Montag, 31. Mai 2021

Vernichtender Hagelsturm 1838. Pfarrer startet Spendenaufruf

Am heutigen Datum vor fünfzehn Jahren ist auf WeiachBlog der Beitrag Nr. 208 mit dem Titel «Verderbliches Schlossengewitter» erschienen. Als Schlossen wurden im 19. Jahrhundert die grösseren Hagelkörner bezeichnet, manchmal auch Hagelkörner als solche.

In Zollingers Chronik (dem blauen Büchlein von 1972) ist auf Seite 38 von einem Schaden von 2300 Gulden die Rede. Wenn man nun aber in die zürcherischen Zeitungen des Juni 1838 schaut, dann stellt man fest, dass dieser Wert um den Faktor 10 zu tief angesetzt ist. Deshalb erfolgt heute ein ausführlicher Nachtrag, in dem zwei vom damaligen Weiacher Pfarrer Keller eingesandte Berichte im vollen Wortlaut (oder jedenfalls dem, wie damals abgedruckt) wiedergegeben werden.

Der Hagelsturm als Strafgericht Gottes

Der erste dieser Berichte erschien (wohl als Inserat) in der Werbeannoncen-Postille von J. J. Ulrich im Berichthaus Zürich (Zürcherisches Wochenblatt, Nummer 46, 7. Juni 1838 – S. 244):

«154. Gestern Abends zwischen 4 und 5 Uhr brach ein heftiges Hochgewitter über die Gegend von Weyach aus. Ein dasselbe begleitender Sturm brachte es mit solcher Schnelligkeit herbei und peitschte die Schlossen, welche an Größe Baumnüssen glichen, mit solcher Gewalt herab, daß man in den Häusern unmöglich die Fensterladen schließen konnte, sondern die Fenster Preis geben und sich in abgelegene Theile der Häuser flüchten mußte, ja viele mit Feldarbeiten Beschäftigte mit blutenden Köpfen und wundgeschlagenen Händen zurückkehrten. Starke Eichbäume wurden sammt den Wurzeln aus der Erde gerissen, und mehrere, welche unter einer Eiche schützendes Obdach suchten, durch ihren Umsturz in große Lebensgefahr gebracht. — Die Saat unserer Felder ist gänzlich zernichtet, der Ertrag der Wiesen und Kleeäcker ist in den Boden geschlagen und die wenige Hoffnung, welche uns der Winter- und Frühlingsfrost in den Weinbergen übrig gelassen, völlig zertrümmert. — An Futter für das Vieh gebricht es gänzlich, die Vorräthe an Lebensmitteln gehen zur Neige und nur Wenige wissen, woher sie nach der Erntezeit Speise nehmen wollen. — Der Schaden ist um so empfindlicher, da die sämmtlichen Bewohner unserer Gemeinde ausschliesslich vom Acker- und Weinbau leben; — doch wir vertrauen auf den, der uns gewiß nicht ohne väterliche Absicht heimgesucht hat und hoffen auf die liebreiche Theilnahme edler Menschenfreunde und christlicher Brüder.
Weyach, den 1. Juni 1838. 
Pfarrer Keller»

Eine Spur der Verwüstung vom Fricktal bis in den Thurgau

Das geschilderte Unwetter hat auch in redaktionell betreuten Blättern seinen Niederschlag gefunden, so u.a. in der Zürcherischen Freitagszeitung, Nummer 23 vom 8. Juni 1838 – S. 2:

«Zürich. Seit dem 30. Mai hatten wir täglich Gewitter, am schwersten wurde ein Theil unsers Kantons Donnerstags den 31., Nachmittags, heimgesucht. So weit wir hören, traf die Schädigung die Gegenden von Weiach, Glattfelden, Eglisau, Teuffen, Berg, Buch, am Irchel liegend; ob das Gewitter noch weiter gezogen, wissen wir nicht.» 

Es folgt eine ausführliche Beschreibung der Schäden am Nordabhang des Irchel. Auch über Weiach gibt es erste Informationen, wenn auch nicht ganz korrekte:

«In Weyach waren die Schlossen so heftig, daß an der Kirche kein Fenster ganz blieb; auch die Fenster vieler einzelner Privaten wurden zertrümmert. Man kann daraus schließen, wie es den Feldfrüchten erging.»

In der Ausgabe der darauffolgenden Woche (Zürcherische Freitagszeitung, Nummer 24, 15. Juni 1838 – S. 3) ging der Redaktor vertieft auf das beispiellose Gewittergeschehen ein:

«Neben den bereits angeführten Orten wurden durch das Gewitter vom 31. Mai auf [sic!] die Ortschaften Hünikon, Hettlingen, Seuzach, Benk, Rutschweil und Rickenbach und einige angrenzende Orte im Thurgau betroffen. — Am heftigsten scheint sich das Ungewitter über das Frickthal, Kanton Aargau, von Rheinfelden bis nach Kaiserstuhl hinauf, entleert zu haben. — In der Nacht auf den 9. Juni fiel Schnee, den man Morgens noch auf der Albiskette liegen sah. Leider scheint sich das Wetter nicht freundlicher anlassen zu wollen, und der Luzerner-Prophet dürfte nur mit seinen Strich- und Gewitterregen es errathen haben.»

Der Sturmwind riss kleine Kinder mit sich

In kleinerer Schrift eingerückt, folgt dieser Einleitung eine Zuschrift des Weiacher Pfarrers Johann Heinrich Keller (1805-1878, in Weiach 1837-1843), der seinen ersten Bericht vom 1. Juni (vgl. oben) nach ein paar Tagen um etliche Details erweitert hat, insbesondere was die amgerichteten Schäden betrifft:

«Die Gemeinde Weyach wurde durch das letzten Donnerstag den 31. Mai Statt gehabte Hochgewitter sehr hart mitgenommen. Abends nach 4 Uhr ward dieses von einem heftigen Sturme dahergetrieben und verursachte allgemeine Zerstörung.  4 bis 5 Minuten hindurch stürzten Schlossen wie Baumnüsse in dichter Menge aus der Wolkenmasse herab und zernichteten die Saat des Feldes, den Ertrag der Wiesen und Kleeäcker und die Gewächse des Weinstocks und der Fruchtbäume gänzlich. Menschen und Vieh, welche nicht schnell genug ein schützendes Obdach finden konnten, kehrten wundgeschlagen und blutend nach Hause zurück; ein kleiner Knabe wurde vom Sturme aus der Hand des ihn führenden Vaters gerissen und etliche 20 Schritte weit fortgetragen; im nahen Walde wurden 17 der größten Eichen und eben so viele Forren sammt den Wurzeln aus der Erde gerissen und mit der Kirche, in welcher auf der dem Wetter zugewendeten Seite alle Fensterscheiben zerschmettert wurden, hatten noch gar viele Häuser ein gleiches Schicksal, so daß sich die Bewohner derselben in abgelegener liegende Zimmer flüchten mußten. 

Ungeachtet der unmittelbar nach dem Gewitter eingetretenen lauwarmen Abendluft und der darauf folgenden ziemlich warmen Nacht konnte man doch gegen Mittag des folgenden Tages bei einer Temperatur von 17° R. [21,25 °C] in schon von der Sonne beschienenen Wiesen ganze Hände voll Schlossen aufheben, deren viele noch 1 1/4'' und 1 1/2'' nach allen Richtungen hin maßen; sie waren meistens in abgeplatteter Kugelform, mit vielen scharfen Ecken versehen, glaslauter und hatten in der Mitte einen milchweißen strahlenförmigen Kern.» 

Hier macht der Herr Pfarrer also nebenbei noch Angaben für die Hagelforschung, indem er die Körner genau beschreibt. Mit 1.5 Zoll (4.5 cm) waren die Schlossen noch grösser als in WeiachBlog Nr. 208 erwähnt (dort: 5/4 Zoll).

Gigantische Schadenzahlen untermauern Spendenaufruf

Keller fährt weiter: «Nach gewissenhafter im Speziellen aufgenommener Schatzung beträgt der Schaden unserer Gemeinde: An Korn und Waizen 6751 fl., Roggen 6160 fl. 20 ß., Futterwachs 4561 fl., Wein 4292 fl. 35 ß., Oehlgewächsen 757 fl. 20 ß., Obst 653 fl., Fensterscheiben 219 fl., zusammen 23,394 fl. 35 ß. Hierbei ist jedoch der Schaden an Hanf und Sommergewächsen, sowie auch an Waldung, in welcher ein großer Theil des dießjährigen Nachwachses zerschlagen wurde, nicht mitgerechnet. 

Wie empfindlich dieser Schaden für die Bewohner unserer Gemeinde bereits ist und noch werden wird, ist leicht zu begreifen, wenn man bedenkt, daß der Feld- und Weinbau ihr einziger Reichthum und ihre einzige Nahrungsquelle ist. Die Meisten sind für die baldige Zukunft von allen Vorräthen an Lebensmitteln und Futter für das Vieh entblößt und wissen noch dazu bei allfällig eintretenden Terminen nicht, woraus sie die auf ihren Gütern haftenden jährlichen Lasten entrichten können. Darum wird hoffentlich eine dringende Fürbitte an alle nahen und fernen Menschenfreunde für seine schwer heimgesuchten Gemeindsgenossen nicht übel aufgenommen werden ihrem Seelsorger 

Weyach, den 6. Juni 1838. H. Keller, Pfarrer.»

Man kann sich die Verzweiflung der Weiacher vorstellen, die nach diesem Unwetter geherrscht hat. Viele weniger wohlhabende Familien dürften vor dem Ruin gestanden haben. Wenn wir den angegebenen Schaden von rund 23400 Gulden auf Swistoval.ch nach dem Modell Historischer Lohnindex umrechnen, dann ist in diesem kurzen Hagelsturm innert gerade einmal 4 bis 5 Minuten ein Schaden von über 4 Millionen Franken entstanden.

Freitag, 28. Mai 2021

Ärger über absonderliche Quarantänevorschriften

Noch vor anderthalb Jahren hätte man erklären müssen, was eine Quarantäne ist. Heute ist dieser Begriff sprachliches Allgemeingut. Dem Coronamassnahmen-Regime sei's geklagt.

Und so wie heute eine immer grössere Zahl an Menschen mehr als nur genervt ist, ob der endlos verlängerten einschränkenden Massnahmen, so war es auch vor 300 Jahren mit der sogenannten Marsilianischen Pest.

Bei allem Verständnis für die Sorgen des Sanitätsrates (einem Ausschuss der Gnädigen Herren von der Obrigkeit zur Zürich): Besonders Händler und Gewerbetreibende im Textilbereich fanden die Vorsichtsmassnahmen dann doch ziemlich übertrieben. Mit dem Ausräuchern der Post hätte man ja noch leben können. Dass die fahrenden Handelsreisenden aus Savoyen nicht mehr kommen durften, auch das wäre noch zu verschmerzen gewesen. 

Aber die Art und Weise, wie die Quarantänestationen für Waren betrieben wurden, die führten dann schon zu etlichem Stirnrunzeln. Die Weiacher bekamen das hautnah mit, denn auf ihrem Gemeindegebiet stand so eine Station. Eine Baracke, benannt als «Erlufftungshaus», in der alle Stoffballen aufgeschnitten, wochenlang gelüftet und regelmässig gewendet werden mussten.

Wenn es für Waren gilt, dann halt auch für Menschen

Als äusserst aufwendig erwiesen sich insbesondere die Absonderungs-Vorkehrungen, die das Personal des «Erlufftungs»-Hauses zu treffen hatte. Schliesslich belegte man die Baumwollballen und die gewebten Stoffe aus französischen Landen ja nicht umsonst mit sechs Wochen Wartezeit. Ob sich aber die dazu angestellten Knechte, wie es die strengen Vorschriften des Sanitätsrates verlangten, tatsächlich nur in dem ihnen zugewiesenen Gebiet um die Baracke herum aufhielten, und ob sie wirklich jedesmal die an einem «gewüssen» Ort deponierten Speisen abholen gingen, darf zumindest infrage gestellt werden. Ebenso unklar ist, ob sie wirklich niemals mit jemandem von ausserhalb «Communication» hatten. 

All die nicht immer einleuchtenden Vorschriften erregten auf jeden Fall einigen Missmut, wie er deutlich in einem Brief des für den Betrieb des Hauses verantwortlichen Weiacher Pfarrers Hans Rudolf Wolf vom 28. Mai 1721 (also heute vor 300 Jahren) zum Ausdruck kommt:

«Es gibt dismahlen vom Sanitet-Raht ein und andern wunderbaren ordre, dan so wunderbar mir vorkommt, wie die Communion in dem Quarantaine Hauss muss verrichtet werden; durch einen Herren Ministrum von Zürich, der dan 10 Tag im Hauss Quarantaine halten und von mir mit nahrung und decken soll versehen werden ( ... ).» (Weiacher Geschichte(n) Nr. 10, Gesamtausgabe S. 15)

Der Pfarrer kritisierte also, dass ein ordinierter Kollege extra von Zürich herreisen musste, um die Seelsorge für das Personal der Quarantäne-Baracke zu gewährleisten, er aber danach noch zehn Tage dortbleiben musste. Warum gerade zehn Tage? 

Es sind Fragen wie diese, die wir Heutigen im Zusammenhang mit den teils abstrus wirkenden Vorschriften aus dem Bundesamt für Gesundheit haben, welche die Weiacher vor 300 Jahren rätseln liessen.

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich. (Joseph Anthony Wittreich, 1987)

Quellen und weiterführende Literatur

  • Contagionssachen (Seuchen) 1720-1722. Signatur: StAZH A 70.9 bis A 70.12 
  • Contagions-Sachen. Signatur: StAZH D 68Quarantänen- und Entlüftungshaus zu Weiach» für seuchenverdächtige Ware). Dossier ist Teil des Archivs des Kaufmännischen Direktoriums (Branchenverband des Textilgewerbes der Stadt Zürich).
  • Acta und Schrifften: Verloffenheit bey der in Marseille entstandener Contagion und allhiesiger darüber verfasster Sanitetsverordnungen, wie alles hierinnen umbständlichen enthalten. Zusammengetragen von Caspar Hess, Post-Directer (Originaltitel). Signatur: StAZH D 144
  • Ruesch, H.: Das «Erlufftungshaus» in Weiach (1720/21). Eine Studie zur Geschichte der obrigkeitlichen Pestprophylaxe im alten Zürich. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1980. Zürich 1979 – S. 123-136.
  • Brandenberger, U.: Mit Mörsern gegen die Pest. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 1). Weiacher Geschichte(n) Nr. 9. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, August 2000 – S. 9.
  • Brandenberger, U.: Europäisches Handelshemmnis und lokale Einnahmequelle. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) Nr. 10. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, September 2000 – S. 13-14.
  • Brandenberger, U.: COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich. WeiachBlog Nr. 1510 v. 18. Mai 2020.
  • Brandenberger, U.: Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720. WeiachBlog Nr. 1599 v. 9. Oktober 2020.
  • Brandenberger, U.: Vor 300 Jahren: Zürich sperrt Handels- und Reiseverkehr mit Genf. WeiachBlog Nr. 1606 v. 31. Oktober 2020.
  • Brandenberger, U.: Die Weiacher Quarantäne-Baracke von 1720/21. WeiachBlog Nr. 1618 v. 15. Januar 2021.

[Veröffentlicht am 29. Mai 2021 um 07:40 MESZ]

Dienstag, 25. Mai 2021

Weshalb ist Kadelburg mit Weiach verbandelt?

