Sonntag, 28. Juli 2019

Wenn die Mächtigen sich aus der Verantwortung stehlen

In diesen Tagen schliessen die von Gemeinwesen in der Eidgenossenschaft als Festredner geladenen Honoratioren die Vorbereitungen für ihre Bundesfeier-Reden ab. Themen wie Moral, Identität, Vaterlandsliebe, soziale Gerechtigkeit, Zusammenhalt oder gar Begriffe wie «Volksseele» werden da gewälzt und abgewogen.

Die letztjährige Weiacher Bundesfeierrede hielt bekanntlich die damalige Nationalrätin Natalie Rickli (vor wenigen Monaten zur Zürcher Regierungsrätin gewählt). Bei ihr ging es um die Frage der Identität. Anhand von Gottfried Kellers Schriften skizzierte sie, wann man als Schweizer gelten kann und wann eben nicht. Rickli setzte damit den Zuhörenden die Brille des 19. Jahrhunderts auf. Beunruhigte sie aber nicht weiter.

Rückblende in die Zeit der Völkerwanderung

Eine ähnliche Sichtweise (wenn auch eine etwas aufwühlendere) will dieser Beitrag vermitteln - als eine Art vorgezogener Denkanstoss für den diesjährigen 1. August. Und zwar, indem er einem spätantiken Autor, dem Kirchenlehrer Salvian von Marseille, eine Plattform bietet.

Von Salvians Schriften ist im Wesentlichen sein Hauptwerk überliefert, das unter dem Titel «De gubernatione Dei» (Von der Regierung Gottes) bekannt wurde (antike Autoren gaben ihren Werken in der Regel selbst keine Titel). «In ihm schildert Salvian um 450 die Drangsale der damaligen Zeit im Zeichen der Vorsehung und interpretierte die Probleme dieser Jahre als Strafe Gottes für den sündigen Zustand von Gesellschaft und Kirche. Das Werk verzerrt aufgrund dieser Wirkungsabsicht vieles ins Negative, weshalb die heutige Forschung Salvians Angaben in der Regel nicht mehr für bare Münze nimmt. Dessen ungeachtet ist der Text aber eine Hauptquelle für die Kultur- und Sozialgeschichte Westroms.» (aus dem Wikipedia-Artikel über Salvian)

Nach solcher Kritik könnte man nun kommentarlos zur Tagesordnung übergehen. Sehen wir uns aber trotzdem an, was dieser Angehörige der römischen Führungsschicht, der aus Trier bzw. Köln, d.h. aus dem Raum des heutigen deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen stammte, uns als Zeitgenosse des kompletten Zerfalls des Weströmischen Reiches zu sagen hat.

Der Staat wird von den Reichen ausgeplündert

Der Verständlichkeit halber greifen wir auf die Übersetzung von Johann Ferdinand Huschberg, einem Archivar und Gelehrten im Königreich Bayern um 1840, zurück:

«Wer könnte, ruft er [Salvian] aus, jenes räuberische Verfahren und jene Schandthat gehörig schildern, daß während das römische Reich schon einem Leichname gleicht, oder doch schon in den letzten Zügen liegt, und während es dort, wo noch einige Lebensfunken sich zeigen, durch Erpressungen hingewürgt wird, dennoch sehr viele Reiche gefunden werden, deren Abgaben die Armen tragen müssen? Als jüngst einigen Städten Nachlässe bewilligt wurden, was bewirkten sie anders, als alle Reichen völlig steuerfrei zu machen, und die Abgaben des Gemeinen zu erhöhen? - Was anders, als jenen die alten Steuern abzunehmen, und diesen auch die neuen aufzubürden? - Was anders, als jene durch Befreiung auch von den kleinsten Abgaben zu bereichern, diese aber durch Auflegung der allerschwersten niederzudrücken. 

Das Schlimmste ist, daß die grössere Zahl der Bevölkerung von der kleinern geächtet wird, welcher die öffentlichen Steuern zur außerordentlichen Beute werden, und von der die Anforderungen des Staates in Titel des Privatgewinnstes umgeschaffen werden, und dieses thun nicht bloß die Angesehensten, sondern auch die Geringsten, nicht bloß die Richter, sondern auch deren Diener. Wo sind wohl noch Städte, Municipien oder Orte, wo nicht eben so viele Tyrannen sind, als sie Machthaber zählen? [...] Die Verderbnis hat einen solchen Grad erreicht, daß nur noch der Schlechte dem Elend entgehen kann.» (Huschberg, S. 459-460)

Man kann es kaum drastischer schildern. Aber selbst wenn man nur einen Bruchteil dieser Aussagen für wahr hält, zeichnen sie doch ein verheerendes Bild der Entsolidarisierung.

Fragen des Zusammenhalts stellen sich in Zeiten epochaler Umbrüche (wie wir sie ebenfalls gerade erleben) in erhöhter Dringlichkeit. Sie akzentuieren sich vor allem dann, wenn an der staatstragenden Basis der begründete Eindruck aufkommt, «die da oben» würden sich nur noch um ihren eigenen Profit kümmern, alle Lasten zunehmend dem Mittelstand aufbürden und auf der Ebene der Unterschicht im besten Fall noch deren Perspektivenlosigkeit verwalten lassen.

Kurz: Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren. Und das, indem man den Staat kapert, ihn als Brechstange verwendet und als Selbstbedienungsladen missbraucht. Es versteht sich fast von selbst, dass ein derartiges Vorbild der Eliten zu Sittenzerfall in der gesamten Gesellschaft führt, ja führen muss.

Die Kurzfassung des Problems findet sich in der Übersetzung von Huschberg einige Zeilen weiter vorn: «Die vom Staate übertragene Gewalt schien nur noch der Plünderung wegen und zwar zunächst der weniger Vermöglichen vorhanden zu seyn; denn die hohen Ehrenstellen wurden von einigen Wenigen erkauft, um sie aus dem häuslichen Ruine Aller zu bezahlen, während diesen alle Erwerbsquellen abgeschnitten waren.» (Huschberg, S. 457-458)

Wo hinein soll man sich integrieren?

In dieses langsam in sich zusammenfallende Imperium strömten seit Jahrhunderten Angehörige von anderen Stämmen, von den Griechen und später den Römern «Barbaren» genannt. Das Imperium Romanum hatte seine Strahlkraft nicht zuletzt dadurch erlangt, dass auch die ehemals Besiegten in den Provinzen am römischen Pragmatismus, den Segnungen römischer Verwaltung und Rechtspflege und der nicht zuletzt dadurch prosperierenden Wirtschaft teilhaben konnten. Die eigenen Gepflogenheiten der neu Hinzugekommenen amalgamierten sich wechselseitig mit denen der imperialen Macht. Und: um Kaiser zu werden, musste man nicht Bio-Römer sein.

Wenn sich aber ein solches Imperium nun nicht mehr auf eine gesunde Basis von gelebten Werten stützen kann, in die hineinzuwachsen sich als etwas höchst Erstrebenswertes darstellt, wenn nur noch Unsicherheit herrscht und die Mächtigen und deren Führungskräfte sich nicht mehr an Moral, Recht und Gesetz glauben halten zu müssen, in was hinein sollte man sich dann integrieren?

Das fragten sich wohl auch die Alamannen, die mit den romanisierten keltischen Stämmen über Jahrhunderte in Nachbarschaft lebten. Die eigenen Sitten und Gebräuche, die eigenen moralischen Grundlagen des Zusammenlebens erschienen ihnen höherwertig. Und so haben sich die Alamannen von der Assimiliation abgeschottet und ihre eigene Kultur bewahrt, nicht zuletzt indem sie es ablehnten, in Städten zu leben (vgl.: Die Alamannen – ein Fall verfehlter Integration. WeiachBlog Nr. 169 vom 22. April 2006).

Die moralische Nivellierung zeigt sich, wenn Salvian feststellt, die Römer befänden sich in einer weit kläglicheren Lage als alle anderen Völker. Und das habe seinen Grund «in der moralischen Verdorbenheit der Römer selbst. Offen zählte er die Hauptgebrechen mehrerer Völker auf, und verglich selbe dann mit jenen seiner Landesgenossen. Die Sachsen seyen allerdings ein wildes und grausames Volk, aber von bewunderungswürdiger Reinheit der Sitten; die Allemannen hätten den großen Fehler, dem Trunke ergeben zu seyn; die Franken seyen treulos und lügenhaft, dabei aber sehr gastfrei.» (Huschberg, S. 460-461)

Atomisierung vs. moralischer Kompass

Bei allen Fehlern dieser Nicht-Römer: wenn es um den inneren Zusammenhalt ging, dann hatten die eben aufgezählten barbarischen Stämme gemäss Salvian die weit besseren Karten. Erneut zitiert nach Huschberg:

«Der wechselseitige unter dem Volke herrschende Haß stand mit der gegenseitigen Anhänglichkeit der sogenannten Barbaren in scharfem Contraste. Gegenseitige Zuneigung und Anhänglichkeit war bei diesen unter Allen zu finden, die eines Volkes waren und unter demselben König standen, während fast alle Römer sich wechselseitig verfolgten. Der gesellschaftliche Umgang unter ihnen, einst hoch gerühmt, war so tief gesunken und verdorben, daß sogar die Gothen und Vandalen bereits weit über ihnen standen. In welchem Punkte, fragte Salvian seine Landesgenossen, übertreffen wir sie, oder in welchem könnten wir uns ihnen auch nur gleichstellen?» (Huschberg, S. 461-462)

Atomisierung einer zivilisierten Gesellschaft und deren Folgen bei direkter Konfrontation mit traditionellen Stammesstrukturen. So könnte man das in heutigen Worten auf den Punkt bringen.

Überschaubare Gemeinwesen wie die Schweiz haben grössere Chancen, den moralischen Kompass nicht so komplett zu verlieren wie ein grosses Imperium. Sie müssen sich jedoch ihrer eigenen Werte immer wieder gewahr werden, diese im Lichte der wechselnden Zeitläufe richtig interpretieren. Und sich dann konsequent gegen die Vereinnahmung durch schrankenlose Selbstbereicherung Mächtiger vorsehen und fortgesetzt dagegen vorgehen, indem sie ihre Werte leben und verteidigen.

Um die Grundlage dieser Fähigkeit, den Kompass zu halten, im Geiste des eingangs erwähnten Gottfried Keller auf den Punkt zu bringen: Das geht nur, wenn der Bürger «imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt» (Züricher Novellen, Kap. 30). Und vor allem: wenn er bereit und in der Lage ist, dann auch entsprechend zu handeln. Selbst, wenn es den Mächtigen nicht gefällt.

Quellen und Literatur

Freitag, 5. Juli 2019

Badische Behörden wollen Auskunft über verhaftete Vagantin

Das Grossherzogtum Baden entstand ab 1802 im Zuge der durch Napoleon angestossenen Umgestaltung der Staatenlandschaft im Raum des heutigen Deutschlands. Dazu gehörte das Oberamt Waldshut (mit Hohentengen unmittelbar nördlich von Weiach), sowie die Gegend zwischen Lörrach und Freiburg im Breisgau. Dort liegt die Kleinstadt Staufen im Breisgau, die von 1806 bis 1809 Sitz des Oberamts Staufen war.

Im Raum Staufen wurde eine 32-jährige Landstreicherin verhaftet, die mit einem Weiacher verheiratet war. Das kann man dem Regierungsratsbeschluss 1809/0869 vom 22. Juli 1809 entnehmen:

«Da es sich aus dem Bericht des Herren Bezirksstatthalter Angst vom 20sten dieß (den derselbe in Folge Auftrags vom 13ten dieß erstattet) und dem eingesandten Auszug aus dem Tauf- und Ehebuch der Gemeinde Stadel ergiebt, daß die zu Staufen, im Großherzogthum Baaden, verhaftete Vagantin, Elisabetha [sic!] Hauser von Stadel ihren eigenen Namen und auch die Namen ihrer Elteren dem Oberamt Staufen richtig angegeben hat, und daß sie den 9ten Merz 1777 getauft, und den 21sten May 1799 ihre Ehe mit Johannes Meyerhofer von Weyach eingesegnet worden, übrigens kein Vergehen, das sie sich in hießigem Canton hätte zu Schulden kommen laßen, bekannt ist, – so ist hievon dem gedachten Oberamte laut Mißiven rükantwortlich Notiz zu geben.» (Transkription durch Staatsarchiv des Kantons Zürich)

Ein Beschluss in einem einzigen Satz. Was man der Frau im Badischen vorgeworfen hat, ist nicht bekannt. Allenfalls sind im Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe Unterlagen des Oberamts Staufen erhalten geblieben, die darüber etwas erhellen.

Quelle
  • Kleiner Rat des Kantons Zürich (ed.): Antwort an das Baadische Oberamt Staufen, betreffend die dort verhaftete Elisabeth Hauser von Stadel. Regierungsratsprotokoll vom 22. Juli 1809 – S. 437-438. Signatur: StAZH MM 1.29 RRB 1809/0869