Freitag, 24. Februar 2023

Auf der «richtigen» Seite der Geschichte. Ein Kommentar.

Warum haben etliche Deutsche seit Monaten das Gefühl, diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu sein? Woher kommt diese plötzliche Kriegsbegeisterung von feministischen Aussenministerinnen und Wehrdienstverweigerern? Von Leuten, die noch vor anderthalb Jahren jegliche Ausfuhr von Kriegsmaterial in Kampfzonen strikt abgelehnt haben? Woher kommt die Wiederauferstehung des Furors, wie er 1999 die Serben getroffen hat? Obwohl selbst des Pazifismus unverdächtige Urgesteine wie Henry Kissinger (*1923) vor weiterer Eskalation warnen und Verhandlungen anmahnen?

Epigonen des Gustave Le Bon

Entscheidend ist die Propaganda. Die funktioniert im Kern immer gleich: über Massenpsychologie, die dann die Politik mitschwemmt, ob sie will oder nicht. Appliziert wird die Propaganda als tägliches Flächenbombardement aus sorgfältig formulierten Kernbotschaften, die ihre Wirkung direkt in den Emotionszentren entfalten. Die Prinzipien wurden vor nicht ganz 100 Jahren niedergeschrieben:

«Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau zu richten nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll. Handelt es sich aber, wie bei der Propaganda für die Durchhaltung eines Krieges, darum, ein ganzes Volk in ihren Wirkungsbereich zu ziehen, so kann die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Voraussetzungen gar nicht groß genug sein.

Je bescheidener dann ihr wissenschaftlicher Ballast ist, und je mehr sie ausschließlich auf das Fühlen der Masse Rücksicht nimmt, um so durchschlagender wird der Erfolg sein. Dies aber ist der beste Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Propaganda und nicht die gelungene Befriedigung einiger Gelehrter oder »ästhetischer« Schmachtaffen.» (S. 189)

«Die breite Masse eines Volkes besteht nicht aus Diplomaten oder auch nur Staatsrechtslehrern, ja nicht einmal aus lauter vernünftigen Urteilsfähigen, sondern aus ebenso schwankenden wie zu Zweifel und Unsicherheit geneigten Menschenkindern. Sowie durch die eigene Propaganda erst einmal nur der Schimmer eines Rechtes auch auf der anderen Seite zugegeben wird, ist der Grund zum Zweifel an dem eigenen Recht auch schon gelegt. Die Masse ist nicht in der Lage, nun zu unterscheiden, wo das fremde Unrecht endet und das eigene beginnt.» (S. 192)  

Steter Tropfen höhlt den Stein

«Nun ist aber Propaganda nicht dazu da, um blasierten Herrchen laufend interessante Abwechslung zu verschaffen, sondern um zu überzeugen; und zwar die Masse zu überzeugen. Diese aber braucht in ihrer Schwerfälligkeit immer eine bestimmte Zeit, ehe sie auch nur von einer Sache Kenntnis zu nehmen bereit ist und nur einer tausendfachen Wiederholung einfachster Begriffe wird sie endlich ihr Gedächtnis schenken.

Jede Abwechslung darf nie den Inhalt des durch die Propaganda zu bringenden verändern, sondern muß stets zum Schlusse das gleiche besagen. So muß das Schlagwort wohl von verschiedenen Seiten aus beleuchtet werden, allein das Ende jeder Betrachtung hat immer von neuem beim Schlagwort selber zu liegen. Nur so kann und wird die Propaganda dann einheitlich und geschlossen wirken.

Diese große Linie allein, die nie verlassen werden darf, läßt dann bei immer gleichbleibender konsequenter Betonung den endgültigen Erfolg heranreifen. Dann aber wird man mit Staunen feststellen können, zu welch ungeheuren, kaum verständlichen Ergebnissen solch eine Beharrlichkeit führt.» (S. 195)

Alleinschuld?

Jahrzehntelang sind den Schulkindern Wahrheiten eingetrichtert worden, die man nicht hinterfragen darf. Zum Beispiel die, Hitler-Deutschland habe am 1. September 1939 einen als unprovoziert geframten «Überfall auf Polen» veranstaltet. Man erkennt die einseitig gespurte Begriffsbildung. 

Kurzerhand übertüncht wird mit diesem Begriff, dass in den Jahren davor massgebende Kreise in Polen den Machthabern in Deutschland punkto Gesinnung und Methoden keineswegs nachstanden und sie in der kurzen Zwischenkriegszeit auf ihrem damaligen, wieder einmal neu zusammengestückelten Staatsgebiet andere Volksgruppen (Ukrainer, Weissrussen, Tschechen, Deutsche, Juden und etliche andere; immerhin ein Drittel der Einwohner) brutal drangsaliert haben (vgl. u.a. Schultze-Rhonhof). 

Ausgeblendet wird überdies, dass die Sowjetunion 16 Tage nach den Deutschen von der anderen Seite her ebenfalls in Polen einmarschiert ist. Und dass die daraus resultierende Vierte Polnische Teilung auf vorhergehenden geheimgehaltenen Absprachen basierte.

Alles völlig egal. Deutschland wird die Alleinschuld an zwei Weltkriegen trotzdem aufgebürdet. Die Geschichte hinter diesen Abläufen könnte und müsste auch und gerade in Geschichtsstunden viel differenzierter beschrieben und diskutiert werden. Stattdessen wird das Thema zu einer kulturellen Tabuzone erklärt, die Deutsche nicht ungestraft betreten dürfen. So löst man keine Probleme. Man züchtet sie im Stillen.

Im höllischen Fernsehzimmer wird applaudiert

Seit einem Jahr wird nun in den Massenmedien (auch in der Schweiz) Tag für Tag der Begriff «russischer Angriffskrieg [auf die Ukraine]» verwendet. Die gesamte Vorgeschichte und der eigene Anteil im unmittelbaren Vorfeld werden komplett ausgeblendet. Das muss auch so sein im Krieg. Denn die Russen sind ja jetzt (wieder) «die andern». Nicht «wir». Also ist man im Westen wie immer – und als Deutscher endlich wieder einmal – auf der «richtigen» Seite. 

Und auf der anderen Seite, im «Reich des Bösen» (dem Propagandabegriff Ronald Reagans für die Sowjetunion) funktioniert das mit der Propaganda ebenfalls wie am Schnürchen. Basierend auf denselben Prinzipien. Nur halt seitenverkehrt. Auch Putins Leute verkaufen ihren Untertanen die Story, sie seien auf der «richtigen» Seite.

Zum Einsatz kommen auf die jeweiligen Volksseelen angepasste Werkzeuge und Botschaften. Reaktivierung und Bewirtschaftung von transgenerationalen Traumata hüben wie drüben.

Die dafür matchentscheidenden Werkzeuge des Totalitarismus haben das Radiozeitalter problemlos überlebt. Auch das Fernsehzeitalter im Kalten Krieg. Heute werden das Internet, Social Media und Computergames weaponized, d.h. zu Kriegswaffen umgeformt. Und weiss Gott, was sonst noch alles.

So führen Bellizisten unsere Welt in den Untergang. Sie verachten Diplomaten und Staatsrechtslehrer zutiefst. Sie wollen keine Verhandlungen, sondern brauchen die Rhetorik von der Vernichtung des Gegners für ihre Agenda. Insofern ist Annalena Baerbocks «Versprecher» von der 360-Grad-Wende, die sie von Wladimir Putin fordert, eben kein Versehen. Dahinter steckt Absicht. Man braucht sein über Jahre aufgebautes Feindbild noch um die wahren Kriegsziele verwirklichen zu können.

Das Great Game auf dem globalen Schachbrett tritt propagandabefeuert auch in Europa wieder einmal in eine glutheisse Phase. Ein Krieg auf allen Operationslinien, inklusive der Energieversorgung und der Ernährungssicherheit. Es geht schliesslich um die Weltherrschaft.

Goebbels und sein sowjetisches Pendant applaudieren aus dem Jenseits, Hitler und Stalin begutachten die Szenerie mit Kennerblick. Und tun sich dabei an höllischem Popcorn gütlich.

Gewöhnlich gut unterrichtete Kreise der Unterwelt wollen wissen, dass sich auch Pol Pot und Mao sowie etliche der bereits von der Erdenbühne abgetretenen Führer des sogenannten «Wertewestens» regelmässig im Fernsehzimmer bei Adolf und Josef einfinden. Denn Adolf der Braune ist ein Experte. Von ihm stammen die Zitate im zweiten und dritten Abschnitt dieses Kommentars.

Quelle und Literatur

  • Auszüge aus der Erstausgabe 1925/27 von Adolf Hitlers Mein Kampf, zit. n. Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (Hrsg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band I, Kapitel 6. München 2022 – S. 189, 192 u. 195. -- [Diese Ausgabe gibt den Stil Hitlers am direktesten wieder. Die späteren Drucke, insbesondere die sog. Volksausgaben ab 1930 sind – so die Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe – bereits stilistisch stark überarbeitet.]
  • Polens Minderheiten 1920-1939. Auszug aus: Schultze-Rhonhof, G.: 1939 – Der Krieg der viele Väter hatte. 11. Auflage, LAU-Verlag, Reinbek 2019.
  • Karte Aufteilung Polens 1939 [Poland occupied by Nazi Germany (the Third Reich) and the USSR (21/10/1939-22/06/1941). Map version in black and white. Autor: Lonio17, reformatted as B&W by Poeticbent]

Dienstag, 21. Februar 2023

«Neu, freymüthig, wahr». Die Revolution 1798 in der NZZ

Bereits in den Jahren 1792 bis 1797 stand rund um die Eidgenossenschaft herum halb Europa in kriegerischem Aufruhr. Mit Folgen für die Zivilbevölkerung. Ein britischer Admiral drohte beispielsweise unverhohlen, die (nach dem verheerenden Erdbeben von 1755 wiederaufgebaute) portugiesische Hauptstadt in einen Aschenhaufen zu verwandeln, wenn man seine Flotte nicht mit Lebensmitteln versorgen wolle (ZFZ, 9.2.1798, S. 4).