Im WeiachBlog-Beitrag Nr. 1657 vom Pfingstsamstag war von Kadelburg als Umladeplatz für Holzladen aus dem Schwarzwald die Rede.

Das baden-württembergische Dörfchen Kadelburg (seit 1973 mit Bechtersbohl, Dangstetten, Küssnach, Reckingen und Rheinheim zur Gemeinde Küssaberg vereint) liegt rheinabwärts von Zurzach auf der rechten Rheinseite und hat mit diesem eine jahrhundertealte enge Verbindung, wie man an der Fassade des markanten Kelnhauses mitten im alten Dorfkern lesen kann. Nämlich über das St. Verenenstift, dem Zurzacher Kloster, das mit dem Kult um die (der Legende nach aus der Gegend von Luxor in Oberägypten stammende) Hl. Verena entstanden ist.

Reformierter Brückenkopf bei Zurzach

Im sonst durchwegs katholisch geprägten Landkreis Waldshut sticht der Umstand besonders hervor: die Kadelburger sind seit bald fünf Jahrhunderten mehrheitlich reformiert. Diese Diaspora-Stellung hat Kadelburg (samt dem dazu gehörenden Attikerhof, dem heutigen Ortsteil Ettikon nahe der Wutach-Mündung) eng an die Zürcher gebunden, denn von dort aus wurden sie mit Rat und Tat auch seelsorgerlich unterstützt.

In den Aufzeichnungen der Weiacher Pfarrer zu Eheschliessungen finden sich 22 Einträge aus den Jahren 1615 bis 1793, in denen Weiach und Kadelburg gemeinsam vorkommen. 

Sie wurden mit zehntausenden anderen aus allen Zürcher Gemeinden für das Projekt Ehedatenbank (EDB) des Zürcher Staatsarchivs einzeln erfasst und können über den Online-Katalog abgefragt werden. Insgesamt 60 von diesen EDB-Einträgen weisen eine Verbindung nach Kadelburg auf. 

Wirtschaftliche Verbindung oder obrigkeitliche Zuweisung?

Keine andere Zürcher Kirchgemeinde hat so häufigen Kadelburg-Bezug wie Weiach (die nächsthäufigere Gemeinde ist Glattfelden mit 7 solchen Einträgen in der EDB). Woher kommt diese enorme Häufung von über einem Drittel?

Dass es etwas mit dem gleichen Glaubensbekenntnis zu tun hat, das ist klar. Dazu kommt aber, dass die Weiacher anscheinend häufigere wirtschaftliche Beziehungen rheinabwärts hatten als andere Gemeinden. Oder war es eher umgekehrt? Dass nämlich Kadelburger Schiffleute regelmässig in Kaiserstuhl zu tun hatten und dort Weiacher kennenlernten? 

Unterhalb von Kadelburg, nahe der Einmündung der Wutach in den Rhein befindet sich der Ettikoner Laufen od. Mittlere Lauffen (auf der Schweizer Seite «Koblenzer Laufen» oder «Kleiner Laufen» genannt), eine der wenigen Stromschnellen, die dem Rhein noch erhalten geblieben sind. Da man dort per Schiff nicht einfach drüberfahren kann, gibt es nur eine Lösung für Material, das von Waldshut oder Tiengen her den Rhein aufwärts transportiert werden muss: Vor dem Hindernis abladen, über Land verschieben und in Kadelburg erneut auf Schiffe verladen. Damit kommt man dann bis zum Rheinfall bei Schaffhausen.

a) Katholische Frauen eingebunden

Im ältesten Eintrag von 1615 vermerkt Pfr. Hans Lux Wydler zur Braut: «Ellsbetta Rogwyller von Cadelburg uß der Pfharr Zurzach, alterius Relgionis» (StAZH E III 136.1, EDB 46). Hier sehen wir also, dass die Seelsorge durch den reformierten Pfarrer von Zurzach besorgt wurde. Und dass die Braut Katholikin war. Davon, dass sie konvertiert habe, steht da zwar nichts. Aber allein der Umstand, dass allfällige Kinder aus dieser Beziehung den Namen Trüllinger trugen und in Weiach aufgewachsen sein dürften (und damit im reformierten Glauben erzogen wurden), wird die Papsttreuen schon zur Genüge geärgert haben.

Auch aus dem 18. Jahrhundert gibt es eine solche Konfessionsangelegenheit, die sogar im Ehegerichtsprotokoll 1731 (StAZH YY 1.222), S. 35-36 (1. Febr. 1731) ihren Niederschlag gefunden hat: der Kadelburger Witwer Johannes Zuber (58), von Beruf Barbierer bzw. Scherer (d.h. für medizinische Grundversorgung ausgebildet) und seine Magd Anna Suter (26) von Lienheim (heute Gde. Hohentengen am Hochrhein) durften sich mit Bewilligung des Zürcher Ehegerichts am 5. Februar 1731 zu Weiach trauen lassen. Bei der Braut wird explizit vermerkt: «Proselytin», d.h. Anna war vom Katholizismus zum Protestantismus übergetreten (StAZH E III 136.1, EDB 719).

b) Weiach als Ausweichkirche

Unter dem 27. Januar 1674 trug der Pfarrer von Glattfelden in sein Verzeichnis die Ehe zwischen Hans Gross, Lismer aus Kadelburg und der Weiacherin Verena Herzog ein. Wörtlich heisst es da: «wëgen etwas vorgangner Mißverstëndtnus allhier eingesëgnet» (StAZH E III 43.1, EDB 464). Offenbar waren aber sowohl Pfr. Huber von Zurzach wie Pfr. Seeholzer von Weiach durchaus mit diesem Vorgehen einverstanden. Aus welchen Gründen auch immer. Denn man muss annehmen, dass eigentlich der Weiacher Pfarrer für diese Eheschliessung zuständig gewesen wäre.

Warum Martin Gross aus Kadelburg im März 1679 die Zurzacherin Susanna Kaiser ausgerechnet in der alten Kirche in unserem Oberdorf geheiratet hat, das lässt sich aus dem Vermerk «ohne Kranz und Schäppeli» des Weiacher Pfarrers Seeholzer erahnen (StAZH E III 136.1, EDB 36). Die Eheleute konnten sich auf diese Weise der Aufmerksamkeit in heimatlichen Gefilden etwas entziehen, denn möglicherweise war Susanna bereits sichtbar schwanger.

Eine ähnliche Problemlage dürfte in der Amtszeit Brennwald (Weiacher Pfarrer von 1693 bis 1707) vorgelegen haben. Er notierte unterm 26. Mai 1698 zur Eheschliessung zwischen Daniel Spühler von Rekingen (Aargau) und Maria Kuchimann von Kadelburg: «absque sertis [ohne Kranz]; auf Befehl hier kopuliert» (StAZH E III 136.1, EDB 496). Der Befehl stammte wohl direkt vom Zürcher Ehegericht, das den Weiacher Pfarrherrn zu dieser Amtshandlung anwies.

Aus der Amtszeit von Pfr. Wolf (in Weiach von 1708 bis 1747) ist eine weitere möglicherweise delikate Eheschliessung abseits der Wohngemeinde überliefert: Heinrich Gross «ab dem Attiker-Hof und von Caddelburg der Gemeind Z[ur]zach» wurde am 29. April 1727 mit Maria Gross getraut, die ebenfalls von diesem Hof stammte (StAZH E III 136.1, EDB 683). Waren die beiden zu nahe verwandt, so dass sie nur mit Spezialbewilligung heiraten durften? Die Gesetzgebung war damals strenger als heute, was verbotene Verwandschaftsehen betrifft.

c) Die Gross-Verbindung

Ein Familienname fällt besonders häufig: Gross. Insgesamt zehn Personen in den 22 Einträgen von Weiacher Pfarrern im Zusammenhang mit Kadelburg heissen so, also fast ein Viertel!

Am 21. Juli 1674 heiratete der höchste Weiacher, Untervogt Matthias Baumgartner, die Kadelburgerin Jungfer Magdalena Gross (StAZH E III 136.1, EDB 326). Man darf annehmen, dass dies für beide Seiten eine standesgemässe Heirat darstellte. Magdalena dürfte also aus durchaus wohlhabendem Haus gekommen sein.

Als einer der ersten in der neuen Kirche wurde am 16. November 1706 Heinrich Anner von Weiach mit Elisabeth Gross aus Kadelburg getraut (StAZH E III 136.1, EDB 556). Interessantes Detail: Am selben Tag heiratete auch dessen Vater Heinrich sen. Pfarrer Brennwald vermerkt neben der Braut Verena Herzog auch das Alter des Bräutigams: «aetat. 73». Dass Verena die Witwe des Hans Gross, Lismer aus Kadelburg war, ist zumindest vom Namen her (und dem mutmasslich ebenfalls fortgeschrittenen Alter der Braut) durchaus möglich. Die Zusammenlegung der Hochzeiten hat den netten Nebeneffekt, dass sich die Kosten für die Bewirtung der Gäste aufteilen lassen.

Fazit

Es gibt etliche Beispiele für Eheschliessungen, die auf wirtschaftliche Beziehungen zwischen Kadelburg und Weiach hindeuten. Ebenso gibt es etliche Fälle, bei denen man davon ausgehen muss, dass es sich bei der Trauung um eine von vorgesetzter Stelle in Zürich angeordnete Amtshilfe gehandelt hat, die zu den fixen Aufgaben des Weiacher Pfarrherrn gehörte.

Liste der Ehen mit Kadelburg-Bezug

  • Trüllinger, Heinrich, Weiach, getraut mit Roggweiler, Elisabeth, Kadelburg. 12. September 1615. Signatur: E III 136.1, EDB 46.
  • Meierhofer, Jakob, getraut mit Haug, Verena, Kadelburg. 3. Dezember 1667. Signatur: E III 136.1, EDB 279.
  • Schurter, Ulrich, getraut mit Gross, Anna, Kadelburg. 1. November 1670. Signatur: E III 136.1, EDB 298.
  • Gross, Hans, Kadelburg, getraut mit Herzog, Verena, Weiach. 27. Januar 1674. Signatur: E III 43.1, EDB 464.
  • Baumgartner, Matthias, getraut mit Gross, Magdalena, Kadelburg. 21. Juli 1674. Signatur: E III 136.1, EDB 326.
  • Gross, Martin, Kadelburg, getraut mit Kaiser, Susanna, Zurzach AG. 25. März 1679. Signatur: E III 136.1, EDB 362.
  • Baumgartner, Hans Rudolf, getraut mit Zubler, Barbara, Kadelburg. 12. Februar 1684. Signatur: E III 136.1, EDB 393.
  • Spühler, Daniel, Rekingen AG, getraut mit Kuchimann, Maria, Kadelburg. 26. Mai 1698. Signatur: E III 136.1, EDB 496.
  • Anner, Heinrich, getraut mit Herzog, Verena. 16. November 1706. Signatur: E III 136.1, EDB 555.
  • Anner, Heinrich, getraut mit Gross, Elisabeth, Kadelburg. 16. November 1706. Signatur: E III 136.1, EDB 556.
  • Baumgartner, Christian, getraut mit Hässig, Anna, Kadelburg. 21. Februar 1708. Signatur: E III 136.1, EDB 568.
  • Gross, Heinrich, Ettikon (Kadelburg), getraut mit Gross, Maria, Ettikon (Kadelburg). 29. April 1727. Signatur: E III 136.1, EDB 683.
  • Zuber, Christian, Kadelburg, getraut mit Willi, Barbara. 22. September 1729. Signatur: E III 136.1, EDB 712.
  • Zuber, Johannes, Kadelburg, getraut mit Suter, Anna. 5. Februar 1731. Signatur: E III 136.1, EDB 719.
  • Zuber, Hans Jakob, Kadelburg, getraut mit Leener, Verena, Kadelburg. 1. März 1752. Signatur: E III 136.1, EDB 851.
  • Maag, Hans Jakob, Weiach, getraut mit Zuber, Verena, Kadelburg. ca. 15. April 1760 - ca. 22. April 1760. Signatur: E III 136.2, EDB 36.
  • Maag, Hans Jakob, Weiach, getraut mit Bercher, Anna Maria, Kadelburg. 2. Februar 1762. Signatur: E III 136.2, EDB 51.
  • Doldi, Samuel, Zurzach AG, getraut mit Bercher, Anna Maria, Kadelburg. 7. August 1770. Signatur: E III 136.2, EDB 114.
  • Baumgartner, Rudolf, getraut mit Bercher, Verena, Kadelburg. 15. Juli 1777. Signatur: E III 136.2, EDB 167.
  • Bombeli, Jakob, getraut mit Gross, Maria, Kadelburg. 4. April 1780. Signatur: E III 136.2, EDB 186.
  • Bercher, Heinrich, Kadelburg, getraut mit Bercher, Magdalena, Kadelburg. 1. Mai 1781. Signatur: E III 136.2, EDB 197.
  • Ruf, Johannes, Rekingen AG, getraut mit Hermann, Anna Maria, Kadelburg. 13. November 1791. Signatur: E III 136.2, EDB 271.
  • Meier, Heinrich, getraut mit Gross, Anna Maria, Kadelburg. 7. August 1792. Signatur: E III 136.2, EDB 282.
  • Baumgartner, Heinrich, getraut mit Gross, Elisabeth, Kadelburg. 12. Februar 1793. Signatur: E III 136.2, EDB 287.

Montag, 24. Mai 2021

Pfingsten 1871 in Weyach, gesehen mit Kinderaugen

Und? Wie haben Sie Pfingsten verbracht? Wenn Sie jetzt morgen in der Schule einen Aufsatz darüber schreiben müssten, was würde dann drin stehen?

In den Beiträgen WeiachBlog Nr. 1651 und 1654 haben wir bereits Auszüge aus Tagebucheinträgen des Hörbehinderten Jakob Meyerhofer (1860-1920) gebracht. 

Jakobs Aufsatz über Pfingsten vor genau 150 Jahren, geschrieben am Dienstag, 30. Mai 1871, enthält keine speziellen Informationen (wie bspw. über den Eisenbahnbau oder Schloss Schwarzwasserstelz). Aber gerade durch seine unspektakuläre Beschreibung von Alltäglichkeiten, wie sie um einem wichtigen Termin im Kirchenjahr herum halt eben auch stattgefunden haben, sind seine Zeilen ein Zeitdokument, das man sonst so nicht findet. Denn Hand aufs Herz: Wer schreibt schon solche Banalitäten auf, wie sie einem selbst und den Zeitgenossen eben völlig normal erscheinen.

«Am letzten Freitag vor dem Mittagessen ist mein Vater gekommen. Der Vater hat mich abgeholt. Ich durfte über das Pfingstfest nach Hause gehen. Ich anzog die Sonntagskleider. Mein Vater ass bei uns zu Mittag. Dann grüsste ich die Lehrerschaft. Dann gingen der Vater u. ich auf den Bahnhof. Der Vater kaufte ein Billet. Wir fuhren auf der Eisenbahn nach Niederglatt. Wir gingen in das Wirtshaus, u. tranken Wein u. assen Weggli. Dann sind wir zu Fuss nach Weyach gegangen. Der Vater sah meine Mutter auf dem Weinberg. Ich grüsste die Mutter. Die Mutter arbeitete auf dem Weinberg. Ich grüsste die Schwestern Elise u. Albertina. Sie waren auf der Strasse. Der Vater u. ich u. die Schwestern gingen in das Wohnhaus. Ich grüsste den Bruder Johannes. Der Vater u. ich assen Suppe u. Fleisch u. Kartoffeln u. Salat. Der Vater trank den rothen Wein. Dann hat der Vater aufgeladen auf den Wagen das Heu. Ich u. ein Mann rechten das Heu mit dem Rechen. Der Wagen fuhr in die Scheune. Dann hat ein Mann gefüttert das Vieh mit Gras. Dann haben die Eltern u. die Geschwister u. ich Kaffe getrunken u. haben geessen Bauernbrod.

