Montag, 27. April 2020

Gesang auf den Strassen und der Ruf des Nachtwächters

Heimatliebe (und Gefühle überhaupt) würden die Schweizer durch das Singen ausdrücken. Das ist die Quintessenz, welche die Autorin Louise Griesser Patteson (1853-1922) aus dem Umstand zog, dass in ihrer alten Heimat selbst in kleinen Gemeinden mit wenigen hundert Einwohnern (wie Weiach) mehrere Musik- und insbesondere Gesangsvereine existierten.

Und in der Tat gab es da früher einiges, was zwar nicht immer von jahrzehntelanger Dauer war, aber doch immer wieder neu gegründet wurde. Zu nennen wären im 20. Jahrhundert insbesondere die Dorfmusik (eine Blasmusikformation, 1913 und 1957 aus der Taufe gehoben), der Männerchor (Gründung 1891) und der Kirchenchor (einer 1886 und einer 1930 gegründet). Offensichtlich war das Bedürfnis da - im Gegensatz zu heute.

Strassen blockiert durch sonntagnachmittägliches Singen

Patteson beschreibt das Singen als beliebte Freizeitbeschäftigung, vor allem am Abend nach dem Einnachten und am Sonntagnachmittag:

«The Swiss people express their love of country and of kindred largely through song. Even a village as small as Weiach with only a few hundred inhabitants had its female chorus, and its male chorus. One of the pleasantest memories of my home life as a child is the Sunday street singing. During Sunday afternoon the village maidens dressed in their picturesque costumes would form in a row that blocked the public highway from side to side, and promenade back and forth through the village. Sometimes they sang in the daytime, but always soon after dark there would be the loveliest singing. Pretty soon the male chorus would be heard, and later it was a mixed chorus that continued far into the evening.»

Auch der Ruf des Nachtwächters war ein Gesang

Bis spätabends wurde also gesungen. Aber nicht zu lange, denn schliesslich musste man am nächsten Tag wieder an die Arbeit. Für die Ermahnung sorgte der Nachtwächter:

«When that singing ceased, the refrain was taken up by a lone troubador, the night watchman. At ten o’clock he started his rounds, armed with a long cane and sang out in Swiss:

“Loset was i eu will sage!
Die Glock het Zehni gschlage.
Jetzt betet und jetzt gond is Bett,
Und wer a ruehig Gwisse het
Schlaf sanft und wohl! Im Himmel wacht
A heiter Aug die ganzi Nacht.”

The eleven o’clock chant warned any who still prolonged merriment [Vergnügungen] or worked over time, to desist:

“Loset was i eu will sage
Die Glock het Elfi gschlage
Und were no a der Arbet schwitzt
Und were no bi de Charte sitzt
Dem biet i jetzt zum letzte Mal
S ’isch hochi Zit—und schlafet wohl.

And so the warning became more urgent every hour until three o’clock, the night watchman’s last call. Freely interpreted these chanted warnings would be:

1. Listen to what I tell you: the clock has struck ten. Now pray and go to bed, and whoever has a good conscience will sleep well. In heaven an eye watches throughout the night.

2. Listen to what I tell you: the clock has struck eleven. Now whoever is still sweating at his work, or whoever yet may be playing cards, I tell you now for the last time—it’s high time, good-night.»

Von einer Polizeistunde ist in diesen Zeilen interessanterweise keine Rede. Entweder hat Luisa Griesser diese Massnahmen in ihrer Kindheit nicht wahrgenommen. Oder es gab sie tatsächlich nicht und die Ermahnungen des Nachtwächters waren ausreichend.

In Zeiten, als es noch viele Strohdächer gab (vor den Massnahmen der Gebäudeversicherung gegen diese brandgefährliche Eindeckung), da war ein Feuerwächter besonders wichtig, der frühzeitig Alarm schlagen konnte. Vor anderen Gefahren konnte er aber selbstverständlich auch warnen.

Quellen und Literatur
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 68-70.

Sonntag, 26. April 2020

Kirchensitzordnung nach Geschlecht, Amt, Zivilstand und Alter

Heutzutage kann man sich in der Kirche zum Gottesdienst an einen beliebigen Platz setzen. Einverstanden, nicht ganz. Denn es würde wohl schlecht ankommen, wenn man sich ins Chorgestühl oder gar auf die Kanzel setzte. Aber sonst: kein Problem.

Mitte des 19. Jahrhunderts gab es sogar noch Besitztitel an bestimmten Sitzplätzen in der Kirche, die den Besitzer wechseln konnten. Ein erhalten gebliebenes Zertifikat für einen «Weiber-Ort», ausgestellt im Jahre 1848 vom damaligen Pfarrer Hirzel, wurde in WeiachBlog Nr. 233 vorgestellt.

In ihrer Autobiographie «When I Was a Girl In Switzerland» beschreibt Louise Griesser Patteson (1853-1922), eine gebürtige Weiacherin, die in ihrem 15. Lebensjahr in die USA auswanderte, wie die Kirche ihrer Jugend aussah und wo sich die Gottesdienstbesucher zu setzen hatten:

«The church auditorium was long and narrow; the far end of it formed a half-circle. The body of the edifice was divided lengthwise by a wide aisle, on one side of which sat the men and boys, on the other side the women and girls. On the wall next to the women’s side there was an enclosure similar to an opera box, long enough to seat several people. This was for Frau Pfarrer and her family.» (S. 127-128)

Diese Beschreibung der Weiacher Kirche als rechteckiger Saal, dessen Sitzreihen durch einen Mittelgang unterbrochen werden, ist korrekt. Nicht ganz den richtigen Eindruck erweckt hingegen die Beschreibung des chorseitigen Abschlusses als «Halbkreis», was eher einer Apsis entspricht als dem tatsächlich anzutreffenden dreiseitigen Polygon auf der Nordostseite.

Die herausgehobene Stellung der Pfarrfamilie zeigt sich daran, dass sie über einen separaten Bereich verfügte (vgl. WeiachBlog Nr. 1497 v. gestern über die Pfarrersfrau als eine Art First Lady). Auf welcher Seite die Frauen sassen und auf welcher die Männer, wird von Patteson nicht erwähnt (vgl. dazu unten die Aussage der amtierenden Kirchgemeindepräsidentin).

Amtsträger sassen im Chorgestühl

Die Mitglieder des Stillstandes sowie der Vorsänger sassen für alle Besucher sichtbar auf den geschnitzten Chorstühlen, die sich entlang der Wände des Chorpolygons aufreihen:

«The half-circle in front was lined with seats similar to opera chairs, each chair having a partition so high that the occupants could not see each other unless they bent forward and looked around. In those stately chairs sat the officers and other dignitaries of the church. They always wore tall silk hats, which during prayer they held in front of their faces.» (S. 128)

Die Beschreibung, dass die Stillständer in der Kirche seidene Hüte trugen, habe ich bislang in keinem anderen Schriftstück gefunden. Bekannt war bisher, dass die Mitglieder der Kirchenpflege schwarze Mäntel tragen sollten (dies forderte beispielsweise Pfr. Hartmann Escher kurz nach seinem Amtsantritt 1753; vgl. WeiachBlog Nr. 226).

«I got the idea then that the object in having those seats face the congregation was to keep a watchful eye on the boys and girls in the low front benches.»  (S. 128-129)

Diese Einschätzung dürfte nicht ganz falsch gewesen sein, war doch der Stillstand gleichzeitig für das Armenwesen verantwortlich und hatte über Jahrhunderte als erste Instanz des Sitten- und Ehegerichts zu dienen. Diese Kontrollfunktion wurde durch die Platzierung im Chor gezielt akzentuiert. Da sass die Obrigkeit in Stellvertretung. Für jedermann sicht- und fühlbar. Eine Variante des Bentham'schen Panoptikums.

Sitzordnung auch nach Alter und Zivilstand

Zusätzlich zu den Platzierungsregeln nach Geschlecht und Amt gab es gemäss Patteson auch noch solche nach Alter und Zivilstand:

«Immediately behind the children on either side of the aisle sat the young, or rather, the unmarried people. Folks were counted as young until they were married, and sat in the young people’s seats. On the other hand, no matter how young a youth or lady married, they had to take their place after that with the married, and be counted as “old folks”.»  (S. 129)

Verheiratete sassen also im Rücken des unverheirateten Jungvolkes und ganz vorne die Kinder. Eine weitere Überwachungsmöglichkeit.

Von solchen Regeln wissen heute noch lebende Weiacherinnen und Weiacher nicht zu berichten, wohl aber von einer bis in die 60er-Jahre hinein informell eingehaltenen Geschlechtertrennung.

Elsbeth Ziörjen erinnert sich, dass noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Frauen links und die Männer rechts vom Mittelgang sassen (aus der Sicht des Gottesdienstbesuchers). Elly Meierhofer sei die erste Frau gewesen, die sich zu ihrem Mann auf die rechte Seite gesetzt habe.

Quellen und Literatur
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 127-129.
  • Brandenberger, U.: Besitzerzertifikat für den Sitzplatz in der Kirche. WeiachBlog Nr. 233 v. Sonntag, 25. Juni 2006.
  • Persönliches Gespräch mit Elsbeth Ziörjen-Baumgartner, Präsidentin der evang.-ref. Kirchenpflege Weiach, 19. April 2020.

Samstag, 25. April 2020

Frau Pfarrer, Schundliteratur und die Weiacher Bibliothek ab 1861

Wenn in der für amerikanische Leser verfassten Autobiographie «When I Was a Girl In Switzerland» von Louise Griesser Patteson (1853-1922) eine «Frau Pfarrer» erwähnt wird, dann muss man genau hinschauen. Denn die Autorin verwendet diese «Amtsbezeichnung» für zwei verschiedene Personen: Katharina Wipf (*1829), die Ehefrau von Pfr. Schweizer (1855 bis 1865 in Weiach), sowie die Ehefrau von Pfr. Stünzi (1866 bis 1897 in Weiach), von der dem Schreibenden bislang weder Ledigname noch Geburtsjahr bekannt sind.