Auf der Seite der anderen Konfliktpartei nahmen französische Agenten im Westen wie im Süden der Schweiz das Heft in die Hand und schafften in territorialer Hinsicht neue Fakten. Und das bereits vor dem offiziellen Ende des 1. Koalitionskrieges mit dem Frieden von Campoformio am 17. Oktober 1797:

«Napoleon hatte trotz zum Teil anders lautender Forderungen der Veltliner entschieden, das Veltlin als vierten Bund mit den Drei Bünden zu vereinigen, doch lehnten diese, wenn auch mit knapper Mehrheit, einen solchen Anschluss ab: 24 Gerichtsgemeinden stimmten gegen, 21 für eine Aufnahme des Veltlins, 14 waren unsicher und vier enthielten sich der Stimme. Am 10. Oktober 1797 gliederte daher Napoleon das Veltlin und die beiden Grafschaften in die Cisalpinische Republik ein.» (Historisches Lexikon der Schweiz, Artikel Veltlin)

Revolutionspropaganda und die wahren Hintergründe

Die Franzosen redeten zwar viel von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Aber eigentlich waren ihre Absichten ganz andere. Die Alte Eidgenossenschaft sollte erobert werden, um drei Ziele zu erreichen: 

1. Strategische Sicherung der Westflanke und der Alpenübergänge; 

2. Plünderung der Staatskassen insbesondere von Bern und Zürich zwecks Rekapitalisierung ihres nach dem Assignaten-Abenteuer (Papiergeld-Währung) in den Bankrott gegangenen Staates; sowie 

3. Ergänzung der Rekrutierungsbasis durch das eidgenössische Wehrkraftpotential.

Dem bewährten Revolutionsexport-Plan folgend ging es Schlag auf Schlag: Am 15. Dezember 1797 besetzen französische Truppen den südlichen Teil des Fürstbistums Basel (heutiger Berner Jura), es folgt am 17. Januar 1798 ein Volksaufstand gegen die Stadt Basel in Liestal, dann einer am 24. Januar gegen die Berner in Lausanne, in Martigny gegen die Oberwalliser am 28. Januar. Gleichentags setzen französische Truppen in Divisionsstärke über den Genfersee und besetzen das bernische Waadtland (die Berner Truppen müssen sich ob der Übermacht zurückziehen). In Aarau flammt der Aufruhr am 31. Januar auf. Am selben Tag erlebt Luzern eine Verfassungsänderung, am 1. Februar rumort es im Toggenburg, am 5. Februar in Zürich, am 6. Februar in Schaffhausen. Und am 14. Februar in der Landschaft St. Gallen (ehem. Fürstabtei).

«Der Einmarsch der französischen Truppen (Franzoseneinfall) in die Waadt im Januar 1798 stärkte die spätestens seit dem Stäfnerhandel fassbare revolutionäre Stimmung in der ländlichen Oberschicht vor allem in den Gemeinden am See, im Knonaueramt und im Zürcher Oberland. In der Erklärung vom 5. Februar 1798 anerkannten der Kleine und Grosse Rat die Freiheit und Gleichheit zwischen Stadt und Landschaft.» (Martin Illi im Historischen Lexikon der Schweiz, Artikel Zürich (Kanton))

Es kommt etwas in Bewegung - aber zu welchem Preis?

In der Zürcher Zeitung (genannt Freitagszeitung oder im Volksmund: Bürkli-Zeitung) vom 9. Februar 1798 werden die oben skizzierten Ereignisse geradezu erleichtert kommentiert: 

«Glüklich, Gott Lob! und so, wie man es von der edlen Denkungsart der biedern Schweizer nicht nur verhoffen, sondern sicher erwarten durfte, haben mehrere lobl. Cantone, und zwar namentlch: Zürich, Bern, Luzern, Freyburg, Solothurn, Schafhausen, Basel, St. Gallen, ihre bisherige Verfassung, gemäß dem Geist der Zeit, und zum Wohl des allgemeinen Besten, theils wirklich abgeändert, theils stehen sie im Begriffe der Abänderung. Und diese erfolgte bisanhin, und wills Gott fernerhin so ruhig, so friedfertig und mit solch gegenseitiger brüderlicher Liebe und Eintracht, daß alle sich feierlich entschlssen haben: Freye Schweizer zu bleiben; Freiheit und Gleicheit in bürgerlichen Rechten einzuführen; keine fremde Einmischung zu gestatten; gegen jeden äussern Feind bis auf den lezten Blutstropfen sich zu vertheidigen; und für die Sicherheit der Personen, so wie des öffentlichen und Privat-Eigenthums Einer für Alle und Alle für Einen zu stehen.

Die Verfügungen, welche Zürich bereits getroffen hat, gereichen diesem Stand zur Ehre, und wir machen es uns zur Pflicht, dieselben offiziell zur allgemeinen Kenntniß zu bringen.» (ZFZ, 9.2.1798)

Danach folgen seitenweise die seit den späten Januartagen erlassenen Dekrete und Entscheide. Eine bis dahin beispiellose Offenheit. Denn bis anhin unterlagen die Zürcher Verleger einem rigorosen staatlichen Zensursystem. 

Mit der Verteidigung bis zum letzten Blutstropfen war es dann allerdings nicht weit her. Am 27. April besetzten die Franzosen ohne Kampfhandlungen die Stadt Zürich.

Von der Zensur befreit kann man nun offen berichten

Die neue Geschäftspolitik der (gleichnamigen!) Konkurrenz an der Schipfe sowie anderer Verleger brachte die NZZ, gerade knapp volljährig geworden, unter Zugzwang, wollte sie ihre Leser nicht verlieren.

Am heutigen Datum vor 225 Jahren fasste auch der Redaktor der damals am Mittwoch und Samstag erscheinenden Zürcher Zeitung Mut und wagte den Sprung in die neue Epoche. 

Die faktische Umkrempelung der Machtverhältnisse am 5. Februar 1798 hatte die Limmatstadt tatsächlich in ihren politischen Grundfesten erschüttert und den Staub des Ancien Régime vom Alten Zürich weggeblasen. So viel war nach zwei Wochen klar.

Was dazu führte, dass aus einem Blatt, das bis dahin ausschliesslich Nachrichten aus dem Ausland brachte, mit einem Male eines wurde, das nun auch über die tagesaktuellen Ereignisse unmittelbar vor der eigenen Haustüre berichtete.

Anders als bei der Freitagszeitung wird die Veränderung im Zeitungskopf manifest und augenfällig. Unten die Ausgaben N° 14, 15 und 16: 


Das Symbol für die Auslandnachrichten, der Postreiter mit den Neuigkeiten aus aller Welt, ist hier zum letzten Mal auf dem Titelblatt zu sehen. Bereits die nächste Ausgabe sah so aus:


Noch eine Ausgabe später wurde der neue Auftritt durch ein Motto ergänzt:


Was es mit diesem Motto (gleich unter dem Wort Zeitung eingerückt) auf sich hat, das erklärt der NZZ-Redaktor gleich darunter und noch auf der Titelseite, versehen mit der Überschrift «Vorerinnerung»:

«Jetz da auch der Stand Zürich Freyheit u. Gleichheit als Grundgesetze seiner künftigen Staatsverfassung anerkannt hat, und die Augen der Landeseinwohner sowohl als der Auswärtigen auf die neuesten Verfügungen gerichtet sind, welche die bereits zusammengetretene Versammlung der Volksdeputirten zum Besten des Landes zu treffen gedenke; jezt würde unserer Zeitung das Wichtigste fehlen, wenn wir der uns bisher vorgeschriebenen Regel, nichts von schweizerischen Ereignissen zu sagen, ferner getreu bleiben und unsern Lesern Nachrichten vorenthalten wollten, die sie in einer Zürcherzeitung, vor andern, mit Recht erwarten dürfen. Künftig werden wir also auch die Abschlüsse der Zürcherschen sowohl als der übrigen helvetischen Landstände in gedrängten Auszügen, so viel möglich, unsern Blättern einverleiben. Die Gesetze, nach denen wir bey Abfassung unserer Nachrichten vorzüglich zu verfahren gedenken, sind in obigem Motto enthalten. Wir werden immer suchen unsere Berichte aus ächten Quellen zu schöpfen und sie so neu, so freymüthig und so wahr, als wir können und wissen, vorzutragen. Unter dem Titel: Kurze Uebersicht der neuesten helvetischen Staatsumänderung, werden wir in gedrängter Kürze eine Geschichte der neuesten Revolutionen in der Schweiz liefern, und glauben dadurch unsere Leser für das Stillschweigen einigermaßen schadlos zu halten, das wir bisher aus mancherley Gründen über Vorfälle unsers Vaterlandes beobachten mußten. Wir erlauben uns auch in Zukunft, über die wichtigsten Materien, die in der hiesigen Volksversammlung eben abgehandelt werden, kurze räsonnirende Aufsätze einzurücken, um jedermann eine leichte Uebersicht der Grundsätze, um die bey Entscheidung der vorliegenden statistischen Fragen es hauptsächlich zu thun ist, vor Augen zu legen, um auch den gemeinen Mann in den Stand zu setzen, über dergleichen Materien nachzudenken, und seine Begriffe zu berichtigen. Der Verfasser solcher Aufsätze wird sich jedesmal unterzeichnen. Wir erinnern aber hier ein- für allemal, daß wir den Eigendünkel gar nicht haben, jemanden dadurch in seinem Urtheile vorzugreifen, sondern daß wir lediglich nur unsere Ueberzeugung als Meynung eines Einzelnen vortragen werden. Jedermann prüfe immerzu selbst, ob dem Verfasser nicht etwas Schiefes, Verschrobenes oder Halbwahres entwischet ist. Bey Nachrichten, deren Zuverläßigkeit wir nicht verbürgen können, werden wir unsere Gewährsmänner anführen. Wer Verlangen trägt, gewisse Nachrichten oder Aufsätze in diese Zeitung eingerückt zu sehen, muß seinen Namen unterzeichnen: denn der Redacteur hält es für seine Pflicht, jezt da die Wahrheit rein und ungeschminkt verkündigt werden darf, so viel möglich nur Wahrheiten zu erzählen. Er kann freylich nicht in allen Fällen dafürstehen, daß d. Berichte, die er aus andern Blättern zu entlehnen gezwungen seyn wird, immer ihre volle Richtigkeit haben. Er verspricht aber, alles Falsche, das etwa wider Vermuthen mit einfließen könnte, sobald möglich zu berichtigen, und in der Auswahl der Nachrichten selbst mit aller Sorgfalt und Vorsicht zu Werke zu gehen[.] Zugleich ersucht er aber auch seine Leser, Gerüchte, die sich durch ein: man sagt, es verlautet, oder dergleichen, als solche kenntlich machen, nicht für baare Wahrheiten zu nehmen[,] bis sie volle Bestättigung erhalten.  Zürich den 21. Febr. 1798. Der Redacteur.»  (NZZ, 24.2.1798)

Ein bemerkenswertes Bekenntnis zu den Idealen eines Journalismus, wie er sein sollte: Unbestechlich auf der Suche nach der Wahrheit. An dieser Leitlinie könnten sich auch heutige Verleger und Chefredaktoren noch ein Beispiel nehmen.

