahren insgesamt 466 Beerdigungen, davon 84 allein in den Jahren 1706 und 1707. Da hat es vor allem Kinder getroffen.

Auch wenn man diese beiden Jahre herausrechnet, ergibt sich immer noch eine hohe Sterblichkeit von über dem Dreifachen dessen, was man Mitte des 20. Jahrhunderts in Weiach gezählt hat. Und das bei einer von der Anzahl Köpfe her ziemlich vergleichbaren Bevölkerung.


Diagramm: Vergleich der Anzahl Todesfälle 1700-1718 (Weiacher Totenbuch) mit 1952-1966 (Jahreschroniken Zollinger).

In den 15 Jahren von 1952 bis 1966 sind lediglich 110 Personen gestorben, was einen Jahresschnitt von 7.33 ergibt. Verglichen mit 24.53 zum Beginn des 18. Jahrhunderts gab es damals eine Übersterblichkeit von 234 Prozent!

Quelle und Literatur
  • Keller-Escher, C.: Fünfhundert und sechzig Jahre aus der Geschichte der Familie Escher vom Glas. 1320-1885. Festgabe zur Feier des fünfhundertsten Jahrestages ihrer Einbürgerung zu Zürich. II. Theil: Genealogie der Familie Escher vom Glas. Nach urkundlichen Quellen mit Benutzung älterer Familienstammbücher, der genealogischen Arbeiten auf der Zürcherischen Stadtbibliothek und der städtischen Register zusammengestellt und bis auf die neueste Zeit fortgeführt. Zürich 1885. Vgl. e-rara.ch.
  • Aufzeichnungen Pfr. Wipf. Umschlag «Aus den Konstanzer Regesten». Loseblattsammlung, unpaginiertes Blatt. [Weiach, zw. 1903 u. 1907]. Archiv des Ortsmuseums Weiach, ohne Signatur.
  • Zollinger, W.: Jahreschroniken 1952-1967. Abschnitt Von Lebenden und Toten. Handschriftenabteilung Zentralbibliothek Zürich, Signatur: G-Ch Weiach 1952 ff.
  • Brandenberger, U.: 1000 Einwohner – Weiach durchbricht eine «Schallmauer». Weiacher Geschichte(n) Nr. 8 (erstmals erschienen in: MGW, Juli 2000).
  • Brandenberger, U.: Mangelernährung in der Kindheit. Was die Gräber auf dem alten Friedhof im Oberdorf erzählen. Weiacher Geschichte(n) Nr. 120 (erstmals erschienen in: MGW, November 2009).
  • Brandenberger, U.: Wider die verbotene Begierde, nach Preussisch-Pommern zu ziehen. WeiachBlog Nr. 1503 v. 4. Mai 2020.

Dienstag, 12. Mai 2020

Gedruckte Karten etablieren neue Kultur der Höflichkeit

Mit der Amtszeit von Pfarrer Stünzi in Weiach (1866-1896) änderten sich die gesellschaftlichen Gepflogenheiten im Dorf. Beeinflusst durch das Beispiel seiner Ehefrau kamen Gratulations- und Kondolenzkarten bei Lebensereignissen auf. Das berichtet Louise Griesser Patteson (1853-1922) in ihrer Autobiographie When I was a girl in Switzerland.

Die Glückwunschkartenindustrie ist auch heute (in Zeiten mit einem wesentlich breiteren Angebot an Kommunikationskanälen) noch ziemlich bedeutend. Acht bis neun Grusskarten sollen pro Person und Jahr verschickt werden (vgl. Wikipedia).

Den Brauch, der betroffenenen Familie zu kondolieren oder bei Verlobungen, Hochzeiten und Geburten dem Paar zu gratulieren, kannte man wohl früher schon. Allerdings ohne die schriftliche Form. Die kam per Kulturtransfer aus der Stadt:

«Another innovation which was introduced by our Frau Pfarrer was the use of printed cards for social occasions. For use at funeral services, for instance, it was a card with a black border bearing the owner’s name. Every one in attendance left such a card on a tray provided for the purpose, and any absentees used the same card to express their sympathies. By this means the bereaved family knew who had been present.