Ihre Amtsbezeichnung trug diese Frau nicht einfach so. Sie war eine für das gesellschaftliche Leben relevante Institution mit eigenem Wirkungskreis, fast so wie eine First Lady, die heutzutage in den USA auch eine eigene Abkürzung (FLOTUS), einen Twitter-Account, etc. hat. Nur eben in diesem Fall auf kommunaler Ebene.

Engagement für gute Literatur und gegen Schnaps

Ein Teil ihrer informellen Autorität leitete sich (neben dem Amt des Mannes) auch von ihrer höheren Bildung ab, denn noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es nicht sehr üblich, einer aus der bäuerlichen Lebenswelt stammenden Frau eine Ausbildung zu finanzieren, die über eine Grundausbildung hinausging. Bürgerliche Haushalte hielten es da anders. Für deren junge Frauen gab es höhere Töchterinstitute und dergleichen.

Deshalb war die Pfarrersfrau auch geradezu prädestiniert für eine führende Rolle in den frauenspezifischen Interessenvereinigungen auf kommunaler Ebene. So bei der Handarbeitsschule oder beim Frauenverein, die beide eng zusammenhingen.

Ein Blick in die Liste der Präsidentinnen des Frauenvereins Weiach zeigt das auch für das 20. Jahrhundert deutlich: mit Frau Pfr. Kilchsperger (1913–1928), Frau Pfr. Hauser (1947–1956) und Frau Pfr. Wyss (1969–1980) sind rund 35 Jahre von der jeweiligen Pfarrersfrau geprägt worden (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 59, S. 171).

Dass sie sich dabei durchaus auch mit Exponenten anderer Vereine im Dorf anlegte, zeigt der folgende Protokollausschnitt vom Dezember 1949: «Frau Pfarrer war an der Kindervorstellung des Turnvereins. Sie sagte solch schlechte Theater seien doch nichts für die Kinder, und wir möchten nun die Vereine anfragen, ob Sie in Zukunft diese Kindervorstellungen nicht weglassen möchten? Frl. Vollenweider [1906-1952 (!) Lehrerin in Weiach] unterstützte dies lebhaft. Um dies zu erreichen wurden Unterschriften gesammelt. (ca 25)» (Weiacher Geschichte(n) Nr. 59, S. 167-168).

Auch den Kampf gegen das Brennen und Trinken von Schnaps schrieben sich Pfarrfrauen durch die Jahrzehnte hinweg immer wieder auf die Fahne (so z.B. Frau Pfr. Hauser, vgl. Protokoll der Vorstandssitzung des Frauenvereins vom 13. Oktober 1948, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 59, S. 167).

Kampf gegen Lesesucht und Schundliteratur

Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde darüber lamentiert, dass immer mehr Leute (vor allem Jugendliche und Frauen galten als Risikogruppen) zum Vergnügen wahllos lesen würden. Statt religiöse Literatur zur moralischen Stärkung zu konsultieren, werde Schädliches konsumiert, das die Leute von ihrer Arbeit abhalte, oder wie es Johann Franz Freiherr von Landsee, der fürstbischöflich-konstanzische Obervogt zu Kaiserstuhl, im Jahre 1778 ausdrückte (vgl. WeiachBlog Nr. 205):

«Jedermänniglich, wessen Stands und Alters derselbe auch seyn mag, will bey dieser Zeit lesen, und wie oft kommen einem solchen Bücher zu Handen, woraus derselbe nicht allein keinen Nutzen, sondern öfters an Religion und Sitten Schaden, und Nachtheil erwerbet?»

Die vielen neuen Bücher, die damals auf den Markt kamen, waren eben zu einem Grossteil keine religiöse Literatur mehr. Sondern Belletristik. Bücher also, die ihre Leserinnen in Traumwelten abgleiten liessen. Der Begriff der «Lesesucht» wurde geprägt (vgl. den sehr lesenswerten Wikipedia-Eintrag dazu). Mitte des 19. Jahrhunderts kam dann der Begriff der Schundliteratur auf, der seinen Bedeutungsinhalt über die Jahrzehnte bis heute mehrfach verändert hat (vgl. den Wikipedia-Artikel).

Frau Pfarrer Schweizer hilft bei der Gründung der Gemeindebibliothek

Nun zur eingangs erwähnten Autobiographie, die der Pfarrfrau auf S. 131 eine aktive Rolle bei der Entstehung der bis heute bestehenden Weiacher Gemeinde- und Schulbibliothek zuschreibt:

«Frau Pfarrer also organized among the church ladies a missionary society; and, last of all, she instituted a public circulating library

Auf den vorstehenden Seiten schreibt Patteson noch eindeutig von «our new Frau Pfarrer», also von Frau Pfarrer Stünzi. Ihr Mann trat sein Amt in Weiach jedoch erst 1866 an, nachdem Pfr. Schweizer im Oktober 1865 plötzlich verstorben war.

Wenn es sich bei dieser «public circulating library» nicht um eine Konkurrenzgründung gehandelt hat, was sehr unwahrscheinlich ist, oder die Bibliothek erst mehrere Jahre nach der Gründung den aktiven Betrieb aufnahm, dann muss aufgrund des Gründungsdatums der Weiacher Jugend- und Volksbibliothek (Schuljahr 1861/62; Annahme durch Schulpflege am 3. Januar 1862) angenommen werden, dass die als Mitbegründerin genannte Frau Pfarrer deren Vorgängerin war: Katharina Schweizer, geborene Wipf. Hier hat Patteson nach mehr als 50 Jahren möglicherweise etwas durcheinandergebracht.

Sob-stuff!

Die folgende Passage Pattesons (ebenfalls von S. 131) liest sich wie eine Begründung für die Einrichtung einer Volksbibliothek, in der gute Schriften (wie man das damals nannte) verfügbar sind:

«Previous to the establishment of the library I just read whatever I happened to find. I think that the public mind, juvenile and adult, was fed all sorts of sensational stuff. I remember reading one story entitled “Genoveva”, which retailed the marital unhappiness of a woman whose jealous husband had banished her to a forest. There was nothing at all in the book to feed a child’s aspirations, nor to stimulate wholesome imagination. It was just a mass of “sob-stuff”, but it passed as a children’s book. Another book I remember reading at that time (it had only a paper cover) detailed the life history of a man who had poisoned his father and mother, and who was condemned to death. I even remember his name, Jacob Furrer, and the fact that he was a butcher’s apprentice, and much more that need not be told here. All this rubbish was impressed on a young mind which was eager for better things. And what a lasting impression it made! Over fifty years have elapsed, and the narrative is as fresh in my mind as if it had been read yesterday.»

Der Begriff «sob-stuff» wird im Cambridge Dictionary mit «spoken or written stories that are intended to cause very sad feelings» erläutert. Solche Printprodukte wurden oft über den Kolportagebuchhandel vertrieben, d.h. von Hausierern für wenig Geld verkauft. Am besten laufen natürlich reisserische Geschichten, wie die von einem jungen Metzgerlehrling, der seine Eltern umbringt. Louise Patteson hat wohl so ein Schriftchen über den Fall Johann Heinrich Furrer aus dem Zürcher Oberland gelesen (vgl. Quellen und Verweise unten). Schriften zu diesem aufwühlenden Doppelmord mit Todesurteil und nachfolgender, heftig diskutierter Begnadigung dürften sich bestens verkauft haben.

Patteson erklärt im weiteren Verlauf auch, wo sie diesen «sob-stuff» verschlungen hatte, nämlich auf dem Kachelofen, der auch als Brotbackofen diente:

«I recall that when I read that story I was staying home from school because I had the mumps. Could it be this fact made me more impressionable? I was nursing myself on top of the hospitable tile stove, which is an integral part of every Swiss living-room. The tile stove with a feather-bed on top was the usual refuge for any member of the family who had a slight indisposition.

The firing of the tile stove was done in the kitchen, just on the other side of the wall. On baking day the ashes were scrupulously removed and the ten to twelve big loaves of rye bread lifted in, one at a time, on a wooden spade, and slid off on the bare stone bottom. This made wonderfully savory bread. The cooking range was beside the oven door, and overhead in the sooty chimney hung the hams, sausages, bacon, etc., being “smoked”.»

Ein Pädagoge und zwei Malerinnen des ausgehenden 18. Jahrhunderts

Etwas weiter hinten (S. 133-135) beschreibt die Autorin, welche Erkenntnisse sie dank der «guten Literatur» in der Weiacher Bibliothek gewinnen konnte:

«After the library was opened we children had access to the best of children’s books. I remember reading at that time, and also hearing discussed in the family, Pestalozzi’s famous classic, “Leonard and Gertrude”.»

Gemeint ist Johann Heinrich Pestalozzis Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk von 1781. Der Hauptprotagonist Lienhard lässt sich zu oft zu Wirtshausbesuchen verführen, was seine ganze Familie in Schwierigkeiten bringt. Womit wir wieder beim Thema Alkohol wären.

«There was also circulation of excellent magazines. I recall seeing in magazines and poring over with pride and admiration pictures of some of my distinguished countrywomen, including Miss Angelica Kauffmann. This was a revelation to me. Up to that time I had never had but one woman teacher, and she only teacher of sewing. I had never known but one woman to visit a school, our Frau Pfarrer in the sewing-school. I had never seen a woman inside of our regular schoolrooms except to sweep and to dust and to scrub. I had never seen a woman in the church except on similar errands, or as a humble worshiper. We did not even have women to teach in the Sunday School. Naturally I was surprised and delighted to learn that Switzerland had two world-famed artists in Angelica Kauffmann and Mary Moser.»