Quellen und Literatur

[Veröffentlicht am 22. Februar 2023 um 00:50 MEZ]

Sonntag, 19. Februar 2023

Warum man am Sonntag nicht heiraten durfte

Vor 400 Jahren tobte in Mitteleuropa, namentlich in teutschen Landen, ein mit militärischen Mitteln ausgetragener Konflikt, der da gerade im fünften Jahre war. Er sollte ganze Landstriche entvölkern und noch ein Vierteljahrhundert weiter wüten, bis man ihn mit dem Westfälischen Frieden beendete. Später gab man ihm dann den Namen Dreissigjähriger Krieg 1618-1648.

Mitverantwortlich für die damals seit rund einem Jahrhundert währenden krisenhaften Entwicklungen: die Kleine Eiszeit, die da gerade ihren Höhepunkt erlebte und bspw. in den Niederlanden regelmässig für zugefrorene Kanäle gesorgt hat. Als Beleg dafür gilt auch der Umstand, dass Kunstwerke, die diese zeigen, sich auf die Zeit von 1565 bis 1640 beschränken.

Diese ganzen Entwicklungen haben massgeblich dazu beigetragen, dass sich die im Hochmittelalter und der Frühen Neuzeit noch ziemlich liberale Handels- und Handwerkerstadt Zürich samt ihrem Herrschaftsgebiet zu einem mit theologischem Fundament versehenen Polizeistaat entwickelte. Die Obrigkeit sah es als ihre Aufgabe, den Untertanen jede Art von Verschwendungssucht und Ausschweifungen nach Möglichkeit auszutreiben und begründete dies mit dem Zorn Gottes, der durch solcherlei Fehltritte herausgefordert werde und sich über dem Gemeinwesen entladen könne (vgl. u.a. WeiachBlog Nr. 1885).

Ausschweifungen proaktiv verbieten! Vor allem am Sonntag!

Die geheiligten Tage der Bibel mussten da natürlich besonders geschützt werden, namentlich der Sonntag, an dem man keine Festmähler abhalten sollte. Die – das wusste man aus Erfahrung – hatten ja unweigerlich die Tendenz, in weinselig-fröhliche Ausgelassenheit abzugleiten.

Bereits im Juli 1620 hatte die Zürcher Regierung für die Landschaft ein Mandat betreffend Sonntagsheiligung erlassen, das Ausschnitte des regelmässig verkündeten sog. Grossen Mandats mit dem Verbot verband, an Sonntagen zu heiraten:

«Unserer Gnedigen Herren Burgermeister, Kleinn unnd Grossen Räthen der Statt Zürych, Mandat, unnd Vermanung zum christenlichen Kilchgang, auch Heiligung dess Sonntags nach dem Gebot Gottes und zu Abstellung allerley Unordnung, so an den Sonntagen fürgegangen, widerumb ernüweret, auch in alle Kilchen uff der Statt Zürych Landtschafft geschickt, und offentlich verkündt.»

Wie sich das dann in der Praxis ausgewirkt hat, beschreibt Max Spörri im Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1945:

«Bis 1620 war es üblich gewesen, am Sonntag Hochzeit zu halten. Durch das obrigkeitliche Mandat vom 20. Juli 1620 betreffend Kirchgang und Sonntags-Heiligung wurde dieser Sitte ein Ende gesetzt und angeordnet, daß inskünftig Trauungen in der Stadt und auf der Landschaft nur noch an Dienstagen oder andern Wochentagen, „nach jedes Orts Gelegenheit", stattfinden sollten. In den Eheregistern von Stäfa, Stammheim und Weiach wird auf diese Weisung ausdrücklich Bezug genommen; fortan sollte in diesen Gemeinden nur noch am Dienstag oder Donnerstag, bzw. am Montag oder Dienstag Hochzeit gehalten werden. Aber schon 1627 wurde durch ein neues Mandat verfügt, daß auf der Landschaft auch am Montag nicht mehr getraut werden dürfe, sondern nur noch am Dienstag und den übrigen Wochentagen, ausgenommen Samstags. Das Eheregister von Stammheim erwähnt auch dieses Mandat. Während Jahrzehnten erfolgten nun die meisten Trauungen an Dienstagen, und erst unter dem Einfluß der Aufklärung macht sich auch in dieser Beziehung eine freiere Auffassung geltend.» (Spörri 1944, S. 91)

In der von Campi & Wälchli herausgegebenen Sammlung Zürcher Kirchenordnungen (2 Bände, 1388 Seiten) ist das oben erwähnte Mandat von 1627 nicht enthalten. Wohl aber die (im StAZH-Katalog und der Edition auf den 22. Juli (st. v.) datierten) Weisung von 1620. Nach gregorianischem Kalender wurde sie also am 1. August 1620 (st. n.) erlassen.

Umfassendes, engmaschiges Programm der öffentlichen Sicherheit

Nachstehend ausschnittweise der Originalwortlaut des Mandats, wo es sich zum Heiratsverbot an Sonntagen äussert (S. 613). Zunächst präambelartig die Erwägungen:

«Demnach ist unverborgen / und erfahrt man taeglich / wann an den Sonntagen es syge ze Statt, ald [oder] Land hochzyt gehalten werdent / daß uf soellich tag / die man (wie vor gemeldet) Gott zuo synen ehren fyren soll / alle üppigkeit [Übermut] / lychtfertigkeit / unnd fülleryg fürgadt / und uß der selben hader / zerwürffnuß / und etwan todtschleg erwachsend / daruß dann ferner entstohnd / schwere Rechtshaendel / grosser abgang [Mangel] / und verderben der hußhaltungen / und fygendtschafften [Feindschaft] gantzer vernachbarter Gmeinden. Wann dann die hoche nothurfft erforderet / das soellichem allem / gebürender massen fürkommen / und begegnet werde / wie dann die Eerbarkeit in Statt und Land ab soellichem ergerlichen waesen / und mißbruch deß heiligen Sabbaths (als wir berichtet werdent) ein sonderbar mißfallen tragen / und umb Oberkeitlichs insehen / ein Gottselig verlangen haben soll.» 

Gefolgt vom eigentlichen Heiratsverbot an Sonntagen:

«Da so haben wir gantz Christenlicher guoter meinung angesehen / und wellend / Das nun fürohin in unserer Statt und Landschafft die hochzyt an Sontagen gar abgestelt syn soellind / und man allein an den Zinstagen [Dienstagen] so auch zum Baettag geordnet / oder anderen tagen / in der wuchen / noch [nach (Dialektform] jedes orts gelegenheit / die hochzyt halten /»

Abgerundet wird dies durch eine weitere Erwägung, die dem Adressaten (d.h. dem lokalen Pfarrherrn und seinen Kirchenpflegern) auch gleich indirekte Handlungsempfehlungen gibt:

«Doch das zuo verhuetung vil costens / sonderlich by diser jetzigen sondst schweren zyt / da einer deß synen in ander weg bedarff / uff unserer Landtschafft einer ein tag allein hochzyt halten / hiemit wirt mancher junge Gsell / und dienstknecht / von dem yngeryßnen wuohl [Gewimmel, etc.] abgezogen / und daheimb ob syner arbeit behalten / der sonst an Sonntagen erzeltem unwesen mehrmahl zuo synem unglück nochgezogen ist / und wirt dardurch auch ander unheil / wuohl / sünd / unnd laster / vermitten / und der Sonntag noch [nach] dem gebott Gotts / zuo dest mehrer erlangung synes Goettlichen saegens / rechtgschaffen geheiliget.»

Und jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie das (wie in der Einleitung des Mandats, s. oben, erwähnt) in der Kirche von der Kanzel herab vorgelesen erhalten. Zum Einschlafen! Immerhin musste sich das nur ein Angehöriger jedes Haushalts anhören, so die Vorschrift für den Kirchenbesuch. Was im Fall von Weiach auch nicht anders ging, denn es hätten schlicht nicht alle aufs Mal in die alte Kirche im Oberdorf gepasst.

Wer hätte das gedacht: Wirtshäuser am Sonntag geschlossen

Konsequenterweise wird weiter oben im selben Mandat auch ein Verbot ausgesprochen, Gasthäuser und Weinschenken an einem Sonntag zu öffnen. Einzig für die im Gasthaus beherbergten auswärtigen Gäste darf eine Ausnahme gemacht werden.

Mit solchen Massnahmen sind praktischerweise auf einen Schlag Probleme der öffentlichen Sicherheit, des Gesundheitsmanagements und der Armutsprävention adressiert. Besonders letzteres. Denn die Dauer von Hochzeitsfeiern wurde – wie man oben sieht – auf einen Tag beschränkt. Mehr war nicht erlaubt, was den ruinösen Wettstreit um soziales Ansehen abgemildert hat.

Diese Wirtshausbeschränkung erinnert uns doch ziemlich an die Coronamassnahmen der letzten drei Jahre. Immerhin hat man damals noch offen darauf hingewiesen, dass – insbesondere junge – Männer gefälligst arbeiten und nicht feiern sollen. Diese Eier haben unsere Regierenden heute nicht mehr.