Other cards introduced by the Frau Pfarrer were of a cheerful kind: congratulations on engagements, on weddings, and on births, etc. These cards worked a complete revolution among the villagers in their feelings toward each other. Some who had harbored petty jealousies or grudges began to watch for opportunities to use their cards in order to express some felicitation. Incidentally these simple innovations tended to increase the church attendance and to stimulate the religious life in the whole village.» (S. 130-131)

Diese letztere Bemerkung kann nicht mehr der persönlichen Beobachtung der Autorin entspringen, da sie bereits im Oktober 1867 mit ihrer Familie in die USA ausgewandert ist. Sie beruht eher auf Einschätzungen, die von anderen Dorfbewohnern oder der Pfarrfamilie selber stammen.

Quellen und Literatur
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 130-131.
  • von Zur Westen, W.: Vom Kunstgewand der Höflichkeit. Glückwünsche, Besuchskarten und Familienanzeigen aus sechs Jahrhunderten. Otto von Holten, Berlin 1921.
  • N.N.: Beleidskarte schreiben. In: Bestattungsplanung.de [Zugriff am 12.5.2020]

Montag, 11. Mai 2020

Das Harmonium als Grund, wieder in die Kirche zu gehen

Dieser mittlerweile 15. Artikel der WeiachBlog-Reihe über die Autobiographie When I was a girl in Switzerland von Louise Griesser Patteson (1853-1922, vgl. WeiachBlog Nr. 1487 für eine Einführung) behandelt erneut kirchliche Themen.

Das kulturelle Leben einer Landgemeinde war Mitte des 19. Jahrhunderts noch stark durch den Pfarrer und (sofern vorhanden) seine Ehefrau geprägt. Das Verhältnis der jungen Luisa zur Respektsperson Herr Pfarrer war aufgrund der grossen Distanz im sozialen Status nicht so eng wie das zur jeweiligen Pfarrfrau.

Frau Pfarrer Schweizer (bis 1865 in Weiach) hat Luisa Griesser, die als Halbwaise ohne leibliche Mutter aufwuchs, schon früh unter ihre Fittiche genommen. Sie lernte dort das, was junge Mädchen bei ihrer Mutter lernen (beispielsweise Handarbeit). Auch zur Ehefrau des Nachfolgers des unerwartet im Amt verstorbenen Pfarrers Schweizer hatte sie ein enges Verhältnis.

Pfr. Stünzi war bei seinem Amtsantritt im Jahre 1866 noch ledig, muss aber relativ kurz danach geheiratet haben (ähnlich wie Pfr. Schweizer 1855). Die erste Begegnung mit der «new Frau Pfarrer» wird von Louise Griesser Patteson im Detail geschildert (S. 125-127).

Ihren Ausführungen zufolge hat diese Pfarrfrau danach vielfältige Impulse ins kulturelle Leben der Gemeinde eingebracht: «Soon after our new Frau Pfarrer came, some changes took place in our church and village life.» (Patteson, S. 127)

Nachstehend zwei der ihr zugeschriebenen Neuerungen, welche die Kirchenmusik betreffen:

Der letzte Vorsinger und seine Stimmgabel

«Up to the time our new Frau Pfarrer came, the grammar school teacher had led the church singing. He sat just in front of the baptismal font and faced the congregation. After a hymn was given out he took a tuning-fork from his pocket, gave it a shake, then from its vibrations he would catch the correct note and start the hymn, the congregation following.» (Patteson, S. 129)

Es war traditionell der Dorfschullehrer, der das Amt des Vorsingers innehatte. Der letzte, der dieses Amt ausübte, war der Lehrer der Mittelstufe (4.-6. Klasse); gemäss Maurer 1966 muss es sich beim erwähnten Vorsinger um Lehrer Schneider handeln (im Amt ab 1865), der sich für die Übernahme dieser Verpflichtung im Vergleich zu seinen Vorgängern fürstlich entlohnen liess.

Noch 1838 war für das Vorsingeramt gesetzlich eine Mindestbesoldung von 24 Franken pro Jahr vorgesehen. Bis 1864 hatte sich der Ansatz in Weiach bereits bis auf 60 Franken erhöht. Und offenbar war das Amt derart unbeliebt, dass Lehrer Schneider mit 100 Franken entschädigt werden musste (Maurer, S. 5)! Gut möglich, dass diese Entwicklung mit dazu beitrug sich nach Alternativen umzusehen.