«Da sieht man, was Lesen im Kopf einer Frau anrichten kann!», würde Freiherr von Landsee einwerfen. Und sich dann damit beruhigen, dass Louise Patteson in ihrem Leben doch nicht alles verkehrt gemacht hat, Gemeindebibliothek sei Dank.

«I was further surprised and delighted to learn that the brilliant Madame de Stael was of Swiss birth and parentage. In magazines I also saw for the first time pictures of Pestalozzi and of Zwingli and other Swiss notables.

How much I owe to our good Frau Pfarrer for the part she had in establishing that first public library in our village may never be exactly determined. I do know that the first paper I ever read before a women’s club was on the life of Angelica Kauffmann. And I became so interested as time went on in the life-work of Pestalozzi, that the first return to my native land was primarily to visit all the places where he had lived and taught. I believe much, if not all, of this is due to the unostentatious labors of our good Frau Pfarrer in the little village of Weiach on the Rhine.»

Womit die Gründerinnen und Gründer unserer Gemeindebibliothek von ennet dem grossen Teich postum ein dickes Lob einfahren durften, das bis heute seinen Nachhall hat. Einige der ersten Bücher, die in dieser Bibliothek auflagen, sind übrigens heute Teil der Sammlung des Ortsmuseums Weiach.

Quellen und Verweise
  • Johann Heinrich Furrer. (Der Mörder seiner Aeltern) Canton Zürich 1864. In: Der Neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit. Begründet vom Criminaldirector Dr. J. E. Hitzig und Dr. W. Häring (W. Alexis). Fortgesetzt von Dr. A. Bollert. Neue Serie. Zweiter Band. Arnstadt 1867.
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 131, 133-135.

Freitag, 24. April 2020

Der Amerikanische Bürgerkrieg im Weiacher Schulzimmer

Der Sezessionskrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten der USA (der auch noch viele andere Namen hat) dauerte vom 12. April 1861 bis 23. Juni 1865. Begonnen hatte dieser Konflikt allerdings bereits im Dezember 1860 mit der Sezession von South Carolina und war eigentlich erst Mitte Juli 1870 mit der Wiederzulassung von Georgia zur Union abgeschlossen (mehr zu Ursachen, Ablauf und Hintergründen im entsprechenden Wikipedia-Artikel).

Der brutal geführte Bürgerkrieg, der einer der ersten war, die fotographisch dokumentiert wurden, war auch in Weiach Gesprächsthema. Nicht nur in der Schulstube der 4.-6. Klasse, was schon sehr bemerkenswert ist. Sondern auch unter den Einwohnern des Dorfes, wie sich Louise Griesser Patteson, 1853 geboren und 1867 in die USA ausgewandert, in ihrer Autobiographie erinnert:

«It was during the years 1862 to 1865, while the Civil War raged in this country, that I attended the grammar school. I remember well how, whenever the term “United States” occurred in our history or geography, the teacher would say “United (but now disunited) States”.

During this time the main topic of conversation between my father and his friends was the great civil war in America. “If only this war were over”, was a phrase I heard over and over again. Every Saturday the newspaper was delivered to us by a woman. I remember the enormous black headlines telling of President Lincoln’s assassination, and how the grief over that tragedy clouded the rejoicings over the close of the war.

I had no idea then I would ever see America, much less that I would become a citizen of this great and good country.»

Wenn man weiss, dass Louises Vater kurz danach in die USA emigrierte, dann erstaunen diese Gespräche und vor allem der Wunsch, der Bürgerkrieg möge zu Ende gehen, allerdings wenig. Denn einer solchen Auswanderung geht ja in der Regel eine längere Abklärungsphase voraus. Einfach so ins Blaue hinein tut man einen solchen Schritt nicht. Und da waren nicht endenwollende Kriegsnachrichten aus dem anvisierten Land natürlich ein brennendes Thema. Man wusste ja schliesslich 1862 nicht, wie lange der Krieg dauern und in welchem Zustand er das Land zurücklassen würde.

Das von Louise Patteson erwähnte Blatt kann jedenfalls nicht die Zürcherische Freitagszeitung  gewesen sein, denn da gab es keine grossen Schlagzeilen. In der genannten Freitagszeitung wurde die von den Südstaaten gegründete Konföderation übrigens als «Sonderbund» bezeichnet. Das kannten die Leser aus eigener eidgenössischer Erfahrung von 1845 bis 1847. Auch diese Abspaltung katholischer Kantone hatte ja zu einer – wenn auch wesentlich kürzeren und viel weniger blutigen – militärischen Auseinandersetzung geführt, dem Sonderbundskrieg von 1847 (vgl. den Beitrag von René Roca im e-HLS zum Sonderbund und dessen Auflösung mit militärischen Mitteln).

Quelle
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 94-95.

Donnerstag, 23. April 2020

Vom Lehrer regelmässig schikaniert und geschlagen

Lehrer waren früher Respektspersonen, über jede Kritik erhaben, vor allem von Seiten ihrer Schüler. So wie auch die Pfarrherren. Das hatte Folgen, wie Louise Patteson, geborene Luisa Griesser (1853-1922), 1867 die USA ausgewandert, in ihrer Autobiographie über ihre Kindheit in Weiach beschreibt:

«Teachers were supplied by some district or cantonal board, the same as ministers. In a Swiss village in those days, next to the Herr Pfarrer, the schoolmaster was the august personage.»

Was die Zuteilung der Pfarrer betrifft, so stimmt diese Angabe ab den 1830ern nicht mehr. Nach der liberalen Staatsumwälzung durften die Kirchgemeinden ihren Pfarrer selber wählen. Davor bestimmte der Kleine Rat (heute: Regierungsrat) den Weiacher Pfarrer.

Die Häufigkeit, mit der Luisa in der Unterstufe (1.-3. Klasse) als Strafe sogenannte Tatzen bekam, wird von ihr mit dem schlechten Verhältnis zwischen ihrem Vater und dem Lehrer erklärt:

«My father had been one of a group of men in Weiach who had become dissatisfied with the teacher. This made it unpleasant for me from the start. He underrated my work wherever he could, and did many things, the injustice of which I realized when I became old enough to judge of such things. For instance, he gave me all the way from six to a dozen “taps” on the bare hand with his broad ruler almost daily, just because my handwriting did not suit him. Yet I know that I always loved to write, and so naturally would do my very best in that branch. But there was no attempt to recognize effort; only results were considered.

Once the teacher discovered that I was sitting on some books. I was short of stature and the desk was high, and I tried to raise myself to a more comfortable position. One was a broad flat book, something like the ordinary geography. He took that book and hit me across the head and the back with it several times.

In springtime we girls used to make our own balls to play with, in the way I have already described [vgl. WeiachBlog Nr. 1492]. One year I had such a pretty ball, I just loved to look at it. Once the teacher caught me doing so. He took the ball away from me and kept it a long time, just when I most wanted to play with it.

One might wonder why I did not complain to my parents of such treatment. The fact is that in my young days I was so imbued with the infallibility and the superiority of a schoolmaster, it never occurred to me to make complaints at home about harsh treatment in school.

For three years I submitted to this treatment in all meekness; then I was promoted to the grammar school.»

Eine solche Art von Demut hatte natürlich auch damit zu tun, dass ein Kind in vielen Fällen zuhause gleich noch einmal abgestraft wurde. In der Annahme, dass die Lehrperson ja schon gute Gründe gehabt haben musste und die Strafe gerechtfertigt war. Gut möglich, dass Luisa als Unterstufenschülerin noch nichts vom gespannten Verhältnis zwischen dem Lehrer und ihrem Vater wusste.

Der Verfasser des WeiachBlog kann sich noch an Episoden aus den 1970ern erinnern, als er von einem Werklehrer erwischt und an den Haaren ab Boden gehoben wurde. Ein Schreckerlebnis von dem er zuhause auch nie etwas erzählt hat. Denn der Ärger des Lehrers war durchaus gerechtfertigt. Was für ein Kontrast zu heute. Solche Übergriffe können sich Lehrpersonen unserer Tage nicht mehr leisten.

Hinweis: Ob es sich beim oben beschriebenen Lehrer um J. Jakob Morf gehandelt hat, der schon an einer früheren Lehrerstelle Probleme hatte und 1867 in Weiach wegen «Unfähigkeit» ins Visier der Bildungsdirektion geriet, ist bislang nicht bekannt.

Quelle
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 91-93.

Mittwoch, 22. April 2020

Wie der Sigrist alle drei Glocken läutete

Wenn man früher in der Nähe der Kirche wohnte, dann war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man den Sigrist entweder selber in der Familie hatte oder zumindest nicht weit entfernt. 

So war das auch bei der an der Büelstrasse wohnhaften Louise Griesser Patteson (1853-1922), die 1920 eine Autobiographie über ihre Kindheit in Weiach zu Papier brachte:

«I do not remember having more than three playmates during those early years. One was Vreneli, the sexton’s daughter. Her father always rang the church bell on Sundays, and when there was a wedding or a funeral, and every evening at six o’clock when it was “betzyt”, meaning prayer time.» (S. 21)

Die drei Glocken im Dachreiter der Weiacher Kirche wurden 1843 in Unterstrass gegossen. Sie wiegen 195 kg (Kleine Glocke – Totenglöcklein),  340 kg (Mittlere Glocke – Betzeitglocke) und 665 kg (Grosse Glocke). 