Quellen und Literatur

  • Mandat der Stadt Zürich betreffend Sonntagsheiligung für die Landschaft (Wiederholung eines Ausschnitts des Grossen Mandats der Stadt Zürich), verbunden mit der Einführung des Dienstags anstelle des Sonntags als Hochzeitstag, 1620. Erlassdatum laut Katalogeintrag: 22. Juli 1620. Signatur: StAZH III AAb 1.2, Nr. 17.
  • Spörri, M.: Die Pfarrbücher der Zürcher Landschaft als bevölkerungsgeschichtliche und chronikalische Quelle. In: Zürcher Taschenbuch 65 (1945), Zürich 1944 – S. 86-105; hier S. 91.
  • Campi, E., Wälchli, Ph. (eds.): Zürcher Kirchenordnungen 1520–1675. Erster Teil. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2011 – S. 609-615, hier 613 [222. Wiederholung des Grossen Mandats (1620)]
  • Brandenberger, U.: Turgäuer. Ein jahrhundertealter Weiacher Flurname? WeiachBlog Nr. 1682 v. 29. Juni 2021. [Jakob Näf, genannt «Turgeüwer», war der erste, der in Weiach an einem Dienstag geheiratet hat – und zugleich der letzte an einem Sonntag]

Freitag, 17. Februar 2023

Otto Schulthess zum römischen Grenzschutz am Oberrhein

Otto Schulthess (1862-1939) war nach Ferdinand Keller und Jakob Heierli (vgl. WeiachBlog Nr. 1898) der dritte namhafte Gelehrte, der sich mit den Weiacher Wachttürmen vertieft befasst hat. Geboren wurde er in Winterthur, studierte klassische Philologie (Griechisch und Latein) und arbeitete lange Jahre als Gymnasiallehrer in Frauenfeld. Daneben betätigte er sich als Privatgelehrter, bis er schliesslich 1907 ordentlicher Professor in Bern wurde.

Dort sei, so der Wikipedia-Artikel über ihn, neben seine angestammten Forschungsgebiete (antikes Recht, Epigraphik und Papyrologie) neu auch die Provinzialrömische Archäologie hinzugetreten: «Schulthess beteiligte sich an der Kommission für römische Forschung der Schweizerischen Gesellschaft für Erhaltung der Kunstdenkmäler. Bei der 1909 gegründeten schweizerischen Rheinlimes-Kommission übernahm er den Vorsitz und führte in ihrem Auftrag mehrere Grabungen durch.»

Der Begriff Rheinlimes (in Anlehnung an den berühmten Obergermanischen Limes) ist dabei etwas hoch gegriffen, da es sich in unserer Gegend nicht um eine durchgehende Befestigung, sondern eher um eine Kette von Wachttürmen, Kastellen und kleineren befestigten Plätzen und Flussübergängen entlang des Rhein und seines südlichen Hinterlandes gehandelt haben dürfte.

Zum Begriff Oberrhein ist anzumerken, dass sich in späteren Jahren für den Fluss-Abschnitt von Stein am Rhein bis Basel der Begriff Hochrhein eingebürgert hat, vgl. den offiziellen Namenszusatz unserer deutschen Nachbargemeinde, sowie WeiachBlog Nr. 834.

Ein Vorabbericht in der NZZ

Die Arbeiten dieser Rheinlimes-Kommission interessierten auch die Öffentlichkeit, sodass die Neue Zürcher Zeitung am heutigen Datum vor 100 Jahren einen Bericht über einen von Schulthess gehaltenen Vortrag in die Rubrik Feuilleton einrückte:

«C. B. In der Sitzung der Zürcher Antiquarischen Gesellschaft vom 10. Februar sprach Prof. Otto Schultheß aus Bern über die römischen Warten am schweizerischen Rhein. Auch heute freilich sei, Jahre nach der leider etwas verfrühten Arbeit von Heierli im 1. Heft der Geographisch-Ethnographischen Gesellschaft, die Zeit zu einer zusammenfassenden Darstellung eigentlich noch nicht gekommen, da noch nicht über alle Punkte Einigkeit erzielt ist. 

Kaiser Valentinian I. (364-375) schützte die Flußgrenzen des Reiches offenbar planmäßig mit Türmen (turres, speculae, seit etwa 100 n. Chr. mit Vorliebe, nach einem offenbar von den Germanen entlehnten Wort burgi genannt), die weniger der Verteidigung als der Beobachtung und Signalisierung sich nähernder Feinde zu dienen hatten. Diese Tätigkeit des Kaisers illustrieren bei uns die beiden Bauinschriften, vom Jahr 371, von Etzgen, heute im Antiquarium in Aarau, und von der Warte am Kleinen Laufen im Landesmuseum, 1906 von Heierli gefunden; die letztere brachte in der interessanten Ortsbezeichnung ad summam rapidam das neue lateinische Wort rapida, das vorher nur von den romanischen Sprachen aus supponiert war [vgl. dazu ASA Bd. 9 (1907), H. 3, S. 190ff.]. Damit sind für den Rhein-Limes - diese vom obergermanischen Limes entlehnte, für die Rheinlinie jedoch unzutreffende Bezeichnung wird der Bequemlichkeit halber beibehalten - die urkundlichen Beweise bereits erschöpft. 

Das Unternehmen der Kaiser Valentin[i]an, Valens und Gratian war der letzte Versuch, die Rheingrenze festzuhalten. Vorher hatte, wie Burckhardt-Biedermann nachwies, Diokletian eine Rheinbefestigung neu durchgeführt und dabei doch wahrscheinlich auch kleinere Bauten errichtet; sie war eine Folge der durch die Alemanneneinfälle um die Mitte des 3. Jahrhunderts veranlaßten Aufgabe des rechten Rheinufers durch Gallienus. Vorher, seit etwa 100 n. Chr., war, nachdem die Römer das rechtsrheinische Gebiet südlich der Donau in Besitz genommen und durch den Limes Domitians geschützt hatten, die Rheinlinie ohne Bedeckung; die Truppen waren von Vindonissa an den [obergermanischen] Limes verlegt. Daß von den ersten Warten nach der Wiederherstellung der Rheinbefestigung keine Spur mehr vorhanden ist, rührt wohl davon, daß sie aus vergänglichem Material errichtet waren.

Ferdinand Keller erkannte zuerst, daß die Warten ein System von Befestigungen bildeten. Ihre Untersuchung wurde systematisch vorgenommen durch eine von der archäologischen Kommission der Gesellschaft für Erhaltung historischer Kunstdenkmäler 1908 bestellte Kommission (Heierli, Th. Burckhardt-Biedermann, Karl Stehlin und der Vortragende).

Türme nicht nur auf der Schweizer Seite

Wie diese Warten aussahen, zeigen die Darstellungen an den Säulen Trajans und Antonins. Sie standen mit wenigen Ausnahmen am Steilrand des Ufers, was auch erklärt, warum so manche dieser Bauten verschwunden sind - sie sind bei Veränderungen des Rheinufers abgestürzt. Für ihre Distanzen war in erster Linie die Sichtbarkeit einer jeden von den beiden nächstliegenden maßgebend; bei Krümmungen des Rheins standen sie dichter. Doch hat sich wahrscheinlich als eine Art Normale eine Strecke von 1200 bis 1500 Meter erwiesen. Das ergab die Möglichkeit, auch an Stellen ohne sichtbare Spuren mit der Wahrscheinlichkeit des Erfolges den Spaten anzusetzen oder an solchen Stellen Warten vorauszusetzen. Wo das rechte das linke Ufer wesentlich überragte, lagen die Wachttürme gewiß, einer ausdrücklichen Stelle Ammians entsprechend, auf dem rechten Ufer [d.h. die Feindseite]

Die Seitenlänge des quadratischen Grundrisses schwankt zwischen 6,5 und (Weiach) 14 Meter [diese Angabe zeigt, dass es sich hier um die als Wachtturm gelesenen Fundamentreste am Osthang des Weiacher Dorfbachgrabens handelt]. Als Material ist besonders häufig ein in der Nähe gebrochener, leicht zu bearbeitender Tuffstein verwendet. Sind bei vielen der Türme nur noch die Fundamente oder die Fundamentgräben vorhanden, so bei andern noch Mauern darüber, wie bei der am Kleinen Laufen in einer Höhe von 2,50 bis 4 Meter. Die im allgemeinen geringe Tiefe der Fundamente zeigt eine nicht große Last auf ihnen an. Zahlreiche Ziegelbrocken lassen auf harte Bedachung schließen; die Verschiedenartigkeit der Ziegel beweist, daß sie nicht neu hergestellt, sondern von Zivilbauten in der Nähe genommen wurden. 

Wall und Graben gehörten selbstverständlich zu diesen Bauten; diese Erdaufschüttungen sind meist zerstört. Pallisadenschutz ist wahrscheinlich. Eine technische Besonderheit sind verschiedenenorts, namentlich unterhalb der Aare, eine Art Schwellenroste, im Boden eingelegte Balken, deren Zweck nicht sicher festgestellt ist. Bei keiner Warte oberhalb der Aare fanden sich runde Löcher, die Holzeinlagen trugen. 

Zurückhaltung in der Publikationstätigkeit

Publiziert ist von den Funden nicht sehr viel; die Forschenden übten Zurückhaltung, einmal wegen der Gleichartigkeit der Funde, dann weil sie, selber erst Lernende, nicht vorzeitig vor die Oeffentlichkeit treten wollten. Finderfreuden und Enttäuschungen der Forscher auf der Suche nach Warten schilderte weiter der Vortrag, der dabei nicht nur von den Fortschritten im Suchen, sondern auch an Hand von Vorweisungen von denen im Zeichnen, die vor allem dem praktischen Geschick und dem Zeichentalent Theophil Wehrlis zu danken sind, einen Begriff geben wollte. 

Die Beauftragten hatten ihr Forschungsgebiet in ein unteres, das die Basler Burckhardt-Biedermann und Stehlin, und ein oberes, das Heierli und der Vortragende übernahmen, geteilt. Hier war lange nur der Köpferplatz bei Ellikon bekannt. Andere Reste galten nur als römisch, oder waren es, waren aber keine Wachttürme, und die Nachforschungen brachten wohl etwa Refugien zutage, aber keine Warten; bis endlich die Auffindung derjenigen am Rheinknie auf der Scharenwiese gegenüber Büsingen das Eis brach: die aus der Karte gewonnene Voraussetzung einer specula an dieser Stelle war gerechtfertigt. Es folgten die weitern Feststellungen von Warten, darunter in Reichlingen (eidgenössisch: Rheinklingen), bei Rheinsfelden, im Ratihard, bei Weiach. Eine serienweise Publikation im „Anzeiger für schweizerische Altertumskunde“ [ASA], der eine zusammenfassende kurze Darstellung folgen wird, steht jetzt in Aussicht. 

In der Diskussion wurde eine Mitteilung über die erwähnten Löcher gemacht, die zur Aufnahme beim Bauen gebrauchter Gerüste gedient hätten, ferner auf die eben erfolgte Anzeige eines neuen Pfahlbaus bei Horgen hingewiesen, im übrigen dem Vortragenden lebhafte Anerkennung bekundet.»