Effektvolle Neuerung: ein Harmonium

«Es war am 3. Juni 1866, als der Stillstand nach vollendetem Gottesdienst zusammentrat. Der Präsident überraschte die Kirchenpfleger mit dem Vorschlag, für die Kirche Weiach ein Harmonium anzuschaffen.» (Maurer, S. 5)

Maurer erweckt hier den Eindruck, dass der Impuls für die Anschaffung eines Harmoniums von Kirchenpflegepräsidenten kam. Folgt man allerdings Patteson, dann scheint der Anstoss eher von Seiten der Pfarrfrau gekommen zu sein:

«The first of Frau Pfarrer’s innovations was a harmonium. It resembled a large flat-topped desk, but was really a church organ. Frau Pfarrer played it at both the church and Sunday School services to the great delight of us children. But we were not the only ones who delighted in that organ. Men who had not been inside of a church for years now became regular attendants.» (Patteson, S. 129-130)

Es sei nun dahingestellt, ob die höhere Bereitschaft der Männer zum Gottesdienstbesuch den musikalischen oder doch eher den optischen Qualitäten der Pfarrfrau geschuldet war.

Vom Kirchenschiff auf die Empore

Nach den Aufzeichnungen von Maurer bildete sich nach der Stillstandsversammlung vom 3. Juni eine Harmoniumkommission, welche Anfang September in der Kirche Dielsdorf ein dort neu aufgestelltes Instrument hörte und sich offenbar für ein solches Modell entschied. (Maurer S. 5)

Da die Ermächtigung der Kirchenpflege zur Kreditaufnahme von 1200 Franken für ein Trayser-Harmonium gemäss Maurer aber erst am 20. Dezember 1866 erteilt wurde, dürfte die Anschaffung und das erste Erklingen des neuen Instruments in die ersten Monate des Folgejahres (1867) gefallen sein.

Interessanterweise wird der von Patteson geschilderte Umstand, dass Frau Pfarrer Stünzi das Harmonium gespielt und damit den Gottesdienstbesuch wesentlich attraktiver gemacht habe, von Maurer überhaupt nicht erwähnt. Nach seinen Ausführungen übernahm der bisherige Vorsinger die Organistenstelle: «Lehrer Schneider spielte bis Mitte 1867 das Harmonium und wurde durch Lehrer Müller abgelöst, der bis 1878 den Dienst versah.» (Maurer, S. 6)

Das Harmonium stand zuerst im Kirchenschiff und wurde erst 1872 auf die Empore versetzt (Maurer, S. 6). Dort blieb es dann bis Anfang der 1930er-Jahre.


Quellen und Literatur
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 127, 129-130.
  • Maurer, E.: Eine neue Orgel für die Kirche Weiach. Kirchenpflege Weiach. Weiach, 1966. 11 S.

Sonntag, 10. Mai 2020

Der Wandspruch in der Weiacher Kirche blieb in Erinnerung

Jer 17, 12-14. Diese Bibelverse prangen seit 50 Jahren als Wandspruch im Innern der Weiacher Kirche (vgl. WeiachBlog Nr. 248 für weiterführende Informationen).

Dass das Gotteswort einen zentralen Platz in einer reformierten Kirche einnimmt und andere Schmuckelemente nur sehr zurückhaltend verwendet werden, das gehört sozusagen zum Erbgut protestantischer Glaubensgemeinschaften. «Sola scriptura» ist seit einem halben Jahrtausend eins ihrer wichtigsten Prinzipien.

Schriftliches bleibt besser hängen als Gesagtes

Anknüpfend an die Beiträge WeiachBlog Nr. 1487 bis 1499 fahren wir nun weiter mit Ausschnitten aus der Autobiographie When I was a girl in Switzerland von Louise Griesser Patteson (1853-1922), die 1867 in die USA ausgewandert war, ihr Heimatdorf aber nie vergessen hat.

Schriftliches hat schon die junge Luisa Griesser fasziniert. Sie hat nach eigenem Bekunden alles verschlungen, was ihr in die Hände kam - auch «sob-stuff» (frei übersetzt: Dienstmädchen-Literatur oder pädagogisch eingefärbt: Schundliteratur; vgl. WeiachBlog Nr. 1497).