In der Regel dürfte es so gewesen sein, dass der Sigrist allein läutete, nämlich für die Betzeit, sowie bei Beerdigungen. Aber für das volle Geläute, da fehlte dann doch eine Hand. Und ein Angehöriger musste mithelfen. Und wenn es ans Arbeiten geht, dann wurden auch Kinder früh dafür eingespannt:

«After my school-days began, I had every succeeding year less time for play. Already during the years of the primary school [gemeint: 1.-3. Klasse] certain tasks were definitely assigned to me. This is a common custom in Switzerland, and a Swiss child takes to it naturally.» (S. 153)

«Vreneli also had the usual tasks of carrying wood and water, etc. Another of her tasks was to help her father ring the church bells. She could ring the small one, and he could ring two at one time.» (S. 155)

Um die Glocken läuten zu können, musste man noch bis in die zweite Hälfte der 1950er-Jahre in den Dachreiter steigen und die Glockenseile in die Hand nehmen.

«Once I went with her into the belfry to help; but when those three bells began to ring it made such a deafening roar I was scared all but to death. I began to cry and I ran down the narrow stairs and out of the church as fast as I could, and never went up there again.» (S. 155)

An Gehörschutz dachte damals offensichtlich keiner...

Quelle und weiterführende Literatur
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 21, 153 u. 155.
  • Weiacher Geschichte(n) Nr. 72 v. November 2005 (Gesamtausgabe S. 235-236) 
  • Elektrisch geläutet wird erst seit 50 Jahren. WeiachBlog Nr. 366 v. 24. Januar 2007.

Montag, 20. April 2020

Als Schulklassen noch ganze Dächer deckten

Wissen Sie noch, wie Kalender früher ausgesehen haben? Ich meine diese Abreisskalender mit den Sinnsprüchen auf der Rückseite. Da hatten die Werktage schwarze Ziffern und die Feiertage rote. Rote Ziffern bedeutete: Freizeit! Oder – wie wir noch sehen werden – zumindest Abwechslung vom Alltagstrott.

So dachte auch Louise Griesser Patteson (1853-1922), die als Kind in Weiach aufwuchs und 1867 ihrem Vater in die USA folgte, zusammen mit ihrer Stiefmutter und ihrem Bruder.

Der heutige WeiachBlog-Beitrag zeigt, wie sich früher die Gemeinschaft an grösseren privaten Projekten beteiligte. So wie es heute noch bei den Amish üblich ist. Wenn jemand ein Haus baut, helfen die Dorfgenossen mit. Elemente davon gab es Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Weiach, wie Patteson berichtet:

«There were red-letter days of a different kind [in den vorangehenden Zeilen war die Rede vom Amtsantritt eines neuen Lehrers]. For instance, if a new house was being built in our village we children knew that when it came to the roofing it would mean a half-holiday for the grammar school. Now that seems queer, doesn’t it?»

Queer im Sinne von komisch, eigenartig. Nicht von homosexuell und dergleichen. Und mit der Grammar School ist hier wohl die Mittelstufe gemeint, also die 4.-6. Klasse.

«Well, it happens this way: when the house is ready to be roofed the builder or owner will ask the teacher to let his children help. Of course, he consents. The girls and boys from the grammar school then go to the house in question. Ladders are placed that reach from the ground to the roof. On top of the house near every ladder is a man. Some of the strongest boys then climb to the top rung of the ladder, others follow, and in a few minutes every ladder has a boy or girl seated on every alternate rung. On the other rungs they rest their feet. Some helpers on the ground now begin to hand tiles, one after another, to the children on the lowest rungs. These take hold firmly with both hands, pass them quickly to the next above and the next to the next above and so on. As the tiles reach the boys on the topmost rungs they hand them to the men who put them in place. Once fairly started the work proceeds so very fast that in a few hours the roof is tiled. But it is bad for the eyes, because dust and other particles fall from the tiles as they are passed overhead.

When the work is finished the children have a treat, and it has to come up to the standard of the spread served by the school board on Examen day, or the builder would never hear the last of it.»

Interessant, dass anscheinend nur der Lehrer gefragt werden musste - und nicht die Schulpflege. Und dass sich auch die Schulaufsichtsbehörde daran anscheinend nicht störte.

Also: Ganze Schulklassen, die beim Eindecken eines privaten Daches mit Ziegeln helfen, indem sie stundenlang hunderte Ziegel in Empfang nehmen und über Kopf weiterreichen. Und dafür ein reichhaltiges gutes Zvieri erhalten (denn das gab es damals nach erfolgreich überstandenem Examen). In jener Zeit war das offensichtlich gang und gäbe. Zumindest in Weiach.

Man stelle sich diese Situation heute vor. Ein Aufschrei ginge durchs Land... Von den fehlenden Schutzbrillen gegen den Ziegelstaub und den Absturzgefahren wollen wir jetzt gar nicht reden. Ganz abgesehen davon, dass sich heutige Kinder damit einen gehörigen Muskelkater in den Armen einhandeln würden.

Quelle
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 108-109.

Sonntag, 19. April 2020

Eine Pfarrhaustreppe, fast so weiss wie Schnee

Louise Patteson, geborene Griesser aus Weiach, hatte ihre Mutter früh verloren. Ihr Vater war selbstständiger Schlosser und seine Haushälterin liess dem Kind viele Freiheiten. So erkundete Luisa (wie sie damals noch hiess) auf eigene Initiative die Umgebung ihres Elternhauses an der Büelstrasse 10 (unteres Gebäude im roten Kreis).

Siegfriedkarte 1880 (Quelle: maps.zh.ch)

Ein herrschaftliches Haus

Zu ihren Bekannten gehörte auch Katharina Wipf, die Ehefrau von Pfr. Joh. Ludwig Schweizer (in Weiach von November 1855 bis zu seinem Tod im Oktober 1865):

«Then, of course, I sometimes visited our “Frau Pfarrer”. Her husband was the “Herr Pfarrer”, or minister. In Switzerland a lady shares the title of her husband: if a doctor, she is Frau Doctor; if a professor, she is Frau Professor, and so on.

Frau Pfarrer lived in the “Pfarrhaus”, as the parsonage was called. It was near our house, and right beside the churchyard gate. When I went to her house I had to ring a bell. Then somebody upstairs did something to make the door fly open. First there was a big hall with red tiled floor, then there were stairs almost as white as snow. I forgot to say that you had to wipe your feet on an iron rack and then on a rope mat, before the door would fly open.

Those stairs were scrubbed every week, whether they needed it or not. The woman who scrubbed at the Pfarrhaus was also my friend.»

Das Weiacher Pfarrhaus (Büelstrasse 17; dendrochronologisch datiert auf das Jahr 1564) liegt direkt an der Südostecke des Friedhofs. Bevor man sich die dreckigen Schuhe am Schorreisen abgestreift und auf der Fussmatte weiter gereinigt hatte, kam man nicht in dieses herrschaftliche Haus hinein.

Weiter gab es damals offenbar eine Fernbedienung für die Türöffnung, wohl mechanisch mit einer Art Drahtzug. Diese Umstände und die Grösse der mit Bodenplättli versehenen Eingangshalle haben die Dorfkinder beeindruckt, denn so etwas gab es in Bauernhäusern nicht.

Auch die weisse Treppe in die Obergeschosse ist im Gedächtnis haften geblieben. Solche Treppen musste man regelmässig spähneln, wischen, neu wachsen und dann polieren. Und zwar wöchentlich, Verschmutzungsgrad egal.

Lauschiges Gartenhaus als Eckpunkt

«Around the Pfarrhaus there was a big garden with graveled paths, and near the gate there was a summer-house covered with vines. During pleasant weather Frau Pfarrer often sat in there with her fancy-work [feine Handarbeit; Stickerei]. This summer-house was one of my favorite spots in the whole village. There was a table in it, and benches, and windows to look through.»

Dieser Pfarrhausgarten war anders als die Bauerngärten, was sich zu Luisas Jugendzeit an den gekiesten Wegen zeigte. Und in späteren Jahren am Umstand, dass er als einziger im Dorf eine Rasenfläche aufwies.

Einzigartig im Dorf war auch das Gartenhaus, das an der Südwestecke in die Umfassungsmauer integriert ist.

Die Bildqualität im Scan von Pattesons Werk wurde durch die Kongressbibliothek reduziert, um die Datei nicht unnötig aufzublasen. Zur Illustration werden daher Fotos des Ortschronisten Walter Zollinger verwendet (vor Sommer 1963 aufgenommen):

W. Zollinger: «altes Gartenhäuschen b. Pfarrhaus (v. innen)».
Quelle: G-Ch 1962, S. 14.

W. Zollinger: «altes Gartenhäuschen bei der Ecke der Pfarrhausmauer von aussen her». 
Quelle: G-Ch 1962, S. 27.

«A Swiss girl learns very early how to knit, and our Frau Pfarrer taught me in that summer-house before I was old enough to go to school. She also taught me how to make the balls that we girls used to play with. We just took a wad of paper and wrapped some yarn around it until it was the right shape and size. Then we covered it with a layer or two of brightly colored worsted [Kammgarn] and sewed it round and round with fancy stitches.

There was a wall around the Pfarrhaus garden almost as tall as the summer-house itself. The only place where an outsider could get a glimpse of the garden was through the iron gate.»

So ist es bis heute. Besagtes Eisentor befindet sich an der Westecke des Pfarrhauses.

Das Gartenhaus Büelstrasse 17.2 
Quelle: Karte Topografische Namen, maps.zh.ch

Quellennachweis
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 16-18.
  • W. Zollinger: Chronik des Jahres 1962. Typoskript in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich, Signatur: G-Ch Weiach 1962.