Aus dieser (im vorletzten Abschnitt erwähnten) umfassenden Publikation wurde offenbar nichts. Die Angaben im 14. Jahresbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte (JbSGU 14 (1922), S. 86-89) sind die einzigen publizierten Informationen, insbesondere zur ältesten dokumentierten Grabung an und bei der östlichen Abbruchkante des Dorfbachgrabens.

Quelle

[Veröffentlicht am 18. Februar 2023 um 01:00 MEZ]

Dienstag, 14. Februar 2023

Eine «römische» Siedlung am Heidenbuck?

Dass die zeitliche Zuordnung «römisch» im Titel dieses Beitrags in Anführungszeichen gesetzt und erst noch mit einem Fragezeichen versehen ist, hat seinen guten Grund. 

Am Beispiel dieses historischen Weiacher Flurnamens lässt sich nämlich sehr gut aufzeigen, wie aus einer vorsichtigen Zuordnung durch einen allgemein anerkannten und als Koryphäe vergangener Zeiten auf den Sockel gestellten Gelehrten eine sozusagen unumstössliche «Wahrheit» werden kann.

Von Keller kolportiertes Gerücht...

In den Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft (MAGZ Bd. XV, Heft 3, Zürich 1864) findet sich der Beitrag «Statistik der Römischen Ansiedelungen in der Ostschweiz», verfasst von Ferdinand Keller (1800-1881), der auch weitere Weiacher Fundstellen beschrieben und eingeordnet hat, u.a. die Erdwallanlagen auf dem Ebnet und dem Wörndel (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 76).

Dabei handelt es sich, so Keller, um eine «Aufzählung der bis zum Jahr 1864 bekannt gewordenen römischen Ansiedelungen in der östlichen Schweiz» (in der Inhaltsübersicht spezifiziert er sie als «Statistik der militärischen Bauten, der Ortschaften und Landhäuser (Villen)»). 

Weiter macht er auf S. 63 in Fussnote 1 auch gleich eine wichtige Einschränkung zu dieser Aufzählung: «Wir müssen hier nochmals in Erinnerung bringen, dass in diesem Verzeichnisse nur diejenigen römischen oder gallorömischen Ansiedelungen aufgeführt sind, die sich durch Reste gemauerter Wohnungen kund geben.» Der Begriff gemauerter ist im Original gesperrt gesetzt. Allfällige Reste von Bauten, die aus weniger dauerhaften Materialien erstellt wurden (also z.B. grosse Feldlager in Holzkonstruktion oder Landarbeiterhäuser) sind somit - wiewohl ebenfalls aus der römischen Epoche - nicht aufgeführt.

Solche Titel spuren die Gedanken vor. Und man kann schon von Glück reden, wenn der Aspekt gallorömisch dabei nicht untergeht. Denn letztere Kulturhinterlassenschaften können auch noch viele Jahrzehnte nach dem eigentlichen Ende der Macht des Imperium Romanum über unsere Gegend entstanden sein, insbesondere im 5. und 6. Jahrhundert.

Der uns interessierende Eintrag zu unserer Gemeinde findet sich auf S. 117:

«Weiach. Der sogenannte »Heidenbuck« auf der Ebene zwischen diesem Dorfe und dem Rhein soll römisches Gemäuer enthalten.»

Es handelt sich also, wie die vorsichtige Formulierung erahnen lässt, um eine reine Vermutung. Man muss auch annehmen, dass Keller selber (oder ein von ihm Beauftragter) den Fundort nicht näher untersucht hat, obwohl ihm die ungefähre Ortslage durchaus bekannt gewesen sein dürfte.

...wird bei Heierli zu einer Gewissheit

Der ebenso umtriebige Forscher Jakob Heierli (1853-1912), wie Keller im Vorstand der Antiquarischen Gesellschaft Zürich, vertritt rund vier Jahrzehnte später eine andere Auffassung, wie man in seinem Artikel Über das römische Grenzwehr-System am Schweizer-Rhein sieht. Da heisst es nämlich (S. 35/36):

«In Kaiserstuhl sind überhaupt keine römischen Funde gemacht worden, [Fn-35-2] dagegen im „Heidenbuck" bei der Lebern in Weiach.[Fn-36-1] Sollte da vielleicht die in Kaiserstuhl gesuchte Zwischenstation gelegen haben?» (Jb. Geogr.-Ethnogr Ges. Zch, Bd. 5, 1904-1905)

Heierli diskutiert hier, ob an der Stelle des sog. «Römerturms» einer der Wachttürme entlang des spätrömischen Donau-Iller-Rhein-Limes gestanden habe, stellt fest, dass das dort heute zu beobachtende ährenförmige Mauerwerk auch frühmittelalterlich sein könne und kommt folgerichtig zur (nach heutigem Forschungsstand zu verneinenden) Frage, ob der Turm den Namen wirklich zu Recht trage. [Die angegebene Fussnote 2 auf S. 35 verweist auf: Heierli, Archäol. Karte des Kts. Aargau in Argovia XXVII., p. 52.]

Gleich anschliessend erklärt derselbe Heierli, es gebe römische Bauwerkreste am Weiacher Heidenbuck, wohl in der Hoffnung, dort den fehlenden Wachtturmstandort verorten zu können. 

Wenn wir annehmen, dass er hier lediglich auf Kellers oben zitierte Stelle aus dessen Statistik Bezug nimmt, dann schnitzert Heierli gewaltig.

Dass Heierli sich tatsächlich auf Keller bezieht, zeigt sich an der Fussnote 1 auf S. 36: Mitteilungen der Antiq. Gesellsch. Zürich XV 3, p. 117 [vgl. Zitat oben] und Heierli, Archäol. Karte des Kts. Zürich, p. 38

Da war wohl der Wunsch Vater des Gedankens, denn zumindest der WeiachBlog-Autor hat bisher keinen einzigen Hinweis auf Ausgrabungen Heierlis in der Ebene nördlich des Dorfkerns gefunden.

Verdachtsfläche auf Fundstellenkarte

Woher hat Heierli diese Gewissheit? Das wird klar, wenn wir die von Ferdinand Keller bereits 1862 herausgegebene Archäologische Karte des Kantons Zürich analysieren:


Das rote Ringlein zwischen dem S und dem T des Schriftzugs KAISERSTUHL auf Weiacher Gemeindegebiet ist die Signatur für eine Ansiedlung. Und da es kein Kommentarheft zu dieser Karte gibt, wird halt eben nicht deutlich, dass es sich lediglich um eine Art Verdachtsfläche handelt, wie Keller in seiner Statistik 1864 indirekt zu verstehen gibt.

Heierli hat drei Jahrzehnte später selber eine Karte unter demselben Titel veröffentlicht (herausgegeben 1894 von der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich im kantonalen Lehrmittelverlag):

Violett dargestellt sind römische Fundstellen, rot vorrömische Fundorte. Die Ansiedlung im Heidenbuck nördlich Weiach (hier nordöstlich des Ortskerns dargestellt) wird mit der entsprechenden Signatur konzentrischer Kreise angezeigt und im Register (einem Beiheft) auf S. 38 erwähnt. Und zwar ohne jeden Hinweis auf den Verdachtsflächenstatus.

Proliferation in die Sekundärliteratur...

Selbstverständlich werden solche Karten (und die Listen in den dazugehörenden Erläuterungen) fortan für bare Münze genommen, zumal da Heierli ca. zehn Jahre nach Erscheinen der Karte auch noch nachdoppelt (s. Zitat 1904/05) und das Keller'sche caveat (von 1864) schlicht weglässt.

In der Sekundärliteratur sind daher ab diesem Zeitpunkt jedes Fragezeichen und jeder Zweifel wie weggewischt: 

  • So in einem der Standardwerke unseres Landes, dem Geographischen Lexikon der Schweiz (GLS, Bd. 6, S. 592, Neuenburg 1910): «Römische Ansiedelung im «Heidenbuck».»
  • Daraus abgeleitet diskutiert Guntram Saladin (1887-1958), ein bedeutender Namenkundler, in den Freiburger Geschichtsblättern (Bd. 27 (1923), S. 28) die als gallorömisch gedeuteten -acum-Ortsnamen mit folgenden Worten:
    «In der Nähe der Strasse von Zurzach nach Juliomagus-Schleitheim treffen wir ein Küssnach. Rheinaufwärts gelangen wir nach Weiach [Fn-4], eine Stunde südostwärts nach Windlach [Fn-5], [...]»
    Fn-4: «Das Geograph. Lexikon nennt Funde aus der Bronze- u. Eisenzeit und einen röm. Wachtturm.»
    Fn-5: «Das Geograph. Lexikon erwähnt eine römische Ansiedelung auf dem Heidenbuck.»
    Bei der Fussnote 5 hat sich Saladin verhauen, indem er den Heidenbuck nachweislich falsch Windlach zuweist. Die entsprechende Seite im GLS zeigt, dass es sich wie bei Fn-4 um Weiach handelt.
  • Auch ein weiteres Standardwerk, das Historisch-biographische Lexikon der Schweiz (HBLS) sprang 1934 auf denselben Zug auf: «Römische Ansiedelung am "Heidenbuck"».
  • Woraus sich die entsprechenden Formulierungen in Hermann Fietz' Kunstdenkmäler des Kantons Zürich (Bd. II, S. 143, Basel 1943) sowie Ernst Maurers Die Kirche zu Weiach (S. 6, Weiach 1965) quasi automatisch ergeben.

... und das Fundstellen-Normblatt der Kantonsarchäologie

Fazit: eine sauberere Trennung zwischen bloss vermuteten und tatsächlich bestätigten Fundorten wäre hier enorm hilfreich gewesen. Dank der Keller'schen Kategorienvermischung von 1862 (dieselbe Signatur auf der Karte) bzw. 1864 (Verdachtsflächen in der Statistik und nicht separat behandelt) wird die Legende von römischen Gebäuderesten trotz fehlenden Grabungsunterlagen wohl weiterhin durch die Literatur geistern.

Dafür sorgt schon die (nach Meinung des Autors dieses Beitrags unzulässige) Verschmelzung des Flurnamens Heidenbuck mit der Fundstelle auf Lebern an der östlichen Abbruchkante des Dorfbachgrabens, wie sie im Fundstellen-Normblatt WACH.RZ002 der Kantonsarchäologie Zürich auftaucht. Ob es sich dabei tatsächlich um die Fundamentreste eines spätrömischen Wachtturms handelt, ist ausserdem wesentlich fraglicher als im Fall der Fundamente am Verfluchten Platz im Hardwald (WACH.RZ001).