Es ist daher kaum verwunderlich, dass sie sich zwar an den Bibelvers an der Kirchenwand erinnern kann, nicht aber an die Worte des Herrn Pfarrer in der Sonntagsschule, die offenbar noch weitgehend nach alter Väter Sitte als Kinderlehre geführt wurde. Samt Predigt von der Kanzel:

«We had what passed as a Sunday School in our church, but it was a very formal service compared with what Sunday Schools are here. Herr Pfarrer, robed in his black gown, talked to us from the chancel away up a flight of stairs. I do not remember one word that he ever said from that lofty eminence. The one remembrance that I have of my connection with our village church is a verse of Scripture that was printed in huge letters on the church wall:

The Fear of the Lord is the Beginning of Wisdom

I remembered this so vividly on the occasion of my first visit to my home village after an absence of thirty years, that I missed it. There was another verse in its place.
» (S. 123-124)

Daraus kann man nun schliessen, dass Louise Patteson erst nach 1897 erstmals wieder in Weiach zu Besuch war. Und inzwischen hatte offenbar eine Innenrenovation zu einer Veränderung des Bibelverses geführt (zu dieser Renovation ist dem Schreibenden bislang nichts bekannt).

Der noch aus den 1860er-Jahren in Luisas Erinnerung bewahrte Spruch kann aus verschiedenen Büchern der Bibel stammen.

Nimmt man die King-James-Bibel als Grundlage, dann kommt vor allem Sprüche 1,7 in Frage: «The fear of the LORD is the beginning of knowledge: but fools despise wisdom and instruction.» Die Zürcher Bibel übersetzt diesen Vers mit: «Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis, Toren verachten Weisheit und Unterweisung.»

Es könnte sich aber auch um Sprüche 9,10 gehandelt haben: «The fear of the LORD is the beginning of wisdom: and the knowledge of the holy is understanding.», in der Zürcher Bibel übersetzt mit: «Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des HERRN, und das Erkennen des Heiligen ist Verstand.»

Die dritte Möglichkeit ist Psalm 111, Vers 10: «The fear of the LORD is the beginning of wisdom: a good understanding have all they that do his commandments : his praise endureth for ever.», wo die Zürcher Bibel die Übersetzung «Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des HERRN, heilsame Einsicht für alle, die so handeln, sein Ruhm bleibt für immer bestehen.» gewählt hat.

Quellen und Literatur
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 123-124.

Freitag, 8. Mai 2020

Auch dank der Armee am Kriegsende verschont geblieben

Heute, am 8. Mai, ist der 75. Jahrestag des offiziellen Endes der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs in Europa. Walter Zollinger schreibt dazu in seiner 1972 erschienenen ortsgeschichtlichen Monografie (4.53 MB):

«Wie unendlich froh war man allseits, als anfangs Mai 1945 die alliierten Truppen (Franzosen) von Waldshut herkommend, im benachbarten Hohentengen einrückten! Alles atmete auf, als jenseits des Rheins auf dem Schloss Röteln, am Kirchturm und am Amtshaus von Hohentengen, aber auch an manchem Privathaus weisse Fahnen oder gar Leintücher auftauchten! Bedeutete dies doch für unsere Bevölkerung diesseits des Grenzflusses das baldige Ende der schweren Grenzbesetzungsjahre. Mit Glockengeläute verkündete man in allen Gemeinden ringsum den ersehnten vermeintlichen Frieden. Auf diesen warten wir allerdings heute noch; kam es doch am historischen bedeutsamen Treffen der beiden Kriegsparteien in Reims bzw. Berlin nur zu einer Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation des geschlagenen Deutschlands, also höchstens zu einem Waffenstillstandsvertrag.» (S. 72)

Dazu seien hier ein paar Anmerkungen gemacht.

Bei den erwähnten Truppen handelte es sich wohl um Kolonialverbände der 1. Französischen Armee, die «Rhin et Danube» genannt wurde und unter dem Oberkommando des Generals Jean de Lattre de Tassigny stand. Zur ordre de bataille dieses Grossen Verbandes vgl. rhin-et-danube.fr

Nach der einschlägigen Literatur zu schliessen, die in einem Wikipedia-Artikel zum Kriegsende im Südschwarzwald ausführlich besprochen wird, haben die ersten Einheiten Waldshut und schliesslich auch Hohentengen sowie Erzingen (an der Grenze zum Schaffhauser Klettgau) am 25. April 1945 erreicht. Die Mitteilung, dass die Franzosen Waldshut passiert haben, dürfte das Signal für das Hissen der erwähnten weissen Tücher gewesen sein.