Samstag, 18. April 2020

Seidenweberei als staatlich gefördertes Heimwerk

Dass Weiacherinnen einst (vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) in grösserer Zahl in Heimarbeit für die Seidenstoffindustrie tätig waren, darüber hat diese Publikation bereits vor fast zehn Jahren berichtet, vgl. Seidenspinnerei im Verlagssystem (WeiachBlog Nr. 861 v. 17. Juni 2010) sowie Eine Lehranstalt für Seidenweberinnen (WeiachBlog Nr. 862 v. 18. Juni 2010).

Einen richtigen Boom gab es, nachdem der Landwirthschaftliche Verein Weiach in den 1840er-Jahren unter tatkräftiger Mithilfe des Weiacher Pfarrers Hirzel für das Pflanzen von Maulbeerbäumen sorgte, womit sich etwas später von der Raupe bis zum fertigen Stoff die ganze Produktionskette im Dorf befand. 1853 gab es in Weiach (nach Helene Baltensberger) sogar eine Ausbildungsstätte für Seidenweberinnen.

Im selben Jahr 1853 war es Pfr. Hirzel, der Louise Griesser Patteson getauft hat, die sich später in den USA als Tierbuchautorin einen Namen machte. Sie gibt in der (schon in den vergangenen Tagen in Auszügen vorgestellten) Autobiographie über ihre Jugend in der Schweiz einen persönlichen Einblick in den damaligen Erwerbszweig Seide.

Den betreffenden Abschnitt leitet Patteson mit einer wirtschaftspolitischen Betrachtung ein:

«In Switzerland handwork and home-made things are favored by the Government over factory products. People who make things in their own homes do not have to pay as high a tax as those do who make them on a large scale in factories. This is done to encourage people to be their own masters, instead of serving somebody who wants all the profits. For this reason many industries, such as weaving, knitting, braiding of straw, watchmaking, and wood-carving, are extensively carried on in homes, and every locality has some leading home industry.»

Eine sehr sinnvolle beschäftigungspolitische Massnahme. Heute würde diese Art von Selbstständigkeit von den AHV-Stellen wohl nicht mehr toleriert. Jedenfalls dann, wenn diese  Weberinnen, Strickerinnen, Strohflechter, Uhrenmacher und Holzschnitzer de facto im Home Office unter klaren Produktionsvorgaben eines immer gleichen Verlagsherren arbeiten (und von ihm auch die Rohseide beziehen). Anders sähe die Sache wohl aus, wenn sie glaubhaft machen könnten, dass das gesamte Risiko inklusive jenes der Nichtverkäuflichkeit der gewebten Stoffe an verschiedene Händler auf ihren Schultern lastete. Doch lesen wir weiter bei Patteson:

«The great home industry in my part of the country was silk-weaving, and it was pursued almost entirely by women. My Aunt Verena, Father’s older sister, had two daughters who were silk-weavers. Their looms were in a wing which had been added to their house for this especial purpose, and this room was to my childish notion the prettiest I had ever known. It was papered in blue and white, and the flowers were the lovely Swiss gentians. I loved to go there, too.»

Mit etwas genealogischer Arbeit in den Kirchenbüchern, kombiniert mit einem Blick in die Lagerbücher der kantonalen Gebäudeversicherung, könnte man nun wohl sogar herausfinden, wo sich das Haus dieser Tante Verena befand, in dessen Anbau mit Enzianmotiv-Tapete die Webstühle der beiden Töchter standen. Bei rund 40 Webstühlen, die es in dieser Zeit in Weiach gab, verwundert es nicht, dass diese beiden nicht die einzigen Bekannten der jungen Luisa Griesser waren, die sich als Seidenweberinnen betätigten:

«Another silk-weaver friend was Nenna, who had her loom in the living-room. The walls in her house were not so pretty as those at my cousins’; they were finished in wood, and looked dark and gloomy.
Every day Nenna sat at her loom, just as my cousins did, plying a shuttle from side to side. She made a web of silk, and so did my cousins, about once a month, as I heard them say. Every so often the three went away somewhere all dressed up, each carrying an immense roll of something on top of the head. It was the bolt of silk cloth that they had woven, and they were taking it to the city, five hours distant.

In those days distances were measured by hours, and an hour was about three American miles. Now distances are measured by the metric system.»

In der beschriebenen Zeit gab es noch keine Eisenbahn ins Zürcher Unterland. Man musste den Weg in die Stadt Zürich unter die Füsse nehmen, je rund fünf Stunden hin und zurück. Und wie in afrikanischen Ländern heute noch üblich mit den Waren auf dem Kopf. Das änderte sich erst am 1. Mai 1865, als die sog. Herdöpfelbahn ihren Betrieb aufnahm. Wer es sich leisten konnte, nahm ab Niederglatt den Zug.

Quelle und weiterführende Literatur
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co.,
    Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; 
    PDF, 11 MB] – S. 13-15.
  • Meier, Th.: Handwerk, Hauswerk, Heimarbeit. Nicht-agrarische Tätigkeiten und Erwerbsformen in einem traditionellen Ackerbaugebiet des 18. Jahrhunderts (Zürcher Unterland). Diss. Univ. Zürich. Chronos, Zürich 1986.

Donnerstag, 16. April 2020

Freund und Feind im Tod vereint

«Ordnung muss sein. Auch bei Grabmälern», so lautete der Titel von WeiachBlog Nr. 333. Und in der Tat ist die Reglementierungsdichte nach dem Modell Egalité auf vielen Friedhöfen in der Schweiz eine sehr ausgeprägte. Man erkennt das bei einem Besuch in unseren Nachbarländern.

Der Weiacher Dorffriedhof hat ein begrenztes Platzangebot. Art. 16 Abs. 1 der kommunalen Friedhof- und Bestattungsverordnung (SR Weiach 880.1) drückt sich unmissverständlich aus: «Die Ruhezeit der Gräber richtet sich nach der kantonalen Bestattungsverordnung und beträgt zur Zeit 20 Jahre.»

Wo man noch auf dem alten Friedhof im Oberdorf die Toten eine Lage über den früheren bestattet hat, da werden heute die Gräber ganz geräumt. Man mag das pietätlos nennen. Aber das ist nun einmal die vom säkularen Gemeinwesen angeordnete allgemeine Praxis.

Auch Louise Griesser Patteson hat den Friedhof in ihrer Autobiographie mehrfach erwähnt (vgl. den Beitrag von gestern über das Armenhaus an der Friedhofsmauer). Sie erklärt ihren amerikanischen Lesern auch, was in der Schweiz anders ist - und knüpft noch ein hübsches lokales Anekdötchen an:

«A Swiss churchyard belongs to the commonwealth, and is usually large enough to last the community about twenty years. When it is filled, burials are again started at the place of beginning. No one may buy a burying lot. Each must take his chance and be buried when his turn comes, beside the one immediately preceding. It happened in Weiach that two women who had been lifelong enemies died only a few days apart, and so were buried side by side. One was Barbara our seamstress, the other her sister-in-law.»

Auch über den mutmasslichen Grund der Feindschaft der beiden nun im Tode qua Friedhofsreglement nebeneinander liegenden Frauen hat sich die Autorin geäussert. Davon später in einem Artikel über die Dorfbrunnen.

Quelle und Literatur
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston, October 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 181-182.
  • Friedhof- und Bestattungsverordnung der Politischen Gemeinde Weiach vom 23. November 2004, revidiert durch Gemeindeversammlungsbeschluss vom 1. Dezember 2016.

Mittwoch, 15. April 2020

Wie man renitente Bewohner aus dem Haus wirft

Sie wollen einen Hausbewohner loswerden? Ohne Polizeieinsatz? Wie das geht, hat die Gemeinde Weiach in der zweiten Hälfte der 1850er-Jahre vorexerziert. Doch alles der Reihe nach.

Wir blättern diese Woche ja im autobiographischen Werk der aus Weiach stammenden amerikanischen Autorin Louise Griesser Patteson (1853-1922). Darin wird ein ganzer Strauss von Begebenheiten geschildert, die sich zu einem grossen Teil in Weiach zugetragen haben.

Im ersten Kapitel findet sich eine Beschreibung des Weiacher Armenhauses und seiner Bewohner. In den Jahren, um die es in Pattesons Werk geht, wurden Armengenössige in einer der Gemeinde gehörenden Liegenschaft einquartiert, die direkt am Friedhof lag, nämlich dort, wo sich seit 1857 das Alte Gemeindehaus befindet. Und um diese Bewohner geht es im Folgenden:

«There was in our village a poor-house. In it on the ground floor lived an old couple known as the Christofels. They had a goat, for in Switzerland the goat is the poor man’s cow. Every so often there were baby goats. We called them "gitzeli", and they were very lively little playmates. I do not remember where the mother-goat stayed nights, but the gitzeli had their bed under a bench in the living-room, and in daytime they were all about the house.»

Allein schon bei dieser Schilderung der Lebenssituation dieses alten Paares würden heutige Sozialarbeiter die Krise bekommen. Nutztiere, die mit den Menschen in der Stube leben? Die dort natürlich auch ihre Böhnlein und ihren Urin hinterlassen? Geht schon einmal gar nicht. Doch lesen wir weiter:

«Frau Christofel always served whatever they had at a meal in a big brown dish. From a leather strap tacked to the wall in loops, each took a spoon and both ate from the same dish. They never invited me to eat with them, but that was, I suppose, because they had only those two spoons.

Up-stairs in the same house lived a family with children. The house was so very old it had to be torn down, but those people just wouldn’t move. I was in their room one morning when they were eating breakfast and one side of the building was already gone, so that I could look right out into the churchyard. But finally they did go, and then the village built a fire-engine house on the spot, with some rooms up-stairs where the band used to play.»

Nun, ganz so alt wie die Autorin es darstellt, war das Haus dann doch nicht. Es wurde 1802 als Ersatz für das 1799 abgebrannte Mehrzweckgebäude (Gemeindehaus und Schulhaus in einem) errichtet. Und war krisenbedingt wohl nicht gerade von allzu bester Qualität. So könnte sich der baufällige Zustand nach rund 50 Jahren erklären. Eine weitere Erklärung läge darin, dass die Gemeinde nach dem Bau des Alten Schulhauses und dessen Eröffnung im November 1836 wohl nicht mehr allzu viel in das Gebäude an der Friedhofmauer investiert hat. Spätestens ab 1851 war nämlich die Armengemeinde Weiach Besitzerin der Liegenschaft.

Und dann kam Ende 1856 der Entscheid der Politischen Gemeinde, ein neues Gemeinde- und Spritzenhaus zu bauen, der 1857 auch umgesetzt wurde. Die von der Autorin Luisa Griesser erlebte drastische Massnahme, die friedhofseitige Mauer schon abzureissen, bevor die Bewohner ausgezogen waren, belegt eindeutig, dass es sich bei diesem Armenhaus um den Vorgängerbau des Alten Gemeindehauses gehandelt haben muss. Denn sonst konnte und kann man von nirgendwoher direkt in den Friedhof schauen.

Auch dass die Autorin das neu erstellte Gebäude als Feuerspritzenhaus bezeichnet, ist ein weiterer Beweis für ebendiesen Standort. Interessant der Umstand, dass es damals eine Dorfmusik gab, die im Gemeinderatszimmer im Obergeschoss ihr Übungslokal hatte.

Quelle und Literatur
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston, October 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 20-21.
  • Brandenberger, U.: Dreissig Tannen, vierzig Eichen und eine neue Feuerspritze. Warum vor 150 Jahren das Alte Gemeindehaus erbaut wurde. Weiacher Geschichte(n) Nr. 98; In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Januar 2008 – S. 12-17.

Dienstag, 14. April 2020

Lernen in der Natur? Didaktische Konzepte 1860 vs. 1910

Das im gestrigen WeiachBlog-Beitrag erwähnte autobiographische Werk von Louise Patteson, geb. Griesser, enthält viele Bezüge zu Weiach, davon nicht weniger als 27 direkte Nennungen des Ortsnamens. Heute und in den kommenden Tagen werden einige dieser Fundstellen vorgestellt und kommentiert. Auf die Übersetzung des englischen Originals wird hingegen weitgehend verzichtet. Die Zitate sollen für sich selber sprechen.

Wie im einleitenden Artikel erwähnt, führte die Autorin eine Lehranstalt für Stenographie, die sogenannte Amanuenses' School, deren Absolventen für die Tätigkeit als Assistenten und Assistentinnen im kaufmännischen und wissenschaftlichen Bereich vorbereitet wurden. Louise Patteson hat dabei einerseits die utilitaristische Grundströmung der USA vermittelt, denn wie sie im Vorwort ihres Steno-Lehrbuchs schreibt, sollten sich die Schüler während des Unterrichts voll auf den Lehrstoff konzentrieren, weil: «Time is money». Andererseits war es ihr in ihrem Leben auch sehr wichtig, die Herzensbildung nicht zu kurz kommen zu lassen, was sich in ihren Werken (Tierbücher) aber auch Taten (Führen eines Tierheims) niederschlug.

So erklärt sich die folgende Passage aus ihrem Buch «When I Was a Girl In Switzerland», die von einer Bildungsreise in die alte Heimat berichtet (sie war damals bereits 57-jährig) und Vergleiche zu ihrer eigenen Schulzeit in Weiach vornimmt:

«During the winter of 1910-11 which I spent in Zürich, an amsel pair (he was black and she brown with speckled front) came for food daily to my window-sill. It seemed to me then that a bird so confiding ought in our school days to have become a personal, and not merely a book acquaintance. During that winter I was astonished to see how many species of birds, beside the woodpeckers, wintered in the northern part of Switzerland. No one there collects bird’s eggs. The pernicious habit seems never to have had a beginning.

During that visit to Switzerland I also made frequent excursions with one of Zurich’s progressive teachers, Miss Emilie Schäppi, and her school. I learned then to my great joy that natural history was being taught in the open. Miss Schäppi made a specialty of taking her forty children out walking at all seasons, to the various environs of the city as well as to points of interest within the city. In pleasant weather those seven-year-olds thought nothing of climbing the Uetliberg, a steady ascent of a mile or more. In cold weather short excursions were made.

The accompanying picture shows these children on a ledge of the Uetliberg [vgl. Bild auf S. 99 des Buches]. Here a child could get such an idea of the beauties of his native city and immediate surroundings as made it easy afterward to implant lessons in patriotism. 

This outing recalled my school days and the fact that, although the village of Weiach has a most idyllic setting between two rambling mountains – the Höbrig on one side, the Schanzenberg on the other, with the Rhine flowing near by, yet never were we taken as a school up any of those slopes.» 

Höbrig und Sanzenberg (man beachte die Verwendung der auf früheren Karten zu findenden Schreibweise Schanzenberg) werden von Louise Patteson mehrmals erwähnt. Nach unserem heutigen Verständnis ist der Höbrig  ein Aussenhof am östlichen Waldrand des Sanzenbergs. Nach dem damaligen Verständnis aber waren damit eher die Einzelhöfe auf dem Plateau am heutigen oberen Teil der Bergstrasse gemeint. Interessanterweise wird in ihrem Werk der viel markantere Hügelzug des Stein samt Fasnachtflue nie erwähnt. Doch weiter im Original:

«A view from such an eminence might at least have given us some fresh material for conversation and for compositions. But we just had to learn everything laboriously from books, even about things that were to be seen at our very door.

Our school readers had accounts about the beautiful Aletsch and Rhone glaciers, the wild Gemmi and Grimsel passes, the picturesque valleys of the Reuss and the Rhone, the charms of the quaint Engadine, the lordly peaks of Monte Rosa and the Matterhorn. But all this was so far removed from us that it seemed like fairy tales. A walk up our Höbrig or the Schanzenberg would have been far more inspiring than all that reading.

Years afterward when my brother was attending school I noticed that his first reader contained descriptions of such near towns and villages as Kaiserstuhl, Rhinefelden, Eglisau, Stadel, Glattfelden, etc., and from there on in an ever-widening radius. So I think they were already beginning to improve matters at that time.»

Da gab es also doch gewisse Anpassungen, wohl auch abhängig von der Lehrkraft. Leider wissen wir nicht, ob es sich dabei um gedruckte Lehrmittel handelte oder (wahrscheinlicher angesichts der genannten Ortsnamen aus der unmittelbaren Nachbarschaft) solche, die von den lokalen Lehrkräften selber erstellt worden sind.

Die Freiheit der Lehrkraft, ihren Unterricht zu gestalten, ermöglichte der Stadtzürcher Lehrerin Schäppi vor hundertzehn Jahren jedenfalls, situativ auf in der Natur Angetroffenes einzugehen. So fand die Schulklasse beispielsweise eine tote Amsel und die Lehrerin fragte, woran diese wohl gestorben sei. Man kam zum Schluss, sie müsse verhungert sein. Das, so Patteson, habe auch zu Diskussionen in den Familien der Schüler geführt, worauf einige mit der Winterfütterung der Vögel begonnen hätten. Ein Lerneffekt ganz im Sinne der Autorin. Sie schliesst die Schilderung dieser Passage denn auch mit einer Art Abrechnung mit den Lehrmethoden ihrer eigenen Schulzeit:

«The memory of that excursion, of the interest it awakened in things outdoors, the talk about it and the exercise in language and in expression that it furnished, recalled how little opportunity we were given in our school days for self-expression. We just had facts and dates crammed into us that we were expected to memorize, and to have them ready to reel off when demand arose. The real significance of the facts was barely touched upon.»

Louise Griesser Patteson kritisiert hier in aller Deutlichkeit die zu ihrer Primarschulzeit offensichtlich noch immer praktizierte Art des Eintrichterns – und danach Abspulens – von Fakten und Jahrzahlen, ohne diese mit der realen Lebenswelt direkt zu verknüpfen. 

Dass solche Ausbildung gerade dem durchschnittlichen Bauernkind auf den ersten Blick ziemlich nutzlos erscheinen musste, leuchtet ein. Und vor allem erschien sie wohl auch vielen Eltern sinnlos, wie der Ansprache des Weiacher Pfarrers (und Bezirksschulinspektors) Burkhard anlässlich der Eröffnung des Schulhauses am 24. November 1836 zu entnehmen ist (vgl. Zitat im Abschnitt «Wider die Geringschätzung der Schule» in WeiachBlog Nr. 324).

Quelle
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston, October 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 97-100 u. 102.

Montag, 13. April 2020

Die Weiacher Autobiographie einer amerikanischen Tierbuchautorin

«My family home was in an obscure village called Weiach, but situated on the romantic river Rhine. Our Swiss language was an equally obscure dialect.» Mit diesen Worten beginnt das im Oktober 1921 in Boston erschienene Buch «When I was a girl in Switzerland» von Louise Patteson.

Der Begriff «obscure» steht hier wohl für «unbedeutend» oder «abgelegen». Und wie man aus diesen Worten herauslesen kann, ist Louise Patteson ursprünglich eine Weiacherin.

Ihr Buch entpuppt sich als eine kulturhistorische Trouvaille. Es berichtet aus der Sicht eines Kindes, wenn auch aus der Erinnerung und mit mehreren Jahrzehnten Abstand, so doch aus erster Hand und detailgetreu über den Weiacher Dorfalltag in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Telegraphen-Angestellte bei einer Bahn, Inhaberin einer Privatschule, Autorin

In einem Artikel, der am 11. Februar 1904 in The Tacoma Times (Tacoma im Bundesstaat Washington an der Westküste der USA) erschienen ist, wird der sonst – auch von ihr selber – nirgends erwähnte Geburtsname genannt: Griesser!