Am Sonntag Morgen [gemeint ist der Samstagmorgen] backte die Mutter 3 Wähen. Die Eltern u. die Geschwister u. ich u. ein mann u. eine Frau assen die Wähen u. tranken Kaffe. Dann backte die Mutter Bauernbrod. Dann kämmte ich dem Johannes die Haare mit dem Kamm. Der Bruder Johannes u. die Schwester Elise gingen in die Schule bis um 10 Uhr. Die Frau ging auf den Weinberg. Die Frau arbeitete auf dem Weinberg. Ein Mann ablud das Heu in der Scheune. Dann fuhr ich in den Wald auf dem Wagen. Ein Mann trieb die Kühe an dem Wagen mit der Peitsche. Ein Mann stellte viele Stämme an den Wagen. Der Vater legte die Stämme auf den Wagen. Ich anzog den Rock des Vaters, weil es regnete. Dann gingen ich u. der Vater u. ein mann nach Hause. Wir assen Wähen u. Brod u. tranken den Wein. Der Mann warf die Stämme auf die Strasse. Ich u. der Mann trugen die Stämme. Der Vater sägte das Holz mit der Säge. Ich spaltete das Holz mit der Gertel. Der Mann mähte den Klee mit der Sense. Ich u. die Schwester Elise rechten den Klee mit dem Rechen. Der Mann u. der Bruder aufluden den Klee mit der Heugabel. Nach dem Mittagessen die Mutter u. die Frau gingen auf den Weinberg. Sie arbeiteten auf dem Weinberg bis um 5 Uhr. Der Vater u. der Mann u. der Bruder Johannes u. ich gingen in den Wald u. holten wieder Stämme. Die Mutter gab mir u. den Schwestern am Abend das Butterbrod. Ein Mann fütterte das Vieh mit Gras. Das Vieh frass gern das Gras. Meine Eltern u. meine Geschwister u. der Mann u. die Frau tranken später Kaffe u. assen Bauernbrod u. Kartoffeln.

Am Sonntag Morgens tranken meine Eltern u. meine Geschwister u. ein Mann den Kaffe u. assen Bauernbrod u. gebratene Kartoffeln. Ich trank die Milch auf dem Bett. Ich aufstand um 8 Uhr. Ich trank den Kaffe u. ass gebratene Kartoffeln u. Bauernbrod. Die Mutter wischte den Boden mit dem Besen. Der Vater u. der Mann barbierten den Bart mit dem Barbiermesser. Der Vater anzog die schwarzen Kleider. Der Mann anzog die Sonntagskleider. Mein Vater u. der Mann gingen in die Kirche. Sie kamen wieder um 10 Uhr. Die Geschwister u. ich anzogen die Sonntagskleider. Nach dem Mittagessen besuchten ich u. der Vater u. der Bruder die Frau Elisabetha Meierhofer. Ich u. der Bruder Johannes assen das Butterbrod mit Honig u. tranken Wein. Frau Meierhofer gab mir ein Geldstück. Der Vater u. ich u. der Bruder Johannes gingen nach Hause. Die Mutter u. die Geschwister u. ich gingen in die Kirche. Die Leute haben gesungen. Der Pfarrer predigte laut [Weiacher Pfarrer war zu dieser Zeit Pfr. Johannes Stünzi]. Nach der Kirche die Mutter gab mir u. den Geschwistern Aepfel u. Eier. Ich fütterte das Vieh mit Gras. Meine Eltern u. meine Geschwister u. ich tranken Kaffe u. assen Bauernbrod u. Kartoffeln.

Am Montag Morgens aufstanden wir um 6 Uhr. Wir tranken Kaffe u. assen gebratene Kartoffeln u. Bauernbrod. Der Vater wischt den Boden. Ich u. der Bruder schauckelten auf dem Brett. Nach dem Mittagessen sagte ich Adiö zu dem Vater u. den Geschwistern. Die Mutter u. ich gingen zu Fuss nach Bülach. Wir besuchten die Base. Wir assen Aepfel u. Fleisch u. Brod u. tranken Wein. Wir gingen in ein anderes Haus. Wir assen Bauernbrod u. tranken Wein. Wir gingen in den Garten an dem Wirtshaus. Die Mutter u. die Base tranken Wein u. assen Weggli. Ich ass auch Weggli. Ich trank nicht den Wein. Ich sagte Adiö zu der Mutter. Ich fuhr auf der Eisenbahn nach Zürich. Ich kam um halb 8 Uhr wieder in die Anstalt u. grüsste die Lehrerschaft u. die Zöglinge.»

Dem Speiseplan, in dem praktisch überall Kartoffeln vorkommen, kann man unschwer entnehmen, dass die Familie von Jakob Meyerhofer nicht zu den Wohlhabenden gehört hat. In seinen Aufzeichnungen, so Wyrsch-Ineichen, finde man denn auch keinerlei Beschreibung von teuren Reisen und anderen Aktivitäten, die man nur Internats-Zöglingen mit wohlbetuchten Eltern angedeihen lassen konnte. Dafür diese Zeitbilder aus einem einfachen Weiacher Bauernhaushalt.

Verwendete Quellen und weiterführende Literatur

  • Tagebücher 1871, 1873 und 1875/76 von Jakob Meyerhofer von Weiach (ZH), 1868-1876 Schüler an der Blinden- und Taubstummenanstalt Zürich. Mit einer Einleitung von G. Ringli und G. Wyrsch-Ineichen. Hrsg.: Kantonale Gehörlosenschule, Zürich 2004. Fundstelle: 1871 – S. 20-21.

Samstag, 22. Mai 2021

Schlauer Holzhändler umgeht Kaiserstuhl und spart Stapelgeld

Vor 1848 waren die Kantone noch weitgehend eigenständige Staaten. Kaiserstuhl war somit von Zürich aus gesehen Ausland. Das am Südufer des Rheins klebende Dreiecksstädtchen machte nach 1800 eine schwere Zeit durch (u.a. wegen dem Verlust praktisch des gesamten Gemeindegebietes, das auf dem Nordufer gelegen war und nun zum Grossherzogtum Baden gehörte). 

Auch sonst lief in der auf Handelsverkehr spekulierend geplanten und 1255 von einem Adeligen-Konsortium gegründeten Stadt nicht mehr allzu viel, ja es kam sogar so weit, dass der Weiacher Ziegeleibetreiber in den 1820er-Jahren in der Stadt Häuser abzubrechen und aus den Steinen Kalk zu brennen begann.

Noch weniger Geld in der Stadtkasse?

Umso erboster war der Stadtrat daher, dass ein Raater Unternehmer auf die Idee gekommen war, Kaiserstuhl rechts liegenzulassen. Sie beschwerten sich bei ihrem Bezirkstatthalter in Zurzach, der die Klage seinem Amtskollegen auf Schloss Regensberg zukommen liess. Von dort gelangte sie an den Zürcher Regierungsrat, der sie am 26. Mai 1831 auf der Traktandenliste hatte (RRB 1831/0483):

«Das L. Oberamt Regensperg übermacht dem Regierungsrathe 

- eine vom Oberamte Zurzach für den Stadtrath in Kaiserstuhl eingelegte Klage gegen Conrad Walder, Ladenhändler, von Raad der Gemeinde Stadel, daß er mit seinen aus dem Schwarzwalde bezogenen Laden den Ausladungsplatz von Kaiserstuhl übergehe und dieselben erst im sogenannten Griesgraben, der Gemeinde Weyach, auslade; 

- sodann eine auf Aufforderung des Oberamtes Regensperg von Jacob Kunz von Raad, in deßen Auftrag der beklagte Conrad Walder handelt, eingegebene Beantwortungsschrift, in welcher derselbe die Prätension des Stadtrathes Kaiserstuhl, daß er Kunz oder der bey ihm angestellte Walder die Laden, die er aus dem Schwarzwalde beziehe, in Kaiserstuhl abladen und daselbst ein Stappelgeld bezahlen müße, bestreitet.

Der Regierungsrath übermacht diese Acten dem Finanzrathe zur Prüfung und Begutachtung.»

Bereits zu Brettern geschnittenes Holz aus dem Schwarzwald wurde also rheinaufwärts transportiert und am Standort des Weiacher Rheinhofs, wo der Griesgraben an den Rhein stösst, umgeladen.

Im Ortslexikon des Kantons Zürich von Friedrich Vogel aus dem Jahre 1835 hiess die Ansiedlung «Am Rhein» und umfasste zwei Wohngebäude. Auf der zwischen 1843 und 1851 entstandenen Topographischen Karte des Kantons Zürich, der sogenannten Wild-Karte (Bild unten), heisst der Hof «Griesgraben». Wie auch immer man ihn genannt hat: strassentechnisch ist er natürlich nicht ansatzweise so gut erschlossen wie das Städtchen.


Ausladen im Griesgraben aus Zürcher Sicht erlaubt

Der Finanzrat holte im Juni die nötigen Informationen ein, sodass der Regierungsrat bereits weniger als zwei Monate nach dem ersten Beschluss am 23. Juli 1831 einen zweiten fasste (RRB 1831/0804; vgl. Bild unten):

«Da im Monath May d. J. das L. Oberamt Regensberg der Regierung den Bericht erstattet hat, daß das Oberamt Zurzach Nahmens des Stadtrathes Kaiserstuhl eine Klage über Conrad Walder, Ladenhändler von Raat eingelegt, weil derselbe die in Kadelburg gekauften und Rheinaufwärts transportirten Bretter nicht an der Schifflände zu Kaiserstuhl, sondern in dem sogenannten Griesgraben zu Weyach auslade, so hat der Regierungsrath, nach Anhörung eines dießfalls von dem L. Finanzrathe mit Weisung d. d. 8. hujus [im aktuellen Monat; d.h. 8. Juli 1831] hinterbrachten Berichtes über die dießfalls vorgenommene nähere Untersuchung, woraus sich auch der wesentliche Umstand ergeben, daß der Walder die Entrichtung des Waßerzolles keineswegs in Widerspruch legt, hingegen das freye Ausladungsrecht in Anspruch nimmt, erkennt, da keine den freyen Paß und Handel hemmende Verträge zwischen den Ständen Zürich und Aargau rücksichtlich des Waarentransportes Rheinaufwärts bestehen, so seye auch kein Grund vorhanden, dem Walder die Ausladung im Griesgraben zu untersagen, wenn derselbe den Waßerzoll in Kaiserstuhl entrichte.»

Eines muss man der Zürcher Staatskanzlei lassen. Der hier Schreibende war Meister im Verfassen ellenlanger Sätze, in denen von der Vorgeschichte bis zum Fazit der berichterstattenden Verwaltungsstelle sämtliche Erwägungen Platz haben. Man bekommt kaum Luft vor lauter Kommata.

Der eigentliche Entscheid gibt den Ball dann wieder zurück in den Bezirk: «Hiervon wird dem Statthalteramte Regensberg mit dem Auftrage Kenntniß gegeben, dem Oberamt Zurzach in diesem Sinne Bescheid auf seine Beschwerde zu geben.»

Offenbar scheint der Aargauer Regierungsrat in der Folge entweder nicht angerufen worden zu sein, oder er hat es nicht für nötig angesehen, sich in dieser Angelegenheit mit den Zürcher Kollegen zu streiten. Das in der Nähe von Zurzach aufgeladene Holz aus deutschen Landen liess also kein Stapelgeld in die Kaiserstuhler Stadtkasse fliessen.

Unbekannt ist auch, ob in der Folge weitere findige Geschäftsleute den Umladeplatz Griesgraben genutzt haben. Wenn dem so war, dann müsste dort mindestens ein fester Steg errichtet worden sein. Sonst wird das mit dem Ausladen etwas gar mühsam. 

Dass der Raater Holzhändler seine Laden ausgerechnet über den Verladepunkt Kadelburg zu sich holte, ist übrigens geschichtlich interessant, war doch Kadelburg eine der wenigen Gemeinden im heutigen Landkreis Waldshut, die nach der Reformation zum neuen Glauben wechselte und trotz Druck standhaft bei diesem Entscheid blieb, sodass auch immer wieder Kadelburger in Gemeinden des reformierten Zürich einheirateten (oder umgekehrt).

Quellen
  • Beschwerde des Stadtrathes Kaiserstuhl gegen den Ladenhändler Conrad Walder von Raad der Gemeinde Stadel, wegen Übergehung des Ausladungsplatzes in Kaiserstuhl. Regierungsratsbeschluss vom 26. Mai 1831. S. 250-251. Signatur: StAZH MM 2.1 RRB 1831/0483
  • Beschluß, betreffend die Beschwerde des Oberamtes Zurzach, daß Conrad Walder von Raat seine Rheinaufwärts geführten Laden zu Weyach und nicht zu Kaiserstuhl auslade. Regierungsratsbeschluss vom 23. Juli 1831. S. 279-280. Signatur: StAZH MM 2.2 RRB 1831/0804

Freitag, 21. Mai 2021

Knappes Ruhegehalt für 37 Jahre als Handarbeitslehrerin

Wissen Sie, was ein «Gschnurpf» ist? Das Wort kommt von «schnurpfe» und steht für «unsorgfältige, unsachgemässe, rasch hingeschmissene usw. Näharbeit oder Flickerei». (Quelle: berndeutsch.ch)

Die Bezeichnung «Schnurpfgotte» für die in früherer Zeit noch als Arbeitslehrerinnen benannte Berufsgruppe spricht also nicht gerade für hohe Wertschätzung der von ihnen vermittelten Fähigkeiten. Oder ist damit eher die mangelnde Leistungsbereitschaft der mit Nähen und Flicken zwangsbeglückten Mädchen gemeint?

Wie dem auch immer sei: Was diese Handarbeitslehrerinnen vor etwas mehr als einem Jahrhundert ihren Schützlingen beibringen mussten, das steht en détail und auf die einzelnen Ausbildungsjahre heruntergebrochen im Lehrplan für die Arbeitsschulen des Kantons Zürich vom 7. März 1894. Der hat in die kantonale Gesetzessammlung Eingang gefunden und ist heute unter der Signatur StAZH OS 23 (S. 463-468) elektronisch abrufbar.

Für die Qualitätssicherung sorgten übrigens auch lokale Kräfte. Die hiesige Arbeitslehrerin wurde nämlich von Vorläuferorganisationen des heutigen Frauenvereins Weiach unterstützt, ab 1908 Frauenverein der Arbeitschule Weiach genannt (vgl. WeiachBlog Nr. 1529 für dessen Statuten; darin Links auf weiterführende Beiträge).

Aus Gesundheitsrücksichten aus dem Schuldienst entlassen

Heute vor 100 Jahren hat eine Wachtablösung auf der Position der Weiacher Arbeitslehrerin im Protokoll der Zürcher Regierung ihren Niederschlag gefunden (RRB 1921/1621): 

«Der Regierungsrat,

nach Entgegennahme eines Antrages der Erziehungsdirektion und des Erziehungsrates,

beschließt:

I. Anna Baumgartner, Arbeitslehrerin in Weiach, geboren 1858, die vom Erziehungsrat aus Gesundheitsrücksichten auf ihr Gesuch hin auf 30. April 1921 von ihrer Lehrstelle und aus dem zürcherischen Schuldienst entlassen wurde, erhält mit Rücksicht auf das Alter (62), die Zahl der Dienstjahre (37) und die Zahl der von ihr wöchentlich erteilten Unterrichtsstunden (12) ein jährliches Ruhegehalt von Fr. 1400, das vom 1. Mai 1921 an zur Ausrichtung gelangt.