Nero-Befehle umsetzen oder nicht?

Noch am 31. März 1945, als sich die Franzosen bei Speyer mit einem Brückenkopf rechtsrheinisch festsetzten, hat der für das Land Baden und das Elsass zuständige NSDAP-Gauleiter Robert Wagner (ein enger Mitstreiter Hitlers) allen «verbrecherischen Elementen» mit Standgerichten gedroht, wenn sie bei «Annäherung des Feindes weisse Fahnen zeigen würden». Er verlangte zudem, dem Prinzip der verbrannten Erde folgend, alle Infrastruktureinrichtungen zu zerstören, um den Vormarsch der Alliierten zu behindern. [Hintergrund war der Nerobefehl Hitlers vom 19. März 1945]

Andere bisher glühende Anhänger des nationalsozialistischen Regimes haben dem aktiv entgegengewirkt, so beispielsweise SS-General Georg Keppler. Ihm wurden nach der Etablierung von Brückenköpfen durch die Alliierten im Raum Strassburg am 14. April 1945 die zwischen Offenburg und Basel befindlichen Einheiten der sich auflösenden 19. deutschen Armee unterstellt. Keppler machte sich als erfahrener Heerführer über den sehr limitierten Kampfwert dieses sogenannten XVIII. SS-Armeekorps keine Illusionen. Das bestand nämlich im Wesentlichen aus Rest-Divisionen der Wehrmacht, sowie Einheiten von Volkssturm, Zollgrenzschutz und Festungstruppen. Gegen die Panzerdivisionen der 1. französischen Armee hatten die keine Chance.

Den Nero-Befehlen aus Berlin widersetzte Keppler sich konsequent, zog am 16. April die Verteidigung von Freiburg im Breisgau ab und versuchte seine Einheiten quer über den Schwarzwald nach Osten zurückzuziehen. Und offenbar gelang es ihm kraft seiner SS-Stellung auch, die lokalen Parteigrössen von vielen Dummheiten (wie sie Gauleiter Wagner verlangte) abzuhalten.

Weil die Schweizer Regierung aber offenbar nicht mit einem SS-General verhandeln wollte (wie sein der Wehrmacht angehörender Stabschef später berichtete) und die Franzosen bereits am 21. April von Norden her bis zum nördlichsten Zipfel Schweizerboden bei Bargen vorgedrungen waren, überliess Keppler am 26. April bei Blumberg seinen unterstellten Kommandanten die Entscheidung zur Kapitulation, wobei einige offenbar erfolgreich unterhandelten und mit ihrem Stab oder gar dem ganzen Verband in die Schweiz übertreten konnten. Keppler wagte mit einigen tausend Freiwilligen den Durchbruch ins Allgäu und setzte sich mit seiner Führungsstaffel nach Oberbayern ab.

Kriegsverbrechen französischer Kolonialtruppen

Für die Schweiz kam der Zusammenbruch des deutschen Widerstandes im Gebiet des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg nicht überraschend. Am 4. April hatten die Franzosen Karlsruhe erobert, am 16./17. April gelang ihnen nach heftigen Kämpfen mit der 19. deutschen Armee die Einnahme von Freudenstadt. Danach verwüstete eine plündernde und vergewaltigende Soldateska den Ort. Erst nach zwei Tagen sei es den französischen Offizieren gelungen, die Truppen wieder zur Räson zu bringen. Von diesen Kriegsverbrechen wird in der französischen Geschichtsschreibung der 1. Armee bezeichnenderweise nicht berichtet.

Am 21. April marschierten die Franzosen in Stuttgart ein (was die Amerikaner ziemlich ärgerte), bereits am 24. April standen ihre Kampfverbände vor Ulm. Und am 28. April hatte der Vorstoss von «Rhin et Danube»-Einheiten den Bodensee bei Friedrichshafen, Lindau und Bregenz erreicht. Am 29. April war der Krieg in Südwestdeutschland faktisch beendet.