Quellen und Literatur

  • Keller, F.: Archäologische Karte des Kantons Zürich. Nach den Untersuchungen von Dr. Ferd. Keller. Winterthur 1862. URL: https://doi.org/10.3931/e-rara-27256.
  • Keller, F.: Statistik der Römischen Ansiedelungen in der Ostschweiz. In: Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich (MAGZ), Bd. XV, Heft 3, Zürich 1864 – S. 117.
  • Heierli, J.: Archäologische Karte des Kantons Zürich. [Mit Beiheft: Erklärungen und Register]. Lehrmittelverlag des Kantons Zürich. Zürich 1894. URL: https://doi.org/10.3931/e-rara-20671.
  • Heierli, J.: Über das römische Grenzwehr-System am Schweizer-Rhein. In: Jahresberichte der Geographisch-Ethnographischen Gesellschaft in Zürich. Bd. 5 (1904-1905) – S. 21-70 (hier: S. 35/36).
  • Geographisches Lexikon der Schweiz (GLS). Neuenburg 1910 – Bd. 6, S. 592.
  • Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz (HBLS). Neuenburg 1934 – Bd. 7, S. 454. 
  • Saladin, G.: Zur Siedelungsgeschichte des freiburgischen Sensebezirks. Kapitel 1: Die helvetisch-römische Zeit. Die römische Besiedelung der Schweiz im allgemeinen. In: Freiburger Geschichtsblätter, Bd. 27, 1923 – S. 28.
  • Fietz, H.: Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich. Band II: Die Bezirke Bülach, Dielsdorf, Hinwil, Horgen und Meilen (Kunstdenkmäler der Schweiz, Bd. 15). Basel 1943 – S. 143.
  • Maurer, E.: Die Kirche zu Weiach. Weiach 1965 – S. 6.

Montag, 13. Februar 2023

Weiacher Posthalter-Familien (1842-2009)

«Es sind aber die kleinen Poststellen, nicht die repräsentativen Bauten, die den jungen Bundesstaat bis in die entlegensten Landesteile repräsentieren. Bei der grossen Mehrheit der Postlokale handelt es sich um solche, bei denen ein Posthalter von der Post für das Zurverfügungstellen der Räume entschädigt wird. Diese einfachen Poststellen verbreiten so das Schweizerkreuz durch ihre Posthausschilder und ihre Dienstleistungen über die junge Schweiz.» (Kronig 2020)

Im Beitrag WeiachBlog Nr. 1895 werden die mittlerweile fünf verschiedenen Standorte der Poststelle im Weiacher Dorfkern genannt. Über Jahrzehnte hinweg war der Wohnsitz der Posthalterfamilie mit dem Standort der Poststelle identisch. Nur gerade von 1954 bis 1995 war dies nicht der Fall. 

Was uns wie eine lokale Spezialität und Eigentümlichkeit erscheint, war offenbar Standard, wie man dem einleitenden Zitat entnehmen kann. Seit 2009 wird die Weiacher Poststelle nach dem Ymago-Modell als Teil des VOLG-Ladens geführt. Wieder ohne formell ernannten Posthalter. Wie vor 1842. Auch damit ist Weiach kein Sonderfall. Die Poststelle als Shop-in-shop ist mittlerweile nicht nur im ländlichen Raum die weitaus häufigste Form eines Zugangspunkts zu Postdienstleistungen.

Doch zurück zur Posthalter-Zeit. In rund 168 Jahren gab es bei uns nur gerade sieben Posthalter aus drei Familien: Baumgartner, Meierhofer und Junker (bzw. Näf). Sie stehen im Zentrum dieses Artikels.

1  J[akob] Baumgartner, 1842 bis 31.5.1852 [ca. 10 Jahre]

Die Auflösung von «J.» zu «Jakob» ist eine Vermutung. Sozusagen ein «best guess». Sie beruht auf einer Analyse der Eigentümerangaben zu den Liegenschaften Oberdorfstr. 15 & 17 im älteren Lagerbuch der Gebäudeversicherung [PGA Weiach IV.B.06.01]. Ein Teil dieser Familie hat ab 1862 einen Landwirtschaftsbetrieb in Rellikon (bzw. Rällikon; an der Südwestecke des Greifensees gelegen) übernommen. Der ehemalige Standort der Kantonalpost an der Oberdorfstrasse 17 war noch bis 1866 im Eigentum der Miterben dieses Jakob Baumgartner. 

Baumgartner erhielt die Post von einem sog. Kreisbriefträger geliefert, der zu Fuss zweimal in der Woche aus dem Bezirkshauptort nach Weiach kam. Entsprechend hielt sich auch der Aufwand des Weiacher Posthalters in Grenzen. Sein Jahresverdienst im Jahre 1852: 36 Franken. Kaufkraftbereinigt würde das heute einen Monatslohn von 300 Franken ergeben.

2  Rudolf Meierhofer, 1.6.1852 bis 31.12.1889  [37.5 Jahre]

Der Aufgabenbereich des ersten Amtsinhabers (und damit sozusagen Begründers) der Dynastie der Poscht-Meierhofer war wesentlich umfangreicher als der seines zu Kantonalpost-Zeiten angeworbenen Vorgängers. Das zeigt sich allein schon an der Verdreifachung des Jahresgehalts auf 110 Franken (vgl. einen späteren WeiachBlog-Beitrag für einen Vergleich von Gehalt und Arbeitsaufwand). 

Rudolf, der die «Alte Post» in den Jahren nach der Amtsübernahme ausgebaut hat (laut Gebäudeversicherungsprotokoll v.a. 1856), musste nun jeden Tag viermal dafür besorgt sein, dass Briefe und Pakete vor seinem Haus mit dem Führer der Postkutsche ausgetauscht werden - und das war nur ein kleiner Teil seiner Amtspflichten. Da der Postverkehr stetig zunahm, ist Rudolfs Jahresbesoldung kaufkraftbereinigt bis zu seinem Tod im Jahr 1889 auf das Dreifache angestiegen.

3  Albert Meierhofer sen., 1.1.1890 bis 31.7.1927  [37.5 Jahre]

Albert Meierhofer (1860-1940), der Sohn Rudolfs, ist, mitten hineingeboren in ein als Speisewirtschaft, Poststelle und Landwirtschaftsbetrieb genutztes Elternhaus, sozusagen automatisch und schon als Kind zu Hilfsarbeiten herangezogen worden. Ab dem 1. August 1876 musste die Post bekanntlich am Bahnhof Weiach-Kaiserstuhl ausgetauscht werden, was den Aufwand erhöht hat. Auch da ist Albert mit Sicherheit immer wieder zum Einsatz gekommen, wie das halt bei einem Familienunternehmen gang und gäbe war. 

So war der langjährige Wirt (bis 1911) und Weiacher Friedensrichter quasi der bereits eingearbeitete Ersatzmann für seinen im Amt verstorbenen Vater. Im Gegensatz zu diesem hat Albert seine Jahresbesoldung kaufkraftbereinigt nicht erhöhen können, trotz der exakt gleich langen Amtsdauer. Sie ist sogar noch etwas gesunken.

4  Albert Meierhofer jun., 1.8.1927 bis 31.12.1952  [25.5 Jahre]  

Albert Meierhofer-Nauer (1887-1967), der dritte Amtsinhaber (und Enkel Rudolfs), erbte mit der Pensionierung seines Vaters sozusagen dessen Position. Wie schon seine Vorfahren führte er die Erwerbskombination Landwirtschaft/Poststelle fort. 

Die Aktivitäten dieses Mannes sind aber noch weitaus vielfältiger. So war Albert jun. ein glühender Patriot und machte in der Schweizer Armee Karriere bis zum Oberstleutnant, passenderweise in der Funktion eines für die Logistik und Versorgung zuständigen Stabsoffiziers (vgl. Bild in WeiachBlog Nr. 426). Er war massgebend an der Gründung der Schützengesellschaft Weiach beteiligt (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 60), von 1941 bis 1966 Gemeindepräsident und als Politiker auch über die Gemeindegrenzen bekannt, was die Wahl in den Kantonsrat zur Folge hatte (Ratsmitglied von 1935 bis 1943).

Schon allein daran, wie häufig er als Kantonsrat sitzungbedingt und erst recht als Offizier im Zweiten Weltkrieg militärbedingt ortsabwesend gewesen sein muss, kann man ablesen, dass die Weiacher Poststelle ohne die Familie Meierhofer im Hintergrund nicht hätte funktionieren können. So wie das auch schon seit 1852 der Fall war: Der Posthalter war sozusagen lediglich der Franchisenehmer. Für den reibungslosen Betrieb bedurfte es aber noch vieler weiterer Hände.

5  Walter Meierhofer, 1.1.1953 bis 31.12.1991 [39 Jahre]

Angesichts der anderweitigen Verpflichtungen des Albert jun. kann es kaum verwundern, dass auch sein Sohn, Walter Meierhofer-Albrecht (1929-1998) bereits von Geburt an in die Posthalterfunktion hineingewachsen ist. Elternhaus und Poststelle waren ja wie zu seines Urgrossvaters Zeiten immer noch am selben Ort. 

Eigentlich hätte Walter lieber als Landwirt gearbeitet, was aber nicht ging, weil sein Bruder den elterlichen Betrieb übernahm. So wurde er der erste vollamtliche Posthalter in unserer Gemeinde. Was auch ein Hinweis darauf ist, wie umfangreich die Aufgaben der Post mittlerweile geworden waren.

[Nachtrag vom 13. Juli 2023: Walter Meierhofer schreibt 1991 in «Poststelle Weiach im Rückblick»: «Seit 1852 bis 1991 besorgten vier Generationen Meierhofer (Urgrossvater, Grossvater, Vater, Sohn) den Postdienst unseres Dorfes, wobei bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, 1939, diese Tätigkeit im Nebenamt ausgeübt wurde.» Damit gibt er indirekt den Hinweis, dass das Vollamt bereits rund 13 Jahre vorher eingeführt wurde.]

Kurze Zeit nach dem Amtsantritt bezog er wenige Meter vom Elternhaus entfernt im Haus Kipfer (Stadlerstrasse 17) die dort eingerichtete Poststelle, die mitsamt Schalterraum und Telefonkabine nicht einmal 40 Quadratmeter gross war. Da konnte es schon einmal eng werden.

Auch hier ist die Mitarbeit der Familie (in diesem Fall durch seine Ehefrau Gertrud, von den meisten Weychern «Trudi» genannt) eine feste Grösse. Trudi war jahrzehntelang mindestens so sehr die hiesige Verkörperung der Schweizerischen Post wie ihr Mann Walter (vgl. WeiachBlog Nr. 1423).

6  Felix Junker, 1.1.1992 bis 28.2.2003  [11 Jahre]

Nachdem sich Meierhofer Nr. 4 gesundheitsbedingt hatte frühpensionieren lassen müssen, war die Reihe nun nicht mehr an dessen Sohn. Der folgte seinem Berufswunsch und wurde Lehrer. So kam es zum Wechsel zur dritten Posthalterfamilie: der Junker-Näf.

[Nachstehende Absätze bis zur Abbildung überarbeitet aufgrund Rückmeldung Hanna Junker v. 13.2. abends]

Die Poststelle Weiach platzte räumlich aus allen Nähten. Das war der Kreispostdirektion spätestens seit 1985 bekannt. Dass Felix Junker, langjähriger Postangestellter im Zustelldienst, 1991 den Zuschlag als neuer Posthalter erhielt, hatte trotzdem nichts damit zu tun, dass er und seine Frau der Post ein Angebot im traditionellen Sinne machten: die Poststelle als Teil des Anwesens der Posthalterfamilie. Dieses Angebot konnten sie – entgegen den Aussagen der Kommunikationsabteilung der Kreispostdirektion in einer Presse-Information vom 10. Januar 1995 – erst in späteren Jahren machen. 

In den ersten Jahren mussten die Junkers und die mit ihnen arbeitenden Briefträger mit den beengten Platzverhältnissen zurechtkommen. Nach dem Um- und Ausbau der Liegenschaft Glattfelderstrasse 2 schlug Mitte Januar 1995 dann die grosse Stunde: in der neuen Post am Bachweg 2 stand nun fast dreimal soviel Platz zur Verfügung, vgl. den Artikel im Zürcher Unterländer (in: Poststellenchronik Kreispostdirektion):


7  Hanna Junker-Näf, 1.3.2003 bis 7.3.2009  [6 Jahre]

Im März 2003 wandelte die Schweizerische Post die Poststelle Weiach in eine Agentur um, die nur noch als Filiale von Glattfelden weitergeführt wurde. Damit übernahm Felix' Ehefrau Hanna, gebürtige Weiacherin, ab 17. Februar 2003 faktisch die Funktion des Posthalters, formal mit dem Titel einer Filialleiterin. Felix selber wechselte auf die Poststelle in Hochfelden.

Anmerkung: Ernst Schmid setzt in seiner Postgeschichte die Rückstufung auf eine Filiale auf den März 2006 an (vgl. S. 58). Ein (passenderweise gelbes) Flugblatt des Posthalters, mit dem er zu einem Abschiedsapéro einlädt, datiert jedoch auf den Februar 2003 (Akten MGW & Flugblätter, Wiachiana-Verlag).

Diese Rückstufung war rückblickend sozusagen der Anfang vom Ende. Obwohl die Junkers noch 1995 überzeugt waren, einen Poststandort für die nächsten 30 Jahre eröffnet zu haben (vgl. ZU-Artikel oben), ist bereits im Frühjahr 2009 erneut ein Umzug der Post Weiach zu verzeichnen. An den heutigen Standort im VOLG-Laden.

Das Postlokal am Bachweg wird heute anderweitig genutzt: als Standort der Kinderkrippe Zwärgehüsli GmbH.

Quellen und Literatur

  • Speditionsregister der Poststelle Weiach: Verzeichnis der Postgegenstände mit Datum, Herkunft, Wert, Porto etc., 1849-1852. [recte: ab 1842] –  MfK, PTT-Archiv, Signatur: P-08 A_PAA 00443
  • PTT (Hrsg.): Wegleitung für die Bereitstellung von Dienstlokalen durch die Posthalter. Bern 1981.
  • Poststellenchronik Weiach der Kreispostdirektion (KPD). – MfK, PTT-Archiv. Signatur: Post-199 A 0008_Weiach. [Von Ernst Schmid ausgiebig verwendete Quelle]
  • Meierhofer, W.; Meierhofer, G.: Poststelle Weiach im Rückblick. Einzelblatt. Weiach, 5. Oktober 1991. [eingefügt am 13.7.2023]
  • Kreispostdirektion Zürich, Information & PR: Eröffnung der neuen Lokalitäten / Postbüro 8433 Weiach. Zürich, 10. Januar 1995.
  • Neues Postbüro in Weiach. Einweihung heute Donnerstag - Betriebsaufnahme am nächsten Montag. In: Neues Bülacher Tagblatt, 12. Januar 1996.
  • Weiacher Postgeschichte. Ein Stück Geschichte Zürcher Unterland. In:  Neues Bülacher Tagblatt, 12. Januar 1996.
  • Schärli, R.: Raus aus dem «Schnupftruckli». Weiach. Felix und Hanna Junker öffnen am Montag ihre neue Post. In: Zürcher Unterländer, 12. Januar 1995.
  • Schärli, R.: «Postfamilie» Meierhofer: Urgrossvater, Grossvater, Vater und Sohn. [Rubrik: Redaktion unterwäx in Weiach.]. In: Zürcher Unterländer, 9. August 1996.
  • Poststellenchronik 8187 Weiach der Sammlung Erne. –  MfK, PTT-Archiv, Signatur: Post-498 D 8187_Weiach
  • Brandenberger, U.: Dreimal Post Weiach. WeiachBlog Nr. 178 v. 1. Mai 2006.
  • Schmid, E.: Postgeschichte Bezirk Dielsdorf. Philatelie und Heimatkunde. Windlach 2008 – S. 51-59. 
  • Brandenberger, U.: Unser Postbüro ist bereits geschlossen. WeiachBlog Nr. 666 v. 7. April 2009.
  • Brandenberger, U.: Werbung für den Weyacher Postboten, Februar 1762. WeiachBlog Nr. 1011 v. 22. Juni 2011.
  • Kronig, K.: Bauen für eine Nation. Von Postpalästen, PTT-Bauten und Kunst am Bau. In: Kunst + Architektur in der Schweiz. Band 71 (2020), Heft 4, S. 4-15.

[Überarbeitete Version vom 13.2., 18:51 MEZ. Im gesamten Artikel wurde die Schreibweise «Naef» – von der PR-Stelle der Kreispostdirektion in der Medienmitteilung verwendet – auf die offizielle Schreibweise «Näf» geändert.]

Sonntag, 12. Februar 2023

Der Wahlbeteiligungstiefpunkt. SVP verliert absolute Mehrheit.

Das Wichtigste gleich vorneweg: Weiach hat bei der Kantonsratswahl den Vogel abgeschossen. Wir sind nicht nur die Gemeinde mit der tiefsten Höhenmeterzahl im Kanton Zürich. Wofür wir nichts können.

Sondern auch die einzige, in der es weniger als 20 Prozent der Wahlberechtigten für nötig befunden haben, die Kandidierenden ihrer Wahl zu erküren. Und das trotz Briefwahlmöglichkeit. Wofür wir sehr wohl etwas können.

1237 Wahlberechtigte, 245 Wahlzettel, davon erst noch 5 ungültig. Macht 19.81 Prozent. Die Zentrale der Politikverdrossenheit. Selbst die sonst mit der roten Laterne ausgerüsteten Gemeinden im Limmattal haben uns diesmal abgehängt. Kurz: Es ist ein Trauerspiel der Sonderklasse.

Die Zuwanderung zeitigt Folgen: SVP verliert absolute Mehrheit

(Quelle: app.statistik.zh.ch)

Natürlich weiss man nicht, wer sich in hiesiger Gemeinde die Mühe gemacht hat, den Brief einzuwerfen (Urnenwahl ist ja maximal aus der Mode gekommen), ob es vor allem schon länger hier Lebende waren, die gewählt haben und die Neuzuzüger die Absentisten sind, oder umgekehrt.

Aber es ist offensichtlich und augenfällig, dass die starke Zuwanderung der letzten Jahre nun deutliche Folgen hat: Das Parteienspektrum, das von den Alt- und Neu-Weiachern gemeinsam als wählbar betrachtet wird, bewegt sich in Richtung Kantonsmittelwert.

Man sieht das am sehr starken Verlust von fast 10 %, den die SVP eingefahren hat. Der Wähleranteil liegt erstmals in der Geschichte unter 50%! Klar, die Sünneli-Partei ist immer noch der Platzhirsch. Und das mit Abstand. Dennoch:

Keine andere Partei kommt auch nur auf 15%

Bei den Nicht-SVP-Stimmenden ist dafür die volle Breite zu verzeichnen. Jeder einzelne der 97 Kandidierenden im Wahlkreis XVIII, zu dem Weiach gehört, hat mindestens eine Weiacher Stimme erhalten. 

Besonders bemerkenswert sind die Gewinne der EDU, mit fast einer Verdoppelung ihres Anteils, sowie die Verluste der Mitte (ex-CVP/BDP), die fast die Hälfte eingebüsst hat.

Auch die neue Protestbewegung Aufrecht/Freie Liste (AuFL) hat aus dem Stand mehr Stimmen gemacht als die Alternative Liste.

Quellen

Donnerstag, 2. Februar 2023

Wo befand sich die erste Weiacher Poststelle?

Der vor einigen Monaten verstorbene Hans Rutschmann (1928-2022) war an der Alten Poststrasse 4 wohnhaft. Im Brotberuf hat er während Jahrzehnten in Bülach als Briefträger die Post ausgetragen. Seine Ehefrau Hanni Griesser (*1928) stammt aus der Familie der «Beckgriessers», die mit älterem und nicht mehr so bekannten Zunamen auch «Postgriessers» genannt wurden (vgl. Schmid 2008, S. 52-53). Dieser Zuname stammt noch aus der Zeit vor der ersten Postablage (ab 1842) und der Postkutsche (1852-1876), ist also schon fast zwei Jahrhunderte alt.

Die «Postgriessers» waren mithin von der Gemeinde beauftragte Zürichboten, fuhren bzw. gingen also regelmässig in die Hauptstadt (vgl. WeiachBlog Nr. 1011). Sie bilden damit so etwas wie eine zeitliche Klammer um die Periode 1842 bis 2009 herum, als es in Weiach amtlich bestellte Posthalter gab, die über eine örtlich fixierte Poststelle wachten.

Rund um den ehemaligen Wohnsitz Rutschmanns finden sich auch die drei ältesten Standorte der Post im Dorf. Jawoll, rundherum, denn die Postablage der Zürcher Kantonalpost (bevor mit der Etablierung der Institutionen des Bundesstaats ab 1849 die eidgenössische Postverwaltung das Regiment übernahm) war noch an der Oberdorfstrasse domiziliert. Aber wo genau? Dazu sagt Walter Zollinger in seiner ortsgeschichtlichen Monografie (1. Aufl. 1972, S. 66) nichts.

Viele Hinweise, die sich zu einem Bild verdichten

Aus den Materialien und Entwürfen zu den Weiacher Geschichte(n) hat der WeiachBlog-Autor die folgende Notiz ausgegraben: «Die erste Postablage soll sich in dem Maurer Griesser gehörenden vis-à-vis des Waschhauses gelegenen Hause, das von der Familie Selimi bewohnt wird, befunden haben.» Dummerweise habe ich damals auf jede Angabe verzichtet, von wem diese Information stammt und zu welchem Zeitpunkt sie notiert wurde (es muss irgendwann zwischen 2003 und 2006 gewesen sein). Schlecht.

Aber wenigstens deuten sämtliche mir damals noch nicht bekannten Quellen in dieselbe Richtung. Sie werden in diesem Beitrag vorgestellt.

Die älteste Quelle ist der im August 1844 fertiggestellte Plan der projektierten Kunststrasse, die in der Verlängerung der Kaiserstuhlerstrasse (ab 1876 zwischenzeitlich Bahnhofstrasse genannt) auf dem Reissbrett in Richtung Raat gezogen wurde (StAZH PLAN S 385), die heutige Stadlerstrasse (auf dem Plan in dunkelrosa dargestellt):

Die hellgrün überlagerten Flächen bezeichnen die fünf Standorte der Weiacher Poststelle bis heute. Damals existierte nur eines der Gebäude in seiner heutigen Grundrissform: die Liegenschaft Oberdorfstr. 17, die wie die Gebäude Bergstr. 8 und Stadlerstr. 2 (Gasthof Sternen) durch eine Art Sanduhrzeichen als Gebäude mit einer öffentlichen Funktion bezeichnet wurden. 

Diese älteste Poststelle stand also nicht direkt an der Landstrasse von Kaiserstuhl nach Zürich (rot gestrichelt eingezeichnet), die bis zur Eröffnung der heutigen Stadlerstrasse durchs Bühl, das untere Oberdorf und anschliessend über die Bergstrasse verlief.

Poststellenchronik im PTT-Archiv

Die zweite Quelle, eine undatierte Handskizze, befindet sich in der Poststellenchronik der Kreispostdirektion (KPD). Sie zeigt die beiden Standorte bis 31. Mai 1852 und nach der Eröffnung der Postkutschenverbindung von Kaiserstuhl nach Zürich (ab 1. Juni 1852):


Die beiden ersten Standorte sind rot eingefärbt: die Oberdorfstr. 17 mit der Ziffer «5», die heute als «Alte Post» bezeichnete Liegenschaft Alte Post-Str. 2 an der Stadlerstrasse mit Ziffer «1». Die Oberdorfstrasse und die Bühlstrasse sind hier entgegen den tatsächlichen Verhältnissen (vgl. die vermessungstechnisch korrekte Zeichnung oben) fälschlicherweise als gerade Linie dargestellt. 

Das Plänchen ist sicher vor 1954 erstellt worden (Eröffnung der Post im Haus Kipfer). Berücksichtigt man darüber hinaus den abgebildeten Gebäudestand, so verweist dieser auf die Zeit vor dem 21. Januar 1930. 

Wie kommt man auf «vor 1930»?

Der Terminus ante quem 1930 ergibt sich aus den folgenden Feststellungen: 

1. Das «Alte Gemeindehaus» an der (hier nicht eingezeichneten) Friedhofsmauer hat damals noch als Gemeindehaus gedient und das heutige, 1947 erbaute, ist auf dem Plan noch nicht zu finden.

2. Auf der Westseite des untersten Abschnitts der Stadlerstrasse findet sich nur ein Gebäude, nicht zwei, was zeigt, dass hier das 1935 erbaute heutige VOLG-Gebäude (Stadlerstr. 4) noch fehlt. Nur die Liegenschaft Wolf (mit dem Produktionslokal der Käsereigenossenschaft; Stadlerstr. 6) ist zu erkennen.

3. Ostseitig vom Alten Schulhaus (Ziffer «2») ist die Verbindung der Oberdorfstrasse mit der Stadlerstrasse zu sehen, die zwischen dem Baumgartner-Jucker-Haus (untere Amtsrichters) und dem der oberen Amtsrichters durchführt. Links von diesem Gebäude (Oberdorfstr. 2) ist ein dreigeteiltes Gebäude zu erkennen, das an obgenanntem Datum im Januar 1930 einem Grossbrand zum Opfer fiel und an dessen Stelle bis 2004 eine grosse Scheune gestanden hat. Heute ist an dieser Stelle das Mehrfamilienhaus Oberdorfstr. 6+8.

4. Das Haus des sogenannten Pariserschneiders, das an der Verzweigung Winkelstrasse/Oberdorfstrasse westseitig und parallel zum unter Punkt 3 erwähnten Dreiparteienhaus stand, wurde nach 1952 abgebrochen. Als Ersatzbau steht auf derselben Parzelle seit 1954 die bereits erwähnte Liegenschaft Kipfer (Stadlerstr. 17). Die Kellergewölbe der abgebrochenen Baute sind erhalten geblieben.

Die auf derselben Seite der Chronik in gleicher Handschrift und ähnlicher Tinte eingetragenen Jahresentschädigungen für Diensträume, Heizung und Beleuchtung, datiert auf das Ende des Jahres 1922 (samt Nachtrag bzgl. Nachzahlung mit anderer Tinte), sowie die darüber eingeklebte Karte des Gemeindegebiets (aus der 1880er-Siegfriedkarte ausgeschnitten) deuten auf eine Entstehung zwischen 1922 und 1928 hin.

Windlacher nimmt den Ball auf

Die dritte Quelle schöpft zu grossen Teilen aus der Poststellenchronik der Kreispostdirektion. 

Ernst Schmid, Philatelist aus Windlach, hat in seiner 2008 abgeschlossenen Postgeschichte des Bezirks Dielsdorf auf S. 56 alle vier bis dahin genutzten Standorte auf einem Katasterplan eingezeichnet (s. unten). Und er nennt für den Standort der Kantonalpost als erster die (auch aus der Sicht des WeiachBlog-Autoren korrekte) Adresse Oberdorfstr. 17.


Die Standorte auf dem Schmid-Plänchen sind auch all diejenigen Orte, wo nachweislich ein Posthalter (am Bachweg zuletzt: eine Posthalterin) tätig war.

Fünf Standorte über 180 Jahre – Kurzübersicht

Mittlerweile ist noch ein weiterer Standort hinzugekommen, der aktuelle, für den es nun keinen Posthalter mehr gibt, jedenfalls nicht eine/n, der oder die als physischer Ansprechpartner vor Ort in Erscheinung tritt. [Nachtrag v. 3.2.2023: Laut tel. Auskunft der Medienstelle Post hat der organisatorische Umbau dazu geführt, dass es die Funktion eines Posthalters heute nicht mehr gibt.]

  • Nr. 1 – Oberdorfstrasse 17 – spätestens 2.11.1842 bis 31.5.1852 – Postablage der Kantonalpost. Der älteste Eintrag im Speditionsregister datiert auf den 2. November 1842.    
  • Nr. 2 – Alte Post-Strasse 2 – 1.6.1852 bis 10.10.1954 – Eidgenössische Post, ab Eröffnung bis Ende Juli 1876 Haltestelle der Postkutsche. Daten nach Poststellenchronik KPD – Volkstümlich «Alte Post» genannt.
  • Nr. 3 – Stadlerstrasse 17 – 11.10.1954 bis 15.1.1995 – Daten nach Poststellenchronik KPD.

  • Nr. 4 – Bachweg 2 – 16.1.1995 bis 7.3.2009 – Daten nach Poststellenchronik KPD und Sammlung Erne.
  • Nr. 5 – Stadlerstrasse 4 – 9.3.2009 bis heute – Postagentur (Ymago) im VOLG-Laden. Datum nach Sammlung Erne.
Dass es nach dem Verständnis der Weycherinnen und Weycher der Stammsitz der Poscht-Meierhofer ist, den man heute als «Alte Post» bezeichnet (und nicht eines der drei sonst noch dafür infrage kommenden Gebäude, vgl. die Legende im Plänchen aus der Poststellenchronik KPD), rechtfertigt sich allein schon durch seine nachweislich über 100-jährige Geschichte als Standort der Poststelle Weiach.

Quellen und Literatur

  • Speditionsregister der Poststelle Weiach: Verzeichnis der Postgegenstände mit Datum, Herkunft, Wert, Porto etc., 1849-1852. [recte: ab 1842] –  MfK, PTT-Archiv, Signatur: P-08 A_PAA 00443
  • Poststellenchronik Weiach der Kreispostdirektion (KPD). – MfK, PTT-Archiv. Signatur: Post-199 A 0008_Weiach. [Von Ernst Schmid ausgiebig verwendete Quelle]
  • Poststellenchronik 8187 Weiach der Sammlung Erne. –  MfK, PTT-Archiv, Signatur: Post-498 D 8187_Weiach
  • Brandenberger, U.: Dreimal Post Weiach. WeiachBlog Nr. 178 v. 1. Mai 2006.
  • Schmid, E.: Postgeschichte Bezirk Dielsdorf. Philatelie und Heimatkunde. Windlach 2008 – S. 51-59, hier insbesondere S. 56. 
  • Brandenberger, U.: Unser Postbüro ist bereits geschlossen. WeiachBlog Nr. 666 v. 7. April 2009.
  • Brandenberger, U.: Werbung für den Weyacher Postboten, Februar 1762. WeiachBlog Nr. 1011 v. 22. Juni 2011.