II. Mitteilung an die Gesuchstellerin, die Schulpflege Weiach, sowie die Direktionen der Finanzen und des Erziehungswesens.»

Ob Anna Baumgartner eine gebürtige Weiacherin war, oder eingeheiratet hat und ob sie während ihrer ganzen Dienstzeit in Weiach tätig war, also von 1884 bis 1921, das müssen vertiefende Abklärungen (z.B. im Archiv der Primarschule Weiach) zu ergründen versuchen.

Ruhegehalt wurde regelmässig überprüft

Bekanntlich gibt es die AHV erst seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das heisst also: hier hat der Staat dafür gesorgt, dass seine Lehrkräfte nach vielen Dienstjahren finanziell nicht ins Bodenlose fallen. Das vom Regierungsrat gesprochene Ruhegehalt war nämlich nicht etwa ein Einzelfall oder ein Almosen in einem besonderen Fall. Nein, da gab es eine gesetzliche Grundlage: die Verordnung betreffend die Leistungen des Staates für das Volksschulwesen vom 31. Juli 1906 (StAZH OS 27 (S. 455-475))

«§ 30. Lehrer, welche nach wenigstens dreißigjährigem Schuldienst aus Alters- oder Gesundheitsrücksichten mit Bewilligung des Erziehungsrates freiwillig in den Ruhestand treten, haben Anspruch auf einen lebenslänglichen, vom Staate zu verabreichenden Ruhegehalt, welcher wenigstens die Hälfte ihrer bisherigen Barbesoldung betragen soll (§ 313 des Unterrichtsgesetzes).»

Die Höhe dieses Ruhegehalts war nicht nur vom bisherigen Lohn abhängig, sondern auch von den Vermögensverhältnissen, weshalb immer im Einzelfall entschieden wurde. Und: nach jeweils drei Jahren wurde überprüft, ob die Voraussetzungen zur Auszahlung des Ruhegehalts noch gegeben waren. Das war also nicht eine Pension, die man so oder so hatte (wie heutzutage eine AHV-Rente).

Sind 1400 Franken viel Geld?

Das vom Regierungsrat genehmigte Ruhegehalt ist nach dem Historischen Lohnindex (HLI) von Swistoval in heutigen Geldwerten (Basis 2009) auf ca. 18350 Franken zu veranschlagen. Nach der Verordnung von 1906 müsste das also mehr als 50% des letzten Lohnes ausmachen.

In einer Novellierung dieser Verordnung betreffend die Leistungen des Staates für das Volksschulwesen vom 28. November 1913 (StAZH OS 29 (S. 649-673)) ist in § 20 der Mindestlohn festgelegt:

«Die Jahresbesoldung der Arbeitslehrerinnen beträgt für die wöchentliche Stunde mindestens Fr. 45.» 

Dazu kam eine vom Dienstalter abhängige Zulage pro Wochenstunde. Bei mehr als 19 Dienstjahren hatte man den Plafonds von Fr. 30 erreicht. Mit anderen Worten: Anna Baumgartner verdiente also ab 1913 mindestens 900 Franken pro Jahr. Umgerechnet nach dem HLI sind das rund 29900 Franken Jahreslohn. 

Dann kam der Erste Weltkrieg und mit ihm eine enorme Teuerung. Wie stark die war, das kann man erahnen, wenn man sich § 11 im Gesetz über die Leistungen des Staates für das Volksschulwesen und die Besoldungen der Lehrer (keine Verordnung mehr: jetzt also durch den Kantonsrat verabschiedet; vgl. StAZH OS 31 (S. 274-283)) vom 2. Februar 1919 ansieht:

«Die Arbeits- und Haushaltungslehrerinnen beziehen einen [sic!] Grundgehalt von 120 Fr. für die wöchentliche Jahresstunde. [...]  Der Staat richtet den Arbeits- und Haushaltungslehrerinnen Dienstalterszulagen aus von 5–50 Fr., beginnend mit dem zweiten Dienstjahr und mit jährlicher Steigerung um 5 Fr. für die wöchentliche Jahresstunde.»

Im Jahre 1920 hatte Anna Baumgartner also einen Jahreslohn von 2040 Franken. Umgerechnet mit dem HLI ergibt das 31150 Franken. Das heisst: Ihr Ruhegehalt betrug gerade knapp unter 60% des letzten Lohnes. Grosse Sprünge konnte man da nicht mehr machen.

Quelle

Mittwoch, 19. Mai 2021

Das doppelte Brandunglück eines Weyacher Hafners

Neben der obrigkeitlich konzessionierten Ziegelhütte gab es in Weyach auch Hafner, also Ofenbauer, die ihre eigenen Öfen zum Brennen der dazu nötigen Bauelemente betrieben. Einen von diesen Handwerkern traf es am 2. Oktober 1814 mit voller Wucht, wie man dem Protokoll des Kleinen Rats (d. h. des Regierungsrats) des Kantons Zürich entnehmen kann:

«Die von Herrn Bezirksstatthalter Angst mit Zuschrift vom 2ten d. M. gemachte bedauerliche Anzeige, daß gleichen Tags morgens um 8. Uhr die Brennhütte des Ludwig Meyerhofer, Hafners zu Weyach, ein Raub der Flammen geworden, – bedarf, da das Gebäude nicht aßecuriert ist, keiner Verfügung; einzig soll der Herr Bezirksstatthalter Angst eingeladen werden, auf den Fall, daß die Brennhütte wieder aufgebaut wird, dafür Sorge zu tragen, daß solches auf eine Weise geschehe, daß dadurch für die Zukunft die benachbarten Häuser-Besitzer weder gefährdet noch beschädiget werden.» (RRB 1814/0963, 4. Oktober 1814)

Die Brennhütte war also nicht versichert! Moment mal, denken Sie jetzt vielleicht. Gab es da nicht ab 1808 die kantonale Gebäudeversicherung, bei der doch jedes Haus versichert sein muss? Ja, diese kantonale Feuer-Societät (wie sie auch genannt wurde) hat am 1. Mai 1809 den Betrieb aufgenommen.

Einige brandgefährliche Gewerbe waren nicht versicherbar

Aber bereits der Gesetzesentwurf an den Grossen Rat (vom 11. November 1808) hatte einige Gebäudenutzungen explizit von der Deckung ausgenommen, sodass das Gesetz am 16. Dezember mit folgendem Wortlaut verabschiedet wurde: 

«§. 2. Es sollen alle und jede, im Kanton gelegene Häuser, Scheunen oder Stadel, Stallungen und Trotten, mit Inbegriff der Trottbette und Trottbäume; alle Back-, Färb- [im Original: «Farb»] und Waschhäuser, Schmied-, Schlosser-, Rothgießer-, so wie andere dergleichen Werkstätte und Fabrikgebäude; auch alle Kirchen und Pfarrhäuser, ohne Unterschied, und überhaupt alle und jede, im folgenden Artikel nicht bestimmt ausgenommene Gebäude, in der Brand-Versicherungs-Anstalt begriffen, und derselben einverleibt werden. 

§. 3. Von dieser Anstalt werden einzig ausgenommen, alle Pulvermühlen und Pulvermagazine, Schmelz-, Glas- und Ziegelbrennereyen; ferner alle einzeln und abgelegen stehende Gebäude, deren Schatzungswerth unter 100. Gulden ist; auch versteht es sich von selbst, und wird nur zu Vermeidung jedes Mißverständnisses ausdrücklich bemerkt, daß der Werth der Mobilien und der auf den Häusern haftenden Gerechtigkeiten, bey der Assecuranz-Anstalt nie in Anschlag und Schätzung kommen kann.»


Hafnerhütten mit Brennöfen wurden also als Ziegelbrennereien angesehen. Und erhielten aufgrund der als zu hoch empfundenen Brandrisiken keine Deckung.

Scharfe Auflagen für den Wiederaufbau

Der Regierungsrat lud – wie man dem Entscheid vom 4. Oktober entnehmen kann – den Bezirkstatthalter ein, einen allfälligen Wiederaufbau im Auge zu haben. Diesen Hinweis kann man als reine Höflichkeitsgeste verstehen, jedoch auch dahingehend, dass das Gesetz von 1808 punkto Aufgaben des Statthalters nach einem Brand offenbar als nicht explizit genug angesehen wurde. Da heisst es nämlich (vgl. die unterstrichene Passage): 

«§. 33. Damit endlich alle Theilnehmer an dieser Brandversicherungs-Anstalt nicht befürchten dürfen, daß, aus Zutrauen auf dieselbe, die Wachsamkeit gegen Feuersgefahr überhaupt vermindert werden möchte, – so sind anmit alle Gemeinden, so wie auch alle Orts- und Polizey-Behörden des Kantons, auf das Ernstlichste aufgefordert, die bereits bestehenden Feuer-Polizeylichen Verordnungen auf das strengste und mit besonderer Wachsamkeit zu handhaben; ansonsten für dießfällige Nachläßigkeit, sowohl der Urheber, eines allfälligen Unglücks, als auch die zur Aufsicht verordneten Personen, zur gerechtesten Ahndung und Strafe gezogen würden. Zu dem Ende hin liegt es in den besonderen Absichten der Regierung, daß die Vollziehungs- und Gemeindsbeamteten, bey Wiederaufbauung abgebrannter Häuser, sich angelegen seyn lassen, nach den Umständen möglichster Maaßen darauf einzuwürken, daß dieselben einerseits nicht allzu nahe zusammengestellt, und anderseits mit Rauchfängen versehen und mit Ziegeln gedeckt werden. Es sollen daher auch die Gemeindsvorsteherschaften pflichtig seyn, über die vorhabende Art und Weise eines jeden, an die Stelle abgebrannter Gebäude aufzuführenden Baues, der Assekuranz-Commission einen bestimmten und ausführlichen Plan einzugeben, damit solche im Fall sey, auf diesen Zweck hin zu arbeiten, und nöthigen Falls das Erforderliche zu bestimmen und zu verfügen.»

Die Befürchtung, dass man es nun, da man ja jetzt eine Versicherung habe, mit dem Brandschutz nicht mehr allzu genau nehmen könnte, die ist hier in aller Deutlichkeit herauszulesen. 

Auch interessant ist, wie bereits 1808 vorgesehen war, dass daraufhin gewirkt werden sollte, abgebrannte Strohdachhäuser nach dem Wiederaufbau nicht wieder mit Stroh eindecken zu lassen. Erst mit dem § 9 des Gesetzes vom 24. Januar 1832 wurden neue Stroh- und Schindeldächer dann tatsächlich verboten.

Ob Ludwig Meyerhofer seine Brennhütte wieder aufbauen durfte und wenn ja, unter welchen Auflagen und an welchem Platz, ist Gegenstand vor Ort zu tätigender Nachforschungen im Gemeinde- bzw. Staatsarchiv.

Quellen und Literatur 

Montag, 17. Mai 2021

Mobilmachung im Januar 1871. Die Sicht eines 11-jährigen Knaben.

Jakob Meyerhofer (1860-1920) war seit 1868 Zögling der Zürcher Blinden- und Taubstummenanstalt. Die Lehrkräfte hielten die Kinder und Jugendlichen zur Führung von Tagebüchern an. 

In WeiachBlog Nr. 1651 (mit einem Bericht über den Eisenbahnbau bei Weyach an Ostern 1873) wurde erwähnt, es sei lediglich einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass einige von diesen Aufzeichnungen erhalten geblieben sind. Der sah in diesem Fall so aus:

«Die in den Jahren 1871, 73 und 75/76 verfassten Tagebücher blieben im elterlichen Hause und wurden von der Halbschwester Albertine bei ihrer Verheiratung mitgenommen und im Estrich ihres Hauses eingelagert. Über ihre Enkelin, Frau Elisabeth Hermann-Meierhofer, gelangten sie zu ihrer Tochter Christine Abla-Hermann, wohnhaft in Ägypten, und ihrer Nichte Ursula Jucker-Meierhofer in Neerach. Sie bemühten sich um eine definitive Sicherung dieser Dokumente und liessen durch die Herren Willi Dolderer, Zürich, und Albert Meier, Neerach, Transkriptionen erstellen. Die Originale wurden im Herbst 2004 dem Staatsarchiv Zürich übergeben.» (Gottfried Ringli in der Einführung zur Edition der Tagebücher Meyerhofers)

Dass es auch für die Jahre 1868 bis 1870 Tagebücher gegeben hat, kann angenommen werden. Für 1872 und 1874 dürfte dies mit Sicherheit zutreffen. Über den Verbleib dieser beiden Dokumente ist jedoch nichts bekannt.

Die ehemalige Zürcher Blinden- und Taubstummenanstalt an der Künstlergasse 10, am heutigen Platz des Hauptgebäudes der Universität Zürich (abgerissen 1909). Hier schrieb Jakob Baumgartner seine Tagebücher.

«Die Soldaten müssen tragen schwer.»

Unter dem Samstag, 21. Januar 1871 (d.h. kurz nach seinem 11. Geburtstag) schrieb Jakob u.a.:

«Am Mittwoch Abends [d.h. am 18. Januar] kamen zwei Soldaten in die Anstalt. Sie schliefen in der Anstalt. Sie assen und schliefen am Donnerstag u. Freitag in der Anstalt. Die Soldaten gingen heute fort. Sie fahren heute mit vielen anderen Soldaten nach Basel. Am Donnerstag Morgens sahen wir viele Soldaten auf dem Acker hinter der Anstalt. Die Soldaten versammelten sich auf dem Acker. Ein Offizier ritt auf dem Pferd. Einige Soldaten trommelten. Einige Soldaten bliesen die Trompete. Die Soldaten haben eine Uniform = Soldatenkleidung. Sie tragen einen Tornister, eine Flinte, eine Patrontasche, ein Bajonnet, einen Brodsack u. eine Suppenschüssel. Die Flinte u. der Tornister u. der Brodsack sind schwer. Die Soldaten müssen tragen schwer. In dieser Woche konnten wir nicht schlittenfahren. [Geschlittelt wurde wahrscheinlich auf dem steilen Teil der Künstlergasse bis zum Haus zum Rechberg am Hirschengraben.] Am Dienstag u. am Mittwoch ist der Schnee einwenig geschmolzen. Am Donnerstag schneite es wieder. Der Schnee ist nass, weil das Wetter nicht kalt ist.»

Gewehr, Brotsack und Tornister! Selbst der Redaktor des WeiachBlog hat in seinem ersten WK in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre noch einen Landsturmsoldaten mit «Haaraff» einrücken sehen. Einen Brotsack, wie ihn die Sattlerei Fruet beim Alten Bahnhof Weiach damals noch herstellte, hat er selber noch gefasst.


Auf der Siegfriedkarte von 1880 (Ausschnitt: https://maps.zh.ch/s/sox2j6jd) sieht man den «Acker», auf dem sich die von Jakob beschriebenen Soldaten versammelt haben. Die Anstalt war in dem südsüdöstlich des Politechnikums (heute Hauptgebäude der ETHZ) gelegenen Gebäude untergebracht.