Vorstoss dem Rhein entlang

In unserer Nachbarschaft stiessen die französischen Kolonialtruppen (Marokkaner und/oder Algerier), die noch am 23. April im Raum Lörrach standen, rasch vor. Bereits am 25. April erfuhr man in Erzingen (an der Grenze zum Schweizer Klettgau), dass diese Verbände Waldshut passiert hätten. Kurz darauf dürften die ersten Aufklärungseinheiten den Ort erreicht haben. Am 28. April wurde Erzingen dann regulär besetzt.

Dass es diese Operation dem Rhein entlang überhaupt gegeben hat, das war Schweizer Verbindungsoffizieren zu verdanken: General de Lattre de Tassigny schreibt, er habe ursprünglich keinen Vorstoss entlang des Hochrheins geplant, doch «(gaben) im Verlauf der freundschaftlichen Besuche, welche die Offiziere der Schweizer Armee meinem Befehlsstand regelmäßig abstatteten, [..] diese ihrem Wunsch Ausdruck, daß unsere Truppen so bald wie möglich zum Rhein, zwischen Basel und Schaffhausen erscheinen möchten, um der Unantastbarkeit ihrer Grenze eine größere Garantie zu gewähren.» De Tassigny befahl dementsprechend am 21. April das Vorrücken entlang dem Rhein über Waldshut bis zur Schweizer Grenze bei Blumberg. [Quelle: Riedel]

Man konnte ja nicht wissen, was dieser SS-General noch alles vorhatte. Und mit diesem Zangenangriff wurde das (vermeintliche) SS-Armeekorps eingekesselt.

Im operativen Vorfeld der Schweiz blieb es mehrheitlich ruhig. Einzig hart an der Grenze zum Kanton Schaffhausen, im Raum des Wutachtals und von Fützen und Blumberg fanden heftige Kämpfe statt, die auf deutschem Gebiet grössere Zerstörungen anrichteten.

Die Zivilbevölkerung muss gehen?

Auch in Hohentengen und im Jestetter Zipfel rückten die Franzosen kampflos ein. Letzteren musste die Zivilbevölkerung jedoch nach einigen Tagen verlassen, da dem französischen Oberkommando der Grenzverlauf zu unübersichtlich war und man in den dortigen Wäldern noch versprengte deutsche Soldaten vermutete. Auf die ebenfalls ergangene Anordnung, entlang der gesamten Schweizer Grenze einen Korridor von fünf Kilometern komplett zu räumen, kamen die Franzosen nach Fürsprache durch den Apostolischen Nuntius in Paris, Giuseppe Roncalli (dem späteren Papst Johannes XXIII.), wieder ab.

Dissuasive Wirkung der Schweizer Armee

Und die Schweizer Armee? Was war deren Beitrag?

Was immer wieder passiert, wenn man auf eigenem Territorium keine militärische Gegenkonzentration mit genügender Abschreckungswirkung aufbauen kann, das zeigt die Geschichte zur Genüge. Nach dem Zusammenbruch des Ancien Régime wurde die Schweiz 1799/1800 sowie 1814 zum Kampfplatz fremder Armeen oder zu ihrer Durchmarschachse.

Auch im Zweiten Weltkrieg war es für beide Kriegsparteien, die Alliierten wie die Achsenmächte, wichtig zu wissen, dass die Schweiz keinem von beiden einen Flankenangriff ermöglichen würde, es sei denn man sei gewillt ihn mit sehr hohem Blutzoll zu erkaufen.

Eine sichere Flanke ist einiges wert. Nur so ist es zu verstehen, dass die im Oktober 1944 aufgestellte 24. deutsche Armee im Wesentlichen eine reine Kadertruppe war und blieb und ihren Auftrag «einen möglichen Vormarsch der Alliierten über die neutrale Schweiz zu verhindern» gar ausführen konnte. Aber auch nicht musste. Den Planern im Oberkommando der Wehrmacht war die Dissuasion der Neutralität glaubhaft genug.

Hätte die Schweizer Armee die Grenze nicht besetzt und damit SS-General Keppler sich ohne Probleme auf Schweizer Territorium zurückziehen können, wer weiss welche Kollateralschäden die Schweizer Zivilbevölkerung hätte erleiden müssen. Es ist deshalb etwas sehr billig, den Stellenwert der Armee im Rahmen der Gesamtverteidigung kleinzureden. Natürlich war und ist sie nur ein sicherheitspolitischer Baustein von vielen. Aber ein unverzichtbarer.