Susanna Louise Griesser Patteson, geboren am 14. Februar 1853 in Weiach als Luisa Griesser, gestorben in Cleveland, Ohio im Jahre 1922, wanderte im Oktober 1867 zusammen mit ihrer Stiefmutter und ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder Jacques über Le Havre in die USA aus, wo sich ihr Vater bereits eine Existenz aufgebaut hatte.

In der neuen Heimat arbeitete sie unter anderem als «telegraph operator in a railroad office», wie sie in ihrem autobiographischen Werk When i was a girl in Switzerland auf S. 225 schreibt.

Diese Tätigkeit hat sie zu einer selbstständigen Tätigkeit als Lehrperson weiterentwickelt. In den 1890ern tritt sie als Inhaberin und Leiterin einer eigenen Stenografen-Schule in Cleveland, Ohio in Erscheinung, wie man einem von ihr verfassten Lehrbuch, dem Complete manual of Pitmanic phonography von 1895 entnehmen kann. Sir Isaac Pitman war der Erfinder des damals im englischen Sprachbereich verbreitetsten Stenographie-Stils.

Katzenliebhaberin mit privatem Tierheim

Von Kindesbeinen an liebte Louise Tiere. 1901 erschien ihr Buch Pussy Meow. The autobiography of a cat. 1903 im selben Verlag die Letters from Pussycatville. So kam es, dass sie als «writer of cat stories» bekannt wurde, wie der Titel des oben erwähnten Artikels in der Tacoma Times lautete. Der Artikel selber beschreibt, wie Louise Patteson in ihrem Haus in Cleveland dutzenden von vernachlässigten Katzen eine vorübergehende Heimstätte bot. So lange, bis sie an einem geeigneten Platz ein neues Zuhause fanden.

1917 schliesslich schlug sich die Beziehung zu ihrem Rafzerfelder Grossvater, einem Vogelliebhaber, der in seinem Dorf den Übernamen «Vögeli» trug, im Buch How to have bird neighbors nieder.

Eine der ältesten Umweltschutzorganisationen in Cleveland, die Audubon Society of Greater Cleveland wurde 1923 unter dem Namen Susanna Louise Patteson Memorial Association gegründet.

Illustration im Artikel der Tacoma Times, 11. Februar 1904. 
Der Name ist irrtümlich zum wesentlich häufiger auftretenden Patterson verschrieben.
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Susanna_Louise_Patteson,_1904.jpg

Quellen
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston, October 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB
  • The Tacoma Times, Februar 11, 1904, page 4 [Elektronische Ressource, Library of Congress http://chroniclingamerica.loc.gov/lccn/sn88085187/1904-02-11/ed-1/seq-4/]

Sonntag, 12. April 2020

Küfer gegen Haushälterin. Schlagabtausch via Zeitungsinserat

Öffentliche Schlammschlachten zwischen Privatpersonen werden ja heutzutage vornehmlich auf Social Media-Plattformen ausgetragen. Nun: andere Zeiten, andere Mittel. Früher dienten Zeitungsinserate diesem nicht sehr erfreulichen Zweck.

Ein Beispiel aus dem Jahre 1838, wie es in einem bereits 1674 gegründeten Nachrichtenblatt erschienen ist, das damals nach dem Erscheinungszeitpunkt offiziell «Züricher Freitagszeitung» hiess (und im Volksmund «Bürkli-Zeitung» genannt wurde):

«Es wäre besser, Küfer Meier in Weyach hätte ein paar Schoppen von seinem Lieblingsgetränk gekauft, um seine durstige Leber zu befriedigen, als das Geld für unnütze Inserate auszugeben; denn was würde ich wohl auf seinen Namen bekommen? Wahrlich keinen Heller! Uebrigens hatte mich weder Noth noch liederlicher Lebenswandel zum Schuldenmachen genöthigt, auch bin ich noch vor keinem Richter gestanden wegen übelberechneter Sparsamkeit. Merks Marr. [gemeint: Narr] 
Richtensweil, den 16. Juli 1838. Regina Schenkel.»
(Züricher Freitagszeitung, Nummer 29, 20. Juli 1838, Beilage S. 1)

Da muss es also ein Inserat des Weiacher Küfers gegeben haben (wohl in einer anderen Zeitung, denn in den vorangehenden Ausgaben der Freitagszeitung selber habe ich nichts gefunden). Jedenfalls gab der so Angesprochene in einer späteren Ausgabe mit folgenden Worten zurück.

«Auf das Inserat in der Beilage No. 29. dieses Blattes von Regina Schenkel, muß ich erwiedern, da sie kaum 8 Tage in meinem Hause war, hat ihr der übermäßige Genuß meines Lieblingsgetränks ein Bein gebrochen, ob Noth oder liederlicher Lebenswandel sie zum Schuldenmachen genöthigt haben. — Daß sie wegen übel berechneter Sparsamkeit vor dem Richter gestanden sei, ist am Tag. Die einzige üble Berechnung habe ich gemacht, daß ich sie zur Besorgerin meines Hauswesens angestellt habe. Merks jetzt du Narr. 
Weiach, den 23. Juli 1838. Küfer Meyer.»
(Züricher Freitagszeitung, Nummer 32, 10. August 1838, S. 4)

Offensichtlich ein schiefgelaufenes Anstellungsverhältnis. Wer welchen Anteil daran hatte, darüber mögen sich die beiden im Jenseits verständigen.

Freitag, 10. April 2020

Lageverfolgung in der Krise - Rückblick auf Januar 1800

Haben Sie Ihr LVZ auch in Betrieb genommen? Gemeint ist ein Lageverfolgungszentrum. Personell und materiell natürlich nicht so ausgestattet wie das bei Regierungen und ihren polizeilichen und militärischen Kräften in Krisenzeiten gehandhabt wird. Aber doch so, dass man auch als Kleinunternehmer und Privatperson täglich aus mehreren Quellen abzuleiten versucht, was die neueste Lage der Welt ist. Und sei es auch nur um herauszufinden, was obrigkeitlicherseits gerade wieder per sofort verboten bzw. angeordnet worden ist. Man will sich ja nicht unnötig dem Risiko aussetzen, eine Busse oder gar ein Strafverfahren mitsamt Registereintrag zu kassieren.

Reichte es vor Mitte März 2020 noch, etwa einmal im Monat die einschlägigen Webseiten von Bund und Kanton zu konsultieren, um aus der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts bzw. den Medienmitteilungen des Kantons herauszudestillieren, was für einen relevant sein würde, so muss man dies in Zeiten von Corona nun täglich tun, will man noch einigermassen den Versuch wagen, zu antizipieren, was denn die nächsten Schachzüge in dieser von Panik getriebenen Entwicklung sein könnten.

Durchregieren 3.0: drei helvetische Republiken

Schliesslich leben wir seit dem 16. März 2020 sozusagen in der Dritten Helvetischen Republik. Die erste nach dieser meiner privaten Zählung dauerte etwa fünf Jahre, vom Zusammenbruch des Ancien Régime im Frühjahr 1798 bis zur Ausrufung der Mediationsverfassung im Jahre 1803.

Die zweite Republik war diejenige des Massnahmenstaates kriegswirtschaftlicher Prägung, der die Jahre des 2. Weltkriegs (samt Vor- und Nachlauf) beherrschte. Der Bundesrat hatte sich über die Jahre hinweg derart an dieses Regieren per Dekret gewöhnt, dass er 1949 mittels Volksabstimmung dazu gezwungen werden musste, die Direkte Demokratie wieder zum Tragen kommen zu lassen (vgl. WeiachBlog Nr. 1410, woraus hervorgeht, dass die Weiacher die Machtfülle des Bundesrates ganz in Ordnung fanden). Denn eigentlich war man in Bundesbern der Ansicht, ein Massnahmenstaat wäre quasi alternativlos, da die Zeiten ja unverändert gefährlich seien und man daher jederzeit durchregieren können müsse.

Und heute? Heute haben wir als Folge weltweiter Vorbilder die Dritte Republik. Eine Art Gesundheitsdiktatur, wo das Bundesamt für Justiz schon einmal versucht, unserem Kantonsrat (immerhin die vom Volk gewählte Legislative des Kantons Zürich) jegliche Art von Zusammenkünften zu verbieten. Und damit ist beispielhaft nur einer von vielen Aspekten der Beschneidung unserer Freiheitsrechte aufs Tapet gebracht.

Die zentrale Sumpfblüte dieser Republik ist aktuell die Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19) vom 13. März 2020 (die seither nicht weniger als zehn Änderungen erfahren hat und mit der Nr. 818.101.24 in der Systematischen Sammlung des Bundesrechts nachgeführt wird). Dem hektischen Novellierungsrhythmus kommt die einmal pro Woche fortlaufend publizierte Amtliche Sammlung kaum mehr hinterher. Die als sogenannte Dringliche Veröffentlichung herausgegebenen Nummern sind mittlerweile weitaus zahlreicher als die regulären. Was früher vor allem für einzelne Berufsgruppen wie Veterinäre, Lebensmittelimporteure oder Finanzdienstleister von Belang war, betrifft heute jedermann unmittelbar und mit voller Wucht.

Wenn Zeitungen alle paar Wochen den Namen ändern

Doch zurück zur Lageverfolgung. Vor ca. 220 Jahren musste man diese ebenfalls hoch priorisieren. Nach der disruptiven Umwälzung von 1798 wurde die Entwicklung nämlich derart unvorhersehbar und nahm derart katastrophale Ausmasse an, dass tägliche Nachrichten aus der Politik und dem Geschehen im Lande ein Bedürfnis darstellten. Was Zeitungsverleger dazu bewog, teilweise zweimal täglich Ausgaben auf den Markt zu werfen. Noch wenige Jahre zuvor erschienen Zeitungen in Zürich bestenfalls zweimal wöchentlich und bestanden zu einem guten Teil aus Inseraten.

Nicht so bei Escher und Usteri, die ab 1798 bis 1799 die Zeitung «Der schweizerische Republikaner» herausgaben, sie 1799 in «Neues helvetisches Tagblatt» umbenannten, woraus per Jahreswechsel 1800 ein «Neues republikanisches Blatt» wurde. Und unter Rückkehr zur alten Benennung schliesslich «Der neue schweizerische Republikaner». Darin waren ausschliesslich Nachrichten zu finden. Was nicht verwundert. Denn die Lageentwicklung war noch wesentlich turbulenter, als es sich in dieser Umbenennung in schneller Abfolge spiegelt.

Die Folgen der Kriegswirren von 1799

Im Jahre 1799 hatten die Zürcher erlebt, wie die militärische Front des Zweiten Koalitionskriegs zweimal über ihr Land hinwegzog. Die Franzosen mussten sich nach der Ersten Schlacht von Zürich (2.-6. Juni 1799) zurückziehen und kehrten nach der Zweiten Schlacht von Zürich (25./26. September 1799) wieder zurück (vgl. den HLS-Artikel).

Von da weg wurde der Rhein zur undurchdringlichen Frontlinie, mit den Kaiserlichen (Österreicher mit ihren Verbündeten, u.a. Russen) auf dem Nordufer, und den Franzosen (samt Hilfstruppen der Helvetischen Republik) auf dem Südufer. Die Gegend von Waldshut bis Hohentengen, das Rafzerfeld, das Städtchen Eglisau und der ganze heutige Kanton Schaffhausen waren also unter österreichischer Kontrolle, mithin ein Teil des Distrikts Bülach dem Einfluss der Helvetischen Republik entzogen. Das Städtchen Kaiserstuhl, die Gemeinde Weiach, sowie die Ortschaften Rheinsfelden, Seglingen und Tössriederen lagen hingegen auf der «fränkischen» Seite.

Eine funktionierende Logistik war damals schon ein kriegsentscheidendes Element militärischer Auseinandersetzungen. Beide Seiten verstanden darunter offensichtlich primär die Versorgung mit dem eigentlichen Kriegsmaterial, also Kanonen, Schiesspulver, etc. Die nötigen Betriebsstoffe für Mensch und Tier nahm man sich aus dem Naheliegenden. Per Requisition von Heu, Stroh, Lebensmitteln und Brennholz. So lange es davon gab. Und wenn erforderlich auch ohne Rücksicht auf die Überlebensfähigkeit der zu den Kontributionen Gezwungenen. Entsprechend kam es ausgelöst durch die Truppenmassierungen zu Hungersnot und Flüchtlingsbewegungen. Soweit die Ausgangslage Anfang Januar 1800.

Wir schauen nun in die Ausgabe Nr. 11 des Neuen Republikaners vom 14. Januar 1800, worin Weyach explizit erwähnt wird. Am selben Tag erschien übrigens auch Nr. 12 (eine Nummer umfasste jeweils nur gerade vier Seiten), am Vortag Nr. 10, am Folgetag die Nr. 13. Anmerkungen und Links auf Wikipedia und das Historische Lexikon der Schweiz in eckigen Klammern:

Inländische Nachrichten

Zürich  9. Jan. Lezten Samstag in der Nacht reiste General Moreau [Jean-Victor Moreauwieder von hier ab, seitdem ist ein beträchtlicher Theil der zum Generalstaab gehörenden Comissars, Employes sc. [gemeint: etc.] ebenfalls von hier abgegangen, auch die in hiesiger Gegend einquartierten Sappeurs, so wie einige Infanterie-Bataillons und ein Theil des Artillerieparks, marschierten von hier weg, wahrscheinlich in die Gegend von Basel, oder ins Innere der Schweiz. [Wie man sieht war das Wissen des Korrespondenten beschränkt]. Die angefangenen Verschanzungen werden nicht fortgesezt, sondern gehen wieder ein. Da die Zufuhren für die Armee ausgeblieben, sind von unserer Stadt 600 Mütt Mehl gegen Bons in Requisition gesezt worden, heute sollen die noch fehlenden 300 Mütte abgeliefert werden. So viel man bemerkt, liegen in den ennetrheinischen Gegenden viele kaiserliche Truppen. Lezte Woche verspürte man sowohl an der Bündtnerischen Gränze, als auch in der Gegend von Kaiserstuhl Bewegungen unter denselben, allein wenn sie auch dermalen eine Unternehmung wagen wollten, so ist es doch wahrscheinlich tiefer am Rhein. [d.h. rheinabwärts]

11. Jan. Gestern Morgen kamen gegen 150 halbverhungerte und elend gekleidete Glarnerkinder hier an, die nach Bern bestimmt waren, allein man läßt sie nicht weiters, und heute wird für Versorgung derselben in hiesiger Stadt gesorgt; man hoft, alle unterzubringen. Auf morgen ist aber schon wieder ein neuer Transport angesagt; auch diesen wird man versuchen, hier zu versorgen. Kinder von 10 bis 15 Jahren finden ein leichtes Unterkommen, allein mit den kleinern hält es schon schwerer. [Grund: die können nicht als Arbeitskräfte eingesetzt werden]

Seit einigen Tagen kehrten wieder mehrere Halbbrigaden aus ihren Cantonnierungsquartieren jenseits der Aar zuruk, und nehmen ihren Weg in forcierten Märschen gegen St. Gallen; so hat also auch unser Kanton wenige Erleichterung über den Winter zu erwarten. Noch gehet alles im alten; das Militär wird immer exigeanter [fordernder] ; das erste Beispiel geben die Generale. Lecourbe [Claude-Jacques Lecourbe] forderte für seine Tafel 150 NLdors [Nouveau Louis d'Or?], und ließ auf 70 des Monats heruntermarkten; und so müssen auch die Gemeinden auf dem Land, die das Unglük haben, Generale in ihrer Mitte zu haben, ihnen ihre Tafel gratis fournieren.

Glattfelden, im Distrikt Bülach, Kanton Zürich, 6. Jan. Die Lieferungen unsers Distrikts sind ungeheuer. 2037 Haushaltungen, die den dießseits des Rheins befindlichen Theil des Distrikts bewohnen, lieferten seit dem 27. September 1799 bis Ende des Jahrs, 4352 Mütt Fäsen [Korn noch in den Hülsen, wohl als Tierfutter], 14091 Centner Heu, 8818 Centner Stroh. Die Kosten der Requisitionsfuhren betrugen die ungeheure Summe von 190938 fl. Der Schaden der Verheerungen seit dem Junius bis zur Rükkehr der Franken [Franzosen] beläuft sich auf 3406 Mütt an Feldfrüchten, 14692 Centner Heu, 6982 Centner Stroh, 15478 Viertel Erdapfel, 506 Saum Wein. Rechnet man dazu, daß die Truppen sehr oft keine Lebensmittel hatten, folglich der Einwohner sie ganz allein ernähren mußte, so kann man sich einen Begriff von dem ungeheuren Verlust dieses kleinen Distrikts machen. Unermeßlich ist denn noch der Holzschaden. Der prächtige Bülacher Eichwald ist unkennbar [d.h. nicht wiederzuerkennen], der schöne Weyacher Wald verheert, das einst so blühende Wehnthal ausgezehrt! Ueber alle Beschreibung geht aber das Elend der beiden Gemeinden Tößriedern und Seglingen. Diese guten Leute, seit dem Anfang des Kriegs beständig mit Truppen beladen, sind nun der Hungersnoth nahe. Bei der Einnahme von Eglisau (den 16. Aprill) von den Franzosen geplündert, durch die Nähe mehrerer Lager ihrer Feldfrüchte und ihres Weins beraubt, wegen Sperrung des Rheins verdienstlos, sind sie nun ganz von allem entblößt. Dennoch logiert der allerärmste 2 Soldaten, und oft wenn am Morgen der Hausvater für die Wachten Holz fällen muß, geht die Hausmutter, um etwas Gemüse in den benachbarten Orten aufzusuchen. In Seglingen ist nicht einmal mehr eine Ziege, der Mangel hat dort den allerhöchsten Grad erreicht, wenn nicht thätiges Mitleiden ihrer Mitbürger durch schnelle Hilfe diese Unglüklichen rettet, wird nächster Tagen der größte Theil auswandern. Möchte diese wahre Schilderung wenigstens auch nur etwas zur Erleichterung dieser Gemeinden beitragen!

Wer die letztere Nachricht aus Glattfelden verfasst hat, ist leider nicht bekannt. Aber die genannten Zahlen sind (vor allem in Verbindung mit den Begleitumständen) wirklich beeindruckend. Ganz so schlecht wie den Seglingern und Tössriederern ging es den Menschen in der Gegend von Weiach, Kaiserstuhl und Fisibach nicht. Aber viel besser wohl auch nicht.

Insofern jammern wir als Untertanen der Dritten Republik noch auf sehr hohem Niveau.

Quelle und Literatur
  • Neues republikanisches Blatt. Band I. N. XI. Bern, 14. Januar 1800 (24. Nivose VIII.) - S. 44
  • Brandenberger, U.: Weiach war 1949 gegen die Rückkehr zur direkten Demokratie. WeiachBlog Nr. 1410 v. 11. September 2019