Erneute Mobilmachung aufgrund des Kriegsverlaufs

Die Beschreibung im Tagebuch passt auf den Tag genau zur Lageentwicklung. Im Dezember 1870 näherten sich die Kampfhandlungen zwischen Deutschen und Franzosen wieder der Schweiz. Der Bundesrat beschloss daher, Truppen für den Grenzschutz im Jura aufzubieten. General Herzog übernahm am Dienstag, 17. Januar 1871 erneut den Oberbefehl. Weil sich abzeichnete, dass die französische Armée de l'Est, die sogenannte Bourbakiarmee, zur Schweizer Grenze abgedrängt werden würde, verschob Herzog in Eilmärschen Truppen in die Grenzregion (d.h. den heutigen Kanton Jura sowie Kanton Neuenburg). 

Dass es sich bei diesen beiden in der Anstalt einquartierten Soldaten um ein Vorausdetachement oder einen Kadervorkurs (KVK) gehandelt hat, ist daher sehr wahrscheinlich. Unbekannt ist, ob es Zürcher Truppen waren, die da mobilisiert wurden, was aber naheliegt, denn damals war die Schweizer Armee noch aus vielen kantonalen Kontingenten zusammengewürfelt. 

General Herzog deckte die Mängel punkto Ausrüstung, Ausbildung und Organisation in seinen beiden Berichten über die Grenzbesetzung von 1870 und 1871 schonungslos auf und scheute auch nicht vor deutlicher Kritik an den Herren Bundesräten zurück. Bis dahin blockierte Bestrebungen zur Zentralisierung und Reform der Armee erhielten starken Auftrieb und wurden nach Annahme der Bundesverfassung von 1874 umgesetzt.

Quelle

  • Tagebücher 1871, 1873 und 1875/76 von Jakob Meyerhofer von Weiach (ZH), 1868-1876 Schüler an der Blinden- und Taubstummenanstalt Zürich. Mit einer Einleitung von G. Ringli und G. Wyrsch-Ineichen. Hrsg.: Kantonale Gehörlosenschule, Zürich 2004. Fundstelle: 1871 – S. 3.
  • Senn, H.: Artikel Deutsch-Französischer Krieg. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.03.2010.

Samstag, 15. Mai 2021

Dem Nachbar aufs Dach steigen

Das braucht man jetzt nicht mehr, wenn man nicht gleich jeden einzelnen Ziegel einzeln begutachten will. Und auch das sollte man sich um des lieben Friedens willen verkneifen. Aber Spass beiseite!

Bei einer Auflösung von 5 cm sind die auf dem GIS des Kantons Zürich verfügbaren Orthofoto-Luftaufnahmen von Ende August 2020 immerhin so gut, dass man jedes einzelne Dachfenster scharf erkennen kann. Ein deutlicher Auflösungssprung im Vergleich zu den Orthofotos der Jahre 2014 bis 2018.

Im Fall unseres Kirchenbezirks hat die Kamera aus dem Orbit die Renovationsarbeiten an der Kirche selber festgehalten: https://maps.zh.ch/s/8loiiiui. Zu erkennen ist eine weisse Umrandung: das Baugerüst.


Auch der Fixit-Schriftzug auf einem Hallendach im Kieswerk-Areal ist  wenn auch mittlerweile schwach  nach wie vor aus der Luft lesbar: https://maps.zh.ch/s/ekqbh7op, vgl. WeiachBlog Nr. 463.

Quelle

  • GIS Kanton Zürich, Orthofoto Sommer 2020: 
    https://geolion.zh.ch/geodatensatz/show?giszhnr=527

Freitag, 14. Mai 2021

Eindringlinge werden «so gleich auf der Stelle tod geschossen»

Schiessbefehl an der Grenze? Das gab es nicht nur in der DDR. Nein, genau heute vor 300 Jahren hat auch der Schwäbische Reichskreis in Ulm ein solches Vorgehen beschlossen. Aus Angst vor einer Pandemie. Statt Republikflüchtlinge sollten Eindringlinge sofort unschädlich gemacht werden.

Der Schwäbische Kreis war eine Unterorganisation des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation und umfasste ein Gebiet, das man heute in etwa mit dem Umfang des Bundeslandes Baden-Württemberg vergleichen kann. Zu ihm gehörten auch die Nachbarstaaten des damaligen Zürcher Herrschaftsgebietes (das mit Dörflingen und der Grafschaft Sax im im heutigen St. Galler Rheintal noch wesentlich raumgreifender war): namentlich Liechtenstein, das Hochstift Konstanz, sowie die Grafschaft Klettgau.

Quelle: Wikipedia-Beitrag Schwäbischer Reichskreis

Gebiete der beiden letzteren lagen den Weyachern direkt vor der Nase. Der Beschluss aus Ulm war also ziemlich relevant für die Bewohner des Zürcher Unterlands. Es verwundert denn auch nicht, dass das entsprechende Mandat aus Ulm sich in der Sammlung Zürcher Mandate der Stadtschreiberkanzlei findet. Und es ist anzunehmen, dass der Inhalt durch die Pfarrer von den Kanzeln verkündet wurde, wie das bei Erlassen aus Zürich der Fall war. 

Zu diesem Zeitpunkt war die sogenannte Marsilianische Pest schon etliche Monate alt. Man wusste also eigentlich was da lief, die gesundheitlichen Auswirkungen hielten sich in engen Grenzen, die wirtschaftlichen Schäden dagegen nahmen exorbitante Ausmasse an. Die Handelshäuser drängten darauf, den Verkehr endlich wieder aufnehmen zu dürfen. Die Abgeordneten in Ulm einigten sich auf eine Art Kompromiss. Mit radikalen Massnahmen gegen Personen aus dem Seuchengebiet, gegen die sich die Zürcher Vorkehrungen wie ein Sonntagausflug ausnehmen. Die Zürcher Erlasse finden Sie in den WeiachBlog-Beiträge Nr. 1510 (18. Mai 2020), Nr. 1599 (9. Oktober 2020) und Nr. 1606 (31. Oktober 2020). Hier folgt das Mandat aus Ulm im Volltext:

Präambel: Vorsicht ist die beste Medizin

«Nachdeme von zimlicher Zeit her auß Frankreich wegen der in der Stadt Marseille und dortiger Gegend in der Provence Anfangs ein- und seithero in andere angelegene Provinzien weiter umgerissenen leidigen Contagion sehr bedauerliche Nachricht eingeloffen / und täglichen noch einlauffen; Und nun bey deren gefährlichen Beschaffenheit in allewege nöthig ist / daß nicht allein wie jede Christliche Obrigkeit selbsten davor Sorge tragen wird / die Göttliche Allmacht und Barmherzigkeit um Tilg- und Abwendung dieses Ubels einbrünstig und eyfrig angeruffen / sondern auch anbey menschlicher Vorsicht nach alle möglichste Veranstaltung vorgekehret werde / damit dasselbe in die Gränzen des geliebten Teutschen Vatterlandes nicht ebenmässig einbringen möge; So hat man ab Seithen derer Fürsten und Stände bey gegenwärtiger allgemeiner Creyß-Versammlung deßwegen heilsame Praecautiones vorzukehren vor nöthig befunden / sich über folgende Verordung verglichen / und solche überall in dem Creyß durch offene Patentes kund zumachen beliebet / damit sich männiglich / frembd und einheimisch / darnach richten / darob ernstlich halten / und sich vor einverleibter Straffe hüten möge.»

Art. 1: Absolute Handelssperre für Frankreich, Savoyen und Genf

«Diesemnach Fürsten und Stände dieses Creyses heilsamlig verordnen / daß nicht allein niemand wer der auch seye / mit Marseille, Toulon und andern in der Provence, Languedoc, Dauphiné, auch an der Rhone gelegenen Orthen, ingleichen mit dem Savoyischen Gebieth und der Stadt Genff einiges Commercium pflegen / sondern auch auß dem ganzen Königreich Frankreich und dessen incorporirten Provinzien / (allein Elsaß dermahlen noch außgenommen/) einige Waaren mehr / sie mögen Nahmen haben / wie sie wollen / beschreiben / oder in den Schwäbis. Creyß einführen solle; Allermassen sämtliche Stände und Obrigkeiten / welche an dieser heilsamen Verordnung ohne dem Theil tragen / ohne Anstand daran seyn werden / allen Handel und Wandel / auch in alle Gemeinschaft mit ganz Frankreich (nur allein wie vorgemeldet / Elsaß der Zeit noch außgenommen/) auch mit ermeldtem Savoyischen Gebieth und der Stadt Genff denen Ihrigen zuverbieten / denen bey den Haupt-Pässen und Uberfahrten bestellten Befehlshaberen und Wachten aber / bey Leib- und Lebens-Straff gemessen anbefohlen wird / nach dem Exempel der in andern benachbarten Landen gemachten Verordnungen ernstlich dahin besorgt zuseyn / daß in diesem Löbl. Schwäbis. Creyß durchauß keine Französische Waaren eingelassen werden; sondern falls dergleichen hereinpracticiret werden wolten / sollen selbige / sie mögen angetroffen werden wo sie wollen / ohne weitere Consideration so gleich an einem besondern Orth öffentlich verbrennet / und die Fuhr-Leute oder Eigenthümer / bey deren Attrapir- und Außkundschafftung an Leib und Leben gestrafft / die Schiffe versenket / odre auch wie die Wagen / verbrennet / und die Pferde confisciret werden: Von welchen Confiscationen hernach deren Angebern / welche es Ambts halber zuthun / nicht ohne hin schuldig sind / die Helfte abzureichen.» 

Art. 2: Handelsgüter aus anderen Gebieten nur mit Gesundheits-Attesten

«Diejenige Kauffmanns-Güther und Waaren aber / welche auß Elsaß / Lothringen / der Schweitz / und andern frembden Landen und Orthen / ausserhalb Frankreich / und besagtem Savoyischen Gebieth und der Stadt Genff herkommen / sollen anderst nicht passiret werden / sie seyen dann mit richtigen und beglaubten Attestatis von der Obrigkeit des Orths, woher sie kommen / versehen / daß sie in dem Land selbst / und an solchen Orthen / wo reine und gesunde Lufft ist / gewachsen / gesammlet / fabricirt / oder verarbeitet / auch gepacket / und durch keine verdächtige Orth geführet / nicht weniger die darzu gebrauchte rohe Materialien an unverdächtigen Orthen eingekauffet / oder von solchen hergebracht worden.»

Art. 3: Ohne Quarantänenachweis keine Einreise

«Was aber die Persohnen betrifft / da ist auß denen vorbemerkten inficirt- oder verdächtigen Orthen und Provinzien ebenfalls auf keine Weise jemand zu passiren / sondern wer daher kommt / so gleich bey denen Haupt-Pässen und Uberfahrten ab- und zurück zuweisen / mit denen andern aber / welche sonsten auß Frankreich / der Schweitz / und anderen frembden Orthen herkommen / zur Zeit dieser Unterscheid zuhalten / daß ein jeder / weß Stands oder Würden der auch seye / durch einen richtigen und beglaubten Gesundheits-Pass odre Fede, worinnen die Persohn nach ihrem Alter / Statur, Haaren / Barth und Kleidung / auch ihre Wohnung und Heimath / oder wo dieselbe sich sonsten aufzuhalten pflege / beschrieben / darzuthun schuldig seyn solle / daß er auß keinem angesteckten oder verdächtigen Orth weder außgereyset / noch unter Wegs in dergleichen gewesen seye / noch mit andern angesteckten Orthen und Persohnen Gemeinschafft gepflogen / sondern daß er sich wenigst 40. Tag die nächsten zurück / an einem gesunden / uninficirten Orth in denen benachbarten Provinzien beständig aufgehalten / oder vor Eintritt in den Creyß an dessen Gränzen 6. Wochen lang Quarantaine gemacht habe;»

Art. 4: Todesstrafe für Eindringlinge. Schiessbefehl an der Grenze

«Widrigen falls da Persohnen von verdächtigen Provinzien und Orthen ohne genugsam beglaubte Fede in diesen Creyß sich ein- und durchschleichen wolten : Wann sie an denen Pässen und Uberfahrten von der Wacht / sich zu retiriren erinnert worden / sich aber widersetzen / oder sonsten durchpracticiren wolten / so gleich auf der Stelle tod geschossen / oder da sie bey unerlaubten Passagen und verbottenen Neben-Fahrten würklich sich hereingeschlichen hätten / und ertappet wurden / nachdeme Sie von jedes Orths Obrigkeit / wo sie herübergekommen / examiniret worden / ohne weitern Process offentlich aufgehenkt / die Schiff- und Fuhr-Leuthe aber / welche dergleichen Persohnen über- oder hereingeführet / ingleichem die Unterthanen und Wachten / so dieselben an den Posten oder Uberfahrten passiren lasen / mit empfindlicher / auch allenfalls da es geflissentlich geschehen wäre / an Leib und Leben gestraffet / anbey mit denen Schiffen und Wagen / wie vorhin wegen der verdächtigen Waaren gemeldet / verfahren / oder solche samt den Pferden confiscirt / und denen Angebern ebenfalls / wie oben gemeldet / die Helffte von denen Gelt-Straffen und Conficationen verabfolget werden solle;» 

Art. 5: Organisation der Kontrollen. Inpflichtnahme der Wirte

«Allermassen dann auch fehrner / damit solches alles also genau beobachtet / und erfüllet werde / nicht allein an denen Haupt- und zumahlen auch denen Ordinari See- und Rhein-Passagen und Uberfahrten / (welche durch die daselbst belegene Herrschafften besonders werden bekannt gemachet werden /) nicht weniger an denen geschlossenen Orthen und Pässen / auch bewandten Dingen nach in denen Flecken und Dörfferen / (wie deßwegen von Creyses wegen die Verordnung abgefaßt worden/) betraute / beeydigte Inspectores und Wachten / welche die Reysende fleissig examiniren / ingleichem die Signa, und neben selbigen die Stöck mit daran gehefften Patenten aufzustellen / und anbey die Neben-Uberfahrten über den Rhein und See / so viel frembde Persohnen und Waaren betriftt / gänzlich zuverbieten / sondern auch allen Gastgebern und Wirthen anzubefehlen / der Schluß gefasset worden / bey Verlurst ihrer Ehre und Guts niemand / der nicht mit einem gültigen - von der Obrigkeit und Wachten / allwo er passirt / recognoscirten / und von neuem unterschriebenen Pass, wie oben bemerket worden / versehen / zubeherbergen / sondern sogleich der Obrigkeit hiervon die Anzeig zuthun / damit dieselbe gegen solche Ubertretter / welche sich heimlich und boshafftig eingeschlichen / der Gebühr nach / und zwar mit Erkennung Leib- auch wol gar Lebens-Straff verfahren möge.»

Art. 6: Für Juden gibt es keine Ausnahmen

«Wobey derer im Land und der Nachbarschafft wohnenden bekandten Juden halber hiermit nachtrucksam verordnet und befohlen wird / daß dieselbe durch ihre gewöhnlich habende Geleithe von der Schuldigkeit / dergleichen genugsam beglaubte Attestata und Fede dannoch vorzuweisen / keines wegs entbunden / und enthoben / sondern dieselbe und ihre Haußgenossen sich der obbeschriebenen Fede zubedienen / gleichwie sonten männiglich gehalten seyn / die frembde Juden aber / wie auch die mit Waaren herumziehende Savoyards gar nicht passiret / weniger den Einheimischen gestattet werden solle / daß sie frembde heimlich hereinzüglen / und ihnen Unterschleiff geben / und diß bey Leib- und Lebens-Straff.» 

Art. 7: Abhaltung von Bettler, Vaganten, etc.

«Ubrigens aber so viel andere Vaganten / Bettler und dergleichen Gesind belanget / ist ob deme / was unterm 6ten Maij, verwichenen Jahrs hierunter von Creyses wegen heilsamlich verordnet worden / ernstlich zuhalten / und selbe / sie haben gleich Fede oder Pässe / oder nicht / sogleich ab- und zurückzuweisen / und ihnen darbey anzuzeigen / daß sie auf weiteres Betretten mit denen in vorgehenden affigirt- und publicirten Verordnungen geschärfften Straffen / ohnnachläßlichen angesehen / auch nach Befinden gar am Leben gestrafft werden sollen.» 

Art. 8: Reisende brauchen einen Gesundheitspass

«So fehrne aber jemand auß diesem Creyß in die Fehrne verreysen wolte / wurde selbiger von seiner Obrigkeit sich wissen mit einem Gesundheits- oder Sanitäts-Pass oder Fede (darinnen ebenfalls der Nahm / die Statur der Persohn / die Farb / Haar / und Alter beschrieben und gemeldet werden solle / daß sie die nächste 40. Tage zurück sich allda als einen gesunden Orth / wo reine Lufft seye / aufgehalten /) zuversehen / damit er an Fortgang seiner Reyse nicht gehindert werde / deßgleichen er auch ein beglaubtes Attestatum von dem Orth / wo er gewesen / und passiret / bevor er wieder eingelassen wird / zurück zubringen hat.»

Art. 9: Öffentliche Bekanntmachung des Mandats

«Gleichwie nun dieses alles um so mehrers die Wolfahrt des gemeinen Wesens so wol überhaupt / als auch die Conversation des Creyses / und eines jeden Hoch- und Löbl. Stands erheischet / insonderheit aber dergleichen Praecautions-Mittel / welche der Höchste segnen wolle / ohnumgänglich erfordert werden; Als ist dieses Patent, damit diesem allen desto mehr nachgelebet werde / auch sich keiner mit der Unwissenheit entschuldigen könne / so fort an gewöhnlichen Orthen / Pässen und Uberfahrten zuverkündigen und zu affigiren. 

Ulm / den 14. Maij, Anno 1721.

Der Fürsten und Stände des Löbl. Schwäbischen Creyses / bey gegenwärtig-allgemeinem Convent, anwesende Rähte / Bottschaften und Gesandte.»

Wie man sieht, wurde das Reisen doch nicht gänzlich verboten. Aber auf Personen aus unverdächtigen Gebieten eingeschränkt und davon abhängig gemacht, ob man seine Aufenthaltsgeschichte lückenlos nachweisen konnte oder nicht.

Quelle und Literatur

  • Mandat der Stände des Schwäbischen Kreises betreffend sanitätspolizeiliche Massnahmen wegen der Pest in Marseille, 14. Mai 1721. Einblattdruck. Signatur: StAZH III AAb 1.9, Nr. 3.
  • Brandenberger, U.: COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich. WeiachBlog Nr. 1510 v. 18. Mai 2020.
  • Brandenberger, U.: Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720. WeiachBlog Nr. 1599 v. 9. Oktober 2020.
  • Brandenberger, U.: Vor 300 Jahren: Zürich sperrt Handels- und Reiseverkehr mit Genf. WeiachBlog Nr. 1606 v. 31. Oktober 2020.
  • Brandenberger, U.: Die Weiacher Quarantäne-Baracke von 1720/21. WeiachBlog Nr. 1618 v. 15. Januar 2021.

[Veröffentlicht am 15. Mai 2021 um 02:18 MESZ]

Donnerstag, 13. Mai 2021

Jakob Meyerhofer (13): «Ich freue mich sehr über die Eisenbahn.»

Im gestrigen Beitrag ging es um die 1865 eingeweihte Herdöpfelbahn, welche das Zürcher Unterland (oder wenigstens die Bezirkshauptorte) erstmals per Schiene mit der Stadt Zürich verbunden hat. Für die Weyacher war der nächstgelegene Bahnhof in Niederglatt (bis zum 1. August 1876, als Weiach-Kaiserstuhl feierlich eingeweiht wurde).

Einem glücklichen Zufall verdanken wir, dass die Tagebücher von Jakob Meyerhofer, geboren am 9. Januar 1860, einem aus Weiach stammenden stark hörbehinderten Buben, erhalten geblieben sind. 

Jakobs Tagebuch des Jahres 1873 wurde durch Willi Dolderer, 8052 Zürich, transkribiert und 2004 von der Kantonalen Gehörlosenschule herausgegeben (vgl. Quellenangaben unten). 

Internat mit Aufzeichnungspflichten

Der junge Weyacher hatte das Glück, im Juni 1868 in die Blinden- und Taubstummenanstalt in der Stadt Zürich aufgenommen zu werden. Diese wurde als Internat geführt und hatte den Zweck, die behinderten Zöglinge auf eine einfache Erwerbstätigkeit vorzubereiten, die ihren Einschränkungen angepasst schien. 

Die Zöglinge mussten Hefte führen, in denen sie den Lehrstoff für Rückgriff in späteren Jahren unter Anleitung notierten. Und: die Lehrkräfte hielten sie auch an, Aufsätze über ihre Ferienerlebnisse zu verfassen, wie den nachstehend in vollem Wortlaut wiedergegebenen über die Osterferien, verfasst am Mittwoch, 16. April 1873:

«Am letzten Freitag, Sonntag u. Montag waren Festtage, denn es war der Charfreitag u. die Ostern. Ueber diese Festtage hatten wir Ferien, u. die meisten Zöglinge durften schon am Donnerstag nach Hause geben, um die Ihrigen zu besuchen. Auch ich durfte nach Hause zu meinen l. Eltern. [l. ist die Abkürzung für liebe/n, etc.] 

Am Donnerstag Mittag begleitete Herr Kläger mich, den Heinrich Griesser u. die Pauline Frei. Er kaufte Billet für uns. Wir einstiegen in die Eisenbahn. Ich u. Griesser fuhren auf der Eisenbahn nach Niederglatt. Dort stiegen wir aus u. gingen zu Fuss von Niederglatt nach Weyach. Ich sah meine l. Mutter in dem Weinberg. Die Mutter winkte mir. Ich ging in den Weinberg u. grüsste die Mutter u. die Geschwister. Ich trank Wein u. ass Bauernbrod. Dann ging ich mit den Geschwistern nach Hause. Da kam mein l. Vater. Ich grüsste den l. Vater.

Am Abend kamen die Mutter u. der Vetter Jakob Meierhofer u. der Knecht nach Hause. Der Knecht fütterte das Vieh mit Heu. Der Knecht heisst Johannes Lombele. Wir tranken Kaffee u. assen Brod u. Kartoffeln. Dann gingen wir zu Bette.

Am Freitag war der Charfreitag. Es war schlechtes Wetter. Es regnete. Am Vormittag putzte der Bruder Johannes meine Schuhe u. die Schuhe der Eltern. Ich schnitt die Runkelrüben mit der Runkelrübenaxt. Die Mutter lag im Bette, weil sie unwohl war. Die Schwester Elise wusch die Bänke u. die Stühle u. die Taburete mit dem Lappen u. Wasser. Am Nachmittag blieben die Geschwister im Hause. Sie spielten mit dem Ball in der Stube. Der Vater ging fort. Am Abend tranken wir Kaffee u. assen Brod u. Kartoffeln. Ich schälte die Kartoffeln. Schang raffelte die Kartoffeln mit der Raffel. Wir gingen um halb 9 Uhr zu Bette.

Backtag und Zeitungslesen

Am Samstag Vormittag backte die Mutter die Kohlwähen u. dann die Bauernbrode. Die Mutter gab mir 2 Stücke Wähen. Ich ass die Wähen u. trank Wein. Ich hülste Böhnli aus.

Am Nachmittag legten Elise u. ich die Bauernbrode in die Multe. Die Mutter wand den Faden von dem Haspel auf das Spuhlrad. Der Knecht spaltete das Holz. Die Schwester Elise wusch die Gelten mit dem Lappen u. mit Sand u. Wasser in der Küche. Da kam ein Mädchen u. gab uns die Zeitung Volksfreund. 

[Gemeint ist der Bülach-Dielsdorfer Volksfreund, später Neues Bülacher Tagblatt genannt. Dieses Konkurrenzblatt der Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung (später Zürcher Unterländer) hatte Jakobs Vater offenbar abonniert.]

Am Abend kam der Nachbar, Heinrich Bersinger u. las die Zeitung. Ich u. Johannes Meierhofer holten die Aepfel aus dem Keller. Ich schnitt die Aepfel. Ich u. Johannes nahmen die Kernenhäuser von den Aepfeln. Dann gingen wir zu Bette.

Am Sonntag u. Montag war Osterfest. Am Sonntag Vormittag putzte ich meine Schuhe u. die Schuhe des Vaters. Die Eltern anzogen die schwarzen Sonntagskleider. Sie gingen in die Kirche. Sie kamen um halb 11 Uhr. Die Schwester Elise wischte den Boden mit dem Besen. Dann putzte Elise die Bänke u. die Sessel. Dann bekamen wir ein gutes Mittagessen. Wir anzogen die Sonntagskleider. Da kam Heinrich Griesser. Meine Mutter gab dem Griesser u. mir die Aepfel. Griesser ging wieder fort. Die Mutter u. ich u. die Geschwister besuchten den Grossvater. Der Grossvater ist 5 Wochen lang krank. Er hat Hirnerweichung. Der Grossvater liegt im Bette. Sein Kopf ist blass. Die Mutter war traurig, weil der Grossvater krank ist. Er muss wahrscheinlich sterben. Er zittert an dem Leib. Er hat Schmerzen an dem Kopfe.

Ein Augenzeuge des Eisenbahnbaus auf Weiacher Gebiet!

Am Abend gingen der Vater u. ich u. Johannes Meierhofer auf das Feld. Der Vater hat gesagt, dass er eine Wiese für 670 Franken gekauft habe. [Nach Historischem Lohnindex von Swistoval: rund 36'000 Franken] 

Dann sahen wir auf dem Felde, wie die Eisenbahn gebaut wird. Da stehen einige Erdwaggons. Auf dem Boden sind Schienen. Ich freue mich sehr über die Eisenbahn. Dann gingen wir nach Hause. Der Knecht fütterte das Vieh. Da kam die Base u. redete mit der Mutter. Dann gingen wir zu Bette.

Am Montag putzte ich meine Schuhe u. die Schuhe des Vaters. Elise wischte den Boden in der Stube. Ich u. Johannes holten Wasser in die Küche. Die Mutter legte Eier in die Pfanne. Dann nahm die Mutter die Eier aus der Pfanne. Die Eier wurden schwarz gefärbt von dem Farbholz. Ich bekam 6 schwarze Eier von der l. Mutter. Die Geschwister bekamen 2 Eier. Ich freute mich über die Eier. Ich ass 2 Eier u. ein halbes Brödli.

Weiacher Jungschützen, unbewohntes Wasserschloss, Wirtshausbesuch

Am Nachmittag gingen die Eltern u. die Geschwister u. ich von Weyach zuerst nach Kaiserstuhl u. dann fast nach Zurzach. [Wie man nachstehend sehen wird, war der Ausflug wesentlich kürzer] 

Ich sah bei Weyach viele Jünglinge. Sie schossen in die Scheiben auf einem Acker. Ich sah, dass viele Bäume u. Steine abgehauen wurden. Da wird die Eisenbahn gebaut. Wir gingen zuerst bei der Sägemühle vorbei [unterhalb Fisibach] u. dann zu dem Schloss auf dem Rhein. Das Schloss heisst Schwarzwasserstelz. Es hat einen Thurm; es ist alt. Bei dem Schloss steht eine alte Brücke. In dem Schloss wohnen gar keine Leute. Bei dem Schloss steht ein Wohnhaus. In dem Wohnhause wohnt nur eine Frau. Sie heisst Frau Baumgartner; sie ist von Weyach. Das Wohnhaus steht bei dem Rhein. Die Mutter redete mit der Frau Baumgartner. Ich sah eine Angel liegen. 

Dann gingen wir in den Wald u. dann nach Kaiserstuhl. Die Mutter kaufte Kaffebohnen u. Kaffezusatz in dem Laden. Der Vater kaufte viele Nägel für 1 Franken. Die Krämerin gab den Geschwistern u. mir Bonbon. In dem Laden sind viele verschiedene schöne Sachen. 

Dann gingen wir in das Wirtshaus. Der Vater; ich u. die Geschwister tranken Bier u. assen Brödli u. die Mutter trank den rothen Wein u. ass auch Brödli. Der Vater gab der Witherin [gemeint ist wohl die Wirtin] 1 Franken 20 Sangtim. Sehr viele Leute waren im Wirthshause. Viele Leute sangen dort laut. Fast alle Leute tranken Bier u. assen Weggli. Dann gingen wir wieder nach Hause.

Am Abend schälte ich Kartoffeln mit dem Messer. Elisabetha raffelte die Kartoffeln mit der Raffel. Wir gingen zu Bette.

Am Dienstag Morgens anzog ich die Sonntagskleider. Ich putzte meine Schuhe. Dann ass ich Butterbrod.u. trank Wein. Dann nahm ich Abschied von den l. Eltern u. Geschwistern. Albert Griesser begleitete mich u. den Griesser von Weyach nach Niederglatt. Ich schwitzte sehr. Albert Griesser kaufte Billet für mich u. für den Griesser. Dann einstiegen wir in die Waggon; wir fuhren allein auf der Eisenbahn von Niederglatt nach Zürich. Ich kam in die Anstalt u. grüsste die Lehrerschaft. Ich habe Bauernbrod, gedörrte Zwetschgen u. 4 Eier in die Anstalt gebracht.»

Man sieht: Jakob nutzte (wie von Alfred Escher angeregt) die Bülach-Regensberg-Bahn als Passagier. Und noch etwas zieht sich wie ein roter Faden durch: die Kinder mussten ganz selbstverständlich ihre Aufgaben im Haushalt wahrnehmen, beispielsweise Schuheputzen und Küchenhilfsarbeiten.

Verwendete Quellen und weiterführende Literatur

  • Tagebücher 1871, 1873 und 1875/76 von Jakob Meyerhofer von Weiach (ZH), 1868-1876 Schüler an der Blinden- und Taubstummenanstalt Zürich. Mit einer Einleitung von G. Ringli und G. Wyrsch-Ineichen. Hrsg.: Kantonale Gehörlosenschule, Zürich 2004.  Fundstelle: 1873 – S. 23-24.
  • Brandenberger, U.: Herdöpfelbahn. Tourismus-Ankurbelung mit Seitenhieben. WeiachBlog Nr. 1650 v. 12. Mai 2021.

Mittwoch, 12. Mai 2021

Herdöpfelbahn. Tourismus-Ankurbelung mit Seitenhieben

Der diesjährige Muttertag könnte wettermässig nicht schöner ausgefallen sein. Auf Twitter erging sich der Herr Gemeindepräsident in Lobeshymnen über die Naturschönheit ausserhalb des bebauten Gebiets. In der Facebookgruppe «Du bisch vo Weiach, wenn...» hat diesen Part der Vizepräsident der Schulpflege übernommen. Ebenfalls Frühlingserwachen herrschte im Unterland vor 156 Jahren. Da war das Ypsilon endlich in Betrieb. Ypsilon?

Die Züricherische Freitagszeitung vom 5. Mai 1865 machte gross auf mit einem sich über die ganze Titelseite und Teile der zweiten Seite erstreckenden Beitrag zur Eröffnung der «Herdöpfelbahn», wie sie im Volksmund genannt wurde (französisch tönt das ganz nobel: Chemin de fer des pommes de terre). Gemeint ist die Eisenbahnstrecke von Zürich-Oerlikon nach Oberglatt, wo sie sich bis Bülach bzw. bis Dielsdorf verzweigte. Dieses Y wurde von einer damals noch eigenständigen Bahngesellschaft betrieben, der Bülach-Regensberg-Bahn. Und die hiess so, weil die beiden Bezirkshauptorte damit mehr oder weniger direkt ans Eisenbahnnetz angebunden wurden (Hinweis: Dielsdorf wurde erst 1871 Bezirkshauptort).

Die ca. 1870 entstandene Fotografie zeigt den Alten Kopfbahnhof Bülach, der noch an der Kasernenstrasse lag. (Quelle: Wikipedia, vgl. auch Bülach Ansichtskarten)

Lesen Sie nachstehend den vollen Wortlaut dieses langen Artikels des Herausgebers der Freitagszeitung, Friedrich Paul David Bürkli (1818-1896), bestehend aus einer volkswirtschaftlichen Vorlesung zum Einstieg, gefolgt von einer touristischen Ode und abgeschlossen durch eine ausführliche Beschreibung der Einweihungsfeierlichkeiten aus Sicht der Honoratioren [ergänzende Anmerkungen durch WeiachBlog in eckigen Klammern]:

Wird das überhaupt rentieren?

«Die Zweigeisenbahn von Zürich nach Bülach und Dielstorf wurde letzten Sonntag [30. April] eingeweiht und mit dem 1. Mai dem Verkehr übergeben, also gleich an einem recht passenden Tage.

Die Wahrheit zu gestehen: es wird Manchem die Herstellung von Eisenbahnen, die mit Dampflokomotiven täglich mehrmals befahren werden sollen, nach zwei fast ausschließlich landwirthschaftlichen Bezirken ohne besonders stark bevölkerte Ortschaften als ein beinahe eben so abenteuerliches Unternehmen erschienen sein, wie selbst das Projekt einer Alpenbahn durch den Gotthardt, und im Verhältniß betrachtet, als ein noch fast gewagteres.

Man sagte wohl, es werde sich ein Verkehr so stark, wie er noch nicht bestehe, erst durch diese Bahnen neu entwickeln können, und wir wollen das gerne glauben. Kleinmüthige aber bezweifeln es noch immer, und von diesen Zweifeln angesteckt haben wir gar oft die Karte unsers Kantons angeschaut und uns gefragt, woher, wie, womit und wohin. Je länger diese Betrachtungen und Erwägungen fortgesetzt werden, desto mehr beruhigt man sich über die Rendite der Bahn und ihren volkswirthschaftlichen Nutzen. 

Bald aber auch wird sich Jedem die Ueberzeugung aufdrängen, daß, sofern die gehegten Erwartungen sich auch nur einigermaßen erfüllen, deren vollständige Verwirklichung erst eintreten könne, wenn die Wünsche für noch weitere Ausdehnung erfüllt werden.

Es ist bekannt, daß an diese Bahnen erst dann ernstlich gedacht wurde, als das Bedürfnis nahe trat, sie zu haben, um gegebenen Falles sie weiter an den Rhein zu führen und der von den Vereinigten Schweizerbahnen drohenden Konkurrenz einer untern Glattthalbahn einen Bengel zwischen die Beine zu werfen. Dieser Bengel dürfte aber dereinst von selbst weiter ausschlagen und sich bis an den Rhein, wenigstens bis in die Nähe desselben verlängern. [Die untere Glattthalbahn war ein Bahnprojekt, das um 1857 geplant worden war und von Wallisellen über Weiach nach Waldshut hätte führen sollen, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 19]

Eine fernere Rücksicht beim Baue dieser Bahnen war noch die, daß man zwei Bezirken — Bülach und Regensberg — von welchen die neuste Statistik zeigte, daß sie mit den andern nicht gleiche Fortschritte in der nationalökonomischen Entwicklung hielten, brüderlich die Hand zum Vorwärtskommen reichen wollte. Jeder fühlte, daß dieß eine Pflicht sei, welche einiger Opfer werth. 

Diese Opfer brachte der Kanton als solcher, der ganz wohl eine Einbuße erleiden kann, die sich indirekte reichlich ihm lohnen wird. Durch das Wohlergehen eines Theiles wird das Wohlergehen des Ganzen befördert, und wenn sogar die Eidgenossenschaft in Einsicht dieses Satzes Millionen für Hebung einzelner Landestheile ausgibt, um wie viel mehr darf ein Kanton Etwas wagen, der seinen Mitbürgern so viel näher steht. 

Die Nordostbahn ferner hatte, nicht nur weil sie sich dadurch eines gefährlichen Konkurrenzunternehmens entledigen konnte, sondern auch, weil sie ihr übriges Bahnnetz dadurch alimentiren wird, ein großes Interesse, selbst bei möglicher Einbuße, es in dieser Weise zu vervollständigen. 

Die beiden Großmächte, Staat und Nordostbahn, machten aber den Bezirken Regensberg und Bülach mit dieser Gabelbahn nicht ein Geschenk, das diese Nichts kostete. Vielmehr strengten sich die Bezirke und ihre Gemeinden aufs Löblichste an, um die ihnen zugewendete Gunst zu verdienen, und selbst die Privaten brachten dem gemeinnützigen Werke große Opfer. 

So mag es gehen, wie es will; es wäre allfälliger Schaden bei dem Unternehmen (das im Ganzen nur 1,900,000 Frk. kostete, also gerade so viel, als der Konkurs von Caspar Schultheß und Komp. beträgt) auf viele Schultern vertheilt, von denen er keine wund drucken würde. [Nach Historischem Lohnindex von Swistoval sind das umgelegt auf 2009 rund 150 Mio CHF]

Unser Kanton hat schon Straßen und andere öffentliche Anstalten hergestellt, die sich weit weniger direkte rentiren, als diese Bahnen, und deren Herstellung doch Niemand je bereut hat oder bereuen wird. Warum also nicht auch diese Eisenbahnstraßen, die ihn nur 600,000 Frk. kosten, und immerhin einen Zins ertragen werden? [Der Kanton übernahm einen Drittel der Kosten, die Gemeinden ein weiteres Drittel und die Nordostbahn das letzte Drittel]

Mit Recht wurde bemerkt, mit der Bülach-Regensbergerbahn sei eine Neuerung von höchster Bedeutung eingeleitet, welche die Kosten des Versuches gar wohl werth sei,— die: allmälig an der Stelle der gewöhnlichen Heerstraßen Schienenwege einzuführen, welche mit einfachern Herstellungsbedingungen und wohlfeilerm Betriebe, als die Haupteisenbahnen, auch bei weniger reichen Einnahmen doch wenigstens ihren Betrieb bezahlen, und so bei erleichtertem und schnellerm Verkehr dem Lande große Summen an Zeit und Geld ersparen, die, wenn sie auch nicht in die Kasse der Bahnverwaltung fallen, doch dem Lande zu gut kommen. 

Bei dem Bau der vorliegenden Bahnen ist die Hauptbedingung erfüllt, daß nemlich die wohlfeile Herstellung es möglich mache, auch bei geringern Einnahmen so gut zu bestehen, wie bei den Eisenbahnen erster Klasse mit ihren größern Einnahmen. 

Die Nordostbahn, welche es übernahm, diese Bahnen zu erbauen und zu betreiben, konnte bei dem Baue ihre Erfahrungen im Sparen und wohlfeilen Bauen gehörig verwerthen. Es wird wol kaum je eine Eisenbahn so wohlfeil gebaut worden sein, als diese Gabelbahn. Da kam zwar zu Statten, daß der Bahnhof in Zürich schon da war, der Damm und die Brücke nach Wipkingen schon da waren, der Rötheltunnel schon da war, daß mit Ausnahme einer Brücke über die Glatt fast keine Kunstbauten nöthig waren; aber immerhin waren ganz bedeutende Erdarbeiten erforderlich, hohe Dämme, etwelche Einschnitte. Doch auch diese wußte man so wohlfeil herzustellen, daß, während sonst ein Baukonto von 200,000 Fr. per Kilometer nichts Außerordentliches ist, hier der Kilometer Bahnstrecke auf nur 95,000 Fr. zu stehen kam. [Daraus kann man ablesen, dass es rund 20 Schienenkilometer waren: 16 bis Bülach und dazu noch 4 ab Oberglatt bis Dielsdorf] Günstig war auch, daß man die Schienen der größern Bahnen, welche für die schweren Lokomotiven und Wagen zu schwach wurden, ganz gut für die mit den leichtern und kleinern Lokomotiven und kleinern Wagen zu befahrenden Zweigbahnen anwenden und ihnen wohlfeil abtreten konnte.

Die Befürchtungen, daß der Betrieb zu kostspielig sein möchte für diese kleinen Bahnen, sind eben dadurch gehoben, daß keine besondere Gesellschaft den Betrieb leiten muß, sondern die große Nordostbahn, welcher es eine Nebensache und welche daher eine Menge Ausgaben nicht zu berechnen haben wird. Ueberdieß erfordern die kleinern Lokomotiven und übrigen Vereinfachungen geringere Kosten, als der Betrieb größerer Bahnen. Die Bahn wird 3 Lokomotiven, 12 Personenwagen und 30 Güterwagen bekommen. 

Woraus aber soll die Bülach-Regensbergerbahn überhaupt leben? — Soll sie gedeihen, so müssen vor Allem die Bewohner jener Gegenden alle Vorurtheile nach und nach überwinden lernen. Sie müssen  einsehen, daß sie durch Benutzung der Bahn sich selbst nutzen; denn wie Hr. Präsident Dr. A. Escher sagte, nur wenn die Bahn, wie sie ist, erfreulich gedeiht, bekommt man Muth, sie weiter zu führen. Soll damit gesagt sein, daß die Bülacher und Regensberger ihr Geld auf die Bahn werfen sollen, um es nur zum Theil als Dividenden wieder zu bekommen? Das wäre thöricht, und ist auch nicht erforderlich. Wenn die Leute berechnen lernen, daß auch für den Bauer Zeitgewinn Geldgewinn ist, so ist uns nicht bange, daß sie ihr gehöriges Kontingent an Personen- und Gütertaxen liefern werden. 

Die Städter sollen ihr Umland per Bahn erkunden

Indeß nicht nur von ihnen her, sondern auch zu ihnen hin kann und wird für gehörige Speisung der Bahn gesorgt werden. Sehen wir uns wiederum die Karte an. Viel Güter werden von Zürich, Winterthur sc. erst nach diesen Bezirken geführt werden, wenn einmal der erleichterte Verkehr zu Anlegung zahlreicher Fabriken und anderer industrieller Etablissements eingeladen haben wird. 

Dagegen glauben wir uns nicht zu täuschen, wenn wir Bülach und Regensberg einen zahlreichen Personenbesuch versprechen. Engländer und Russen werden zwar weniger zu ihnen kommen — die haben interessantere Wege. Dagegen gibt es für Schweizer und namentlich Zürcher von Stadt und Land hier eine einladende Gelegenheit zu zahlreichen Ausflügen in bisher ihnen sehr wenig bekannte, aber sehr interessante Gegenden. 

Nur einige Beispiele! Nehmen wir einmal von Zürich die Fahrt nach Bülach. Wer nicht weiter will, führt bloß nach Glattbruck, macht da einen kleinen Spaziergang zu Fuß nach Kloten und kehrt entweder nach Glattbruck zurück, oder geht noch weiter nach Bülach, um von da wieder per Dampf heimzukehren. Oder er fährt sofort nach Bülach. Von da macht er eine herrliche Fußtour entweder durch das Bülacher Hard nach Eglisau, über Rafz nach Rheinau unf Schaffhausen, oder nach Rorbas, Freienstein, um oder über den Jrchel (Teufen, Berg, Flaach — Buch, Dorf, Goldenberg) nach Andelfingen, wo wieder eine andere Bahn, die Schaffhauser-Winterthurer, den ein wenig Ermüdeten aufnimmt, und ihm zuruft: „Freund, wohin willst du nun weiter getragen sein?" Wir können auch von Bülach nach Dielstorf entweder per Eisenbahn fahren oder zu Fuß spaziren und von dort wieder heimfahren, oder weitere Ausflüge machen. 

Fahren wir direkt nach Dielstorf, so haben wir in der Nähe Regensberg, die interessante Burg, wo die Leute nicht alle so bös sind, wie die Freit.-Zeitung sie einst schilderte. Von da der Gang auf die herrliche Lägern. Wenn erst der Förster den Fußweg über dieselbe wieder vom Dorngestrüpp gereinigt hat (oder hat er's schon?), so gibt's nichts Anregenderes als die Tour längs des Grates derselben nach Baden hinunter; aber auch der Weg diesseits über Boppelzen, Otelfingen, Würenlos nach Baden ist nicht zu verachten, noch weniger, weil nicht so bekannt, der jenseits der Lägern, hinter ihr durch durchs Surbthal, über Schöfflisdorf, Niederweningen und das durch seine Gypsgruben (die von Professor Mousson beschrieben sind) interessante Ehrendingen. Da in Baden hat man dann schon wieder die Eisenbahn zur Benutzung. [Die Spanischbrötlibahn war seit 1847 in Betrieb] Wem Baden zu bekannt ist, der gehe über das lieblich gelegene Steinmaur entweder durch das wahrhaft idyllische Bachserthälchen, oder über Stadel und das reiche Weiach ins alterthümliche, seltsam an einen Abhang gebaute Kaiserstuhl, von dem er die interessante Rheinburg Schwarzwasserstelz (mitten im Rhein [noch bis 1875]) oder die melancholisch stimmende prächtige Ruine Weißwasserstelz besuchen kann. Hat er dann auf dem Marsche Appetit bekommen, so sind wol noch in Rötheln, gegenüber Kaiserstuhl, die schmackhaften Fische zu finden.

So wäre noch Vieles anzuführen — Liebhaber von Ausflügen können nur sagen: Herz, was willst du? oder Bouche, que veux tu? wie der Franzose prosaischer sagt. 

Solche Gedanken, wie diese einleitenden, mochten wol bei Manchem die Feier der Einweihung am Sonntage erheitern. 

Beschreibung der Einweihungsfeierlichkeiten

Zu diesem Feste war die erste Bedingung des Gelingens, schönes Wetter, da, wenn auch der etwas bewölkte Himmel anfangs Regen gedroht hatte, nachher aber nur noch im Stande war, die vorhandenen schönen Aussichten in die fernen Berge zu verschleiern. Gegen 12 Uhr fuhr der Festzug von Zürich ab, in schönen, geschmückten Wagen — der Prunk der Zürich-Zug-Luzernfeier fehlte natürlicher und zweckmäßiger Weise. Die Zahl der eingeladenen Behörden und Gäste und sonst Mitfahrenden war indeß auch bedeutend. In Oerlikon hielt man zuerst, um die von Winterthur eintreffenden Gäste aufzunehmen. 

Bei der Station Rümlang stand die ganze Bevölkerung zum Empfange des Zuges bereit. Eine Musik und der Männerchor taten ihr Möglichstes zur Begrüßung der Ankommenden. Zwei geschmückte kleine Mädchen überreichten der Direktion einen Ehrenkranz mit anerkennender Inschrift. Andere Inschriften sprachen die Hoffnungen von der Bahn und ihre Bedeutung aus. Eine Reihe von schmucken größern „Kindern" in der Landestracht und mit den guldglänzigen Schäpli (einem mauerkronartigen Kopfputz, wie man ihn am Einsiedler Muttergottesbild sieht) paradirten in linealgrader Linie, am linken Flügel mit einigen Schlotterhoslenen beflankt, von denen Einer den philosophischen Bauer vorstellte, ein Andrer die berühmte Strumpflismeten besorgte, ein Dritter eine riesige Klungele Schnüre darbot; auf dem rechten Flügel spielten ein Bratisgeiger und ein Rohrflötist, beide in Tracht, lustige Tänze, unbekümmert um Gesang und Musik auf dem linken. 

Vor Oberglatt und Niederglatt wieder Musik und Männerchöre, wieder geschmückte Stationshöfe. Hr. Pfarrverweser Kuhn hielt eine launige Ansprache, in der er sich nach Bedankung für die Bahn entschuldigte, daß die Bauern nur für sich getischt haben, und die Ankommenden nach Bülach vertröstete, wo man ihnen einen Bessern einschenken werde. Da kamen denn die Regensberger auf der Bahn von Dielstorf zum Anschluß. In Niederglatt stieg man aus, die Bahnbrücke über die Glatt zu beaugenscheinigen, die, sauber gebaut, doch eben nur das Interesse hat, daß sie die einzige Kunstbaute der neuen Bahnstrecke ist. Ein Stuck Damm war da allerdings gegen die Mühle zu herabgestürzt, aber ein unbedeutendes, und es war in aller Eile vollständig der Schaden wieder hergestellt worden. 

Als wieder Alle eingestiegen waren, ging's rasch über den hohen Erddamm Bülach zu. 

Bülach ist bekanntlich kein Dorf, sondern hatte Stadtrecht, und macht auch ganz die Gattung einer Stadt. Wie hat auch es sich verändert, seit wir es im Jahre 1828 zum ersten Male auf einer für den 10jährigen Knaben ermüdenden Fußtour nach Rheinau und Schaffhausen sahen! — 

Eine Menge Leute war da um den Bahnhof versammelt und bildete Spalier, daß man wirklich meinte, man befinde sich m einer Stadt; das Gedränge war fast so stark wie an einem Sechseläuten in Zürich bei der Münsterbrücke. 

Kanonenschüsse zuerst. Musik und Männerchor mit ziemlich kunstreichem schönem Gesang. [Man vergleiche die Beurteilung der Musik in Rümlang oben...] Weißgekleidete Mädchen mit Rosaflorschärpen trugen Guirlanden, mit denen sie die — Lokomotiven bekränzten. 

Dann bildete sich der Zug. Zuerst vier Dragoner als Wegbahner, dann die Musik, dann die weiß-rosa gekleidete Unschuld, dann junge, grün uniformirte Tellenbuben mit Armbrusten u. s. w. Der Schmuck der Häuser und Leute war um so schöner, als die Sonne ihn hell und warm beschien. 

Im Wirthshause zum Kopf  [Goldener Kopf vor dem nördlichen Stadttor] — ein großer Kopf, der viele hundert Köpfe faßte — wurde die Gesellschaft mit einem guten Essen erlabt und, was noch mehr galt, mit geistiger Speise in Form von Toasten gespiesen. Zuerst ergriff Hr. Regierungspräsident Zehnder im Namen des Komité das Wort. Er findet die Bedeutung der Bahn vornehmlich darin, daß sie der erste Versuch sei, an die Stelle der großen Fahrstraßen einfach angelegte Eisenbahnen einzuführen, um den Verkehr im Kanton selbst zu heben; es ist dieß eine neue Richtung der Eisenbahnpolitik, die Bahn aber nicht ein Werk der Spekulation, sondern der Gemeinnützigkeit; sein Hoch galt der Vereinigung der verschiedenen Kräfte zu gemeinnützigem Streben. Er konnte zur rechten Zeit landen mit seiner Rede. Hr. Statthalter Meier von Bülach brachte sein Hoch auf Regierung und Nordostbahndirektion; er scheint gleich unserm Statthalter von Zürich kein großer Stegreifredner zu sein. Hr. Oberst Ziegler, der Mitwirkung des Volkes gedenkend, den Bewohnern des Bezirks. Hr. Dr. Sulzberger, als Präsident des Großen Raths, gedachte der glücklichen Ueberwindung der Streitigkeiten, welche dem Erstehen des Werkes vorausgegangen, bis endlich Staat, Gemeinden und Privaten [sic!] sich geeinigt, welche mächtige Trinität er hochleben ließ. Der Letzte wird der Erste sein, hieß es da mit dem Reden, als Hr. Präsident Dr. A. Escher aufstand und sein Hoch den Fortschrittsbestrebungen des Kantons brachte, grade am Eisenbahnwesen desselben nachweisend, wie weit und über alle Erwartung unser Kanton hier vorwärts gekommen sei. Da sei keine Gefahr der Versumpfung und des Erstickens im eigenen Fette, wie man sie dem Kanton unverständiger Weise vorgeworfen. Auf die Straßenkorrektionen [ab den 1830er-Jahren] seien die Pferdebahnprojekte gefolgt, die sich aber in der Ausführung zu Dampfbetrieb erweitert haben. Man werde sicher die Hände auch jetzt noch nicht in den Schooß legen, sondern, wenn der Ertrag es als rathsam erscheinen lasse, die Schienenwege weiter führen. Wie mit den Eisenbahnen, so sei es mit dem Schulwesen gegangen, das jetzt in dem Prachtbau des Polytechnikums [ETH Zürich Hauptgebäude; 1858-1864 durch Gottfried Semper] gipfle, so in manchen andern Zweigen der Verwaltung, und es habe nicht den Anschein, daß man so bald befriedigt ausruhen werde. Solchen Fortschrittsbestrebungen galt sein Hoch. 

Nun war's hohe Zeit, auf den sog. Lindenhof sich zu begeben, wo ein prächtiges Tröpflein zum Nachtisch längst parat stand. Heiß brannte die Sonne, da die paar Linden ihre Blätter noch nicht entfaltet haben; aber munter und fröhlich bewegte sich Alles durcheinander. 

Von Bülach nach Dielsdorf

Gegen 5 Uhr fuhr man höchlich befriedigt mit dem Aufenthalte im freundlichen Bülach nach Dielstorf hinüber, — bis Oberglatt auf bereits bekanntem Wege hinein, dann auf neuem hinaus. Unterwegs hielt der Zug unerwartet still. Was hat's gegeben? Ein Funken aus der Lokomotive hatte die Wimpel und Tücher, mit denen sie geschmückt war, in Brand gesteckt, und helle Flammen züngelten einige Momente um das eiserne Dampfroß. Das wurde aber nicht scheu, stand auf Geheiß still und ließ sich ganz ruhig den versengten Schmuck abreißen. Bald pfiff's wieder — und wir waren in Dielstorf. 

Wir berichten ungenau, wir waren nur bei Dielstorf; denn der Endpunkt dieses Bahnzweiges liegt etwas weit rechts ab vom eigentlichen Dorfe. Warum wol? Geneigter Leser, du wirst es leicht errathen, wenn du die Karte ansiehst. Soll die Bahn je über Dielstorf hinaus, so durfte sie nicht in dessen Herz hinauf, sondern mußte unten bleiben, um ohne Knick, sondern nur mit Kurve, und ohne Steigung ins Surbthal einmünden zu können, von wo sie wol einst die Endiger- und Längnauer-Juden ins europäische Eisenbahnnetz aufnehmen wird, wie dieselben bereits in die europäische Völkerfamilie aufgenommen sind. 

Wieder Begrüßung durch den Männerchor; wieder brachten geschmückte junge Mädchen Blumen, dieß Mal nicht für das Dampfroß, sondern Sträuße für dessen Herren, die Herren Eisenbahndirektoren. Die Zahl der Menschen, die man hier beisammen fand, war fast noch größer, als in Bülach. Es muß der ganze Bezirk sich Rendezvous gegeben haben. Unabläßiges Kanoniren von der Burg herab [d.h. vom Schloss Regensberg] hatte sie wohl ans Stelldichein erinnert! 

In der Post sammelten sich die von dem Zuge Hergebrachten, und nicht lange mußten sie warten, so kam der Festzug. 

Von diesem Festzuge hatten vorzeitig veröffentlichte Programme bereits viel verrathen, aber auch Falsches berichtet. Was sie indeß nicht ahnen lassen konnten, das war der Geschmack, das Geschick, der Takt, die Anmut, der Humor, mit dem er angeordnet und ausgeführt war. 

Ohne zu schmeicheln, darf man sagen, diese Leute verdienen mit der Stadt Zürich in nächste und engste Verbindung gesetzt zu werden. An ihrem Zuge verbanden sie mit ländlicher Unbefangenheit wahrhaft urbane Beweglichkeit und Freiheit bei den Szenen, Bildern und Aktionen, die sie darzustellen hatten. Man hat bei den Umzügen in der Stadt wohl mehr Massenhaftigkeit, mehr Prunk und Glanz, reichere Kostüme u. s. w. gesehen; aber an sinniger Anordnung und an anständiger Haltung blieben die Regensberger [d.h. Bewohner des Bezirks] in Nichts zurück. Nichts von rohen Uebertreibungen, übermüthigen Neckereien gegen die Zuschauer, undisziplinirtem Ausschreiten, Voreilen, Zurückbleiben. — Die alte Zeit wurde durch den Freiherrn Leuthold von Regensberg, den Gegner der Stadt Zürich, mit geharnischtem Gefolge, das lange Speere trug, Alle beritten, dargestellt. Dann kam der Landvogt mit Richtern und Waibel zu Fuß. Der kluge und schlaue Kleinjogg neben dem Dr. Hirzel, seinem Gönner und Freunde, und hinter ihnen einige über den Wechsel der Zeiten erstaunte Junker. Eine schmucke Bauernhochzeit aus dem Wehnthal. Die alten Boten mit Wagen und zu Fuß. Schließlich das einspännige Postwägelchen mit schwarzer Trauerfahne. Die Gegenwart wurde durch die vier Jahreszeiten symbolisirt, der Frühling: durch Kindergruppen, — Feldarbeiter, Rebleute, Gärtner, — Rätscherinnen zu Wagen [vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 94]; der Sommer: wieder durch Kindergruppen, — Heuer und Krieser, — Erntewagen; der Herbst: abermals durch Kindergruppen, — Winzer, Weinfuhr, Sauser- und Jassergesellschaft, — Pflug und Egge, Säemann, — Kabisschnätzler zu Wagen; der Winter: durch Kindergruppen, Samiklaus, — Jägerzug zu Wagen und zu Fuß, — Lichtstubete.  Die Zukunft: ein wirkliches kleines Straßen-Lokomotiv, als Zukunftslokomotiv des Surbthals, das einen Passagierwagen schleppte; Darstellung künftiger Industrie; Viehgruppe; Käserei; Ausfuhrartikel: Wagen mit Rinde, Gyps, Stein; des schweizerischen Alpenklupps Sektion Lägern; Englische Touristen; Studenten, die geologisiren, entomologisiren, botanisiren; auf dem Ferienreischen sich befindende Schuljugend.

Dieser Zug soll nächsten Sonntag wiederholt werden, und wer uns nicht glauben will, daß diese Landleute es uns Städtern gleich thun können, der mag selbst hinfahren und sehen. 

Wie in der Post die Herren, so vergnügte sich nachher das Volk in den übrigen Wirtschaften und auf den Plätzen, wo Karoussel und andere Lustbarkeiten veranstaltet waren. Nirgends bemerkte man Rohheiten oder Exzesse, wenigstens so lange und so weit man das fröhliche Leben beobachten konnte. Wenig wurde mehr gerednert; Herr Statthalter Ryffel [vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 55] hielt eine freundliche, launige Ansprache, Herr Lehrer Peter gedachte der Wünsche des Sees und Hr. Staatsschreiber G. Keller verglich die Politiker und Staatsmänner mit dem Büblein des heiligen Augustinus, die erkennen müssen, daß es ihnen so wenig, als jenem Büblein mit dem Meere, möglich sei, den Willen und das Wesen des Volkes in ihre Sandgrübchen auszuschöpfen.»

Das Meer mit dem Löffel trockenlegen

Gottfried Keller, der Dichter im hohen Staatsamt, nahm da offenbar kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Ermahnung von Exekutive und Legislative ging. 

In der Geschichte vom Büblein mit dem Meere wird über Augustinus von Hippo (354-430) erzählt, dass der Kirchenlehrer am Strand spazierenging, als er Pause von der Arbeit an seiner Schrift über die Heilige Dreifaltigkeit machte. Da sei ihm ein kleiner Bub aufgefallen, der ein Loch in den Sand gegraben hatte und mit einem Löffel Wasser aus dem Meer ins Loch füllte. Auf die Frage des Augustinus, warum er das mache, antwortete der Bub, er wolle das Meer ausschöpfen und so trockenlegen. Augustinus habe dem Kind mitleidvoll klarzumachen versucht, dass dies doch wohl unmöglich sei, denn das Meer sei viel zu gross. Da habe das Kind entgegnet: «Ich werde es wohl eher fertigbringen, das Meer mit meinem Löffel trockenzulegen, als du es zustandebringen wirst, mit deinem Verstand dem Geheimnis der Dreifaltigkeit auch nur ansatzweise auf den Grund zu gehen. Es ist viel zu gross.» Dann sei der Bub verschwunden. (nach Faessler 2018)

Das im Entstehen begriffene Buch war also das kleine nasse Loch im Sand. Dem Umstand, dass Augustinus sein Buchprojekt daraufhin nicht aufgegeben hat, verdanken wir sein 15 Bände umfassendes Werk über die Dreifaltigkeit. Aber er war ja immerhin ein Heiliger und kein Politiker. Doch weiter mit den letzten Abschnitten von Bürklis Leitartikel:

«Nicht ungern vernahm man aus dem Munde des Hrn. Präsidenten der Nordostbahn [Alfred Escher], daß die Heimfahrt von "nach 9" auf nach 10 Uhr verschoben sei. Es verschaffte dieß Gelegenheit, die "Burg", welche man in der schönen Beleuchtung der untergehenden Sonne gesehen hatte, noch einmal in elektrischem Lichte erglänzen zu sehen. Dafür kam man dann aber auch punkt mit der Polizeistunde in Zürich an und begab sich ruhig nach Hause. — „Meine Herren, es ist Feierabend!" Ja Feierabend, der Abend und das Ende einer schönen Feier. 

Die Regensberger Waffenfabrik

Es ist uns nicht möglich gewesen, die Menge der Inschriften mitzutheilen, sowie wir auch der Reden nur andeutend erwähnen konnten. Die Litteratur brachte neben einer historischen Festschrift des Hrn. J. Utzinger (Geschichte der Gegend und Straßen Bülachs und der Bahn [vgl. Literatur unten]), ein schönes Gedicht des sinnigen Dichters Konrad Meier von Bülach (jetzt in Zürich) und ein von dem Boten ausgetheiltes Tagblatt von Regensberg, das feine Witze enthalten soll, die aber für uns ferner Stehenden nicht alle vollverständlich sind. Einer geht auch auf den Redaktor der Freit. Zeitung [den Verfasser Bürkli selber]: Es wird nemlich in Regensberg eine Waffenfabrik angekündigt, welche Schwerter, Spieße und Gewehre gegen die Angriffe der sonderbündischen Generale Burkley, Schewchzer, Wodman u. Comp, verfertige. [Mit Schewchzer ist Friedrich Scheuchzer, der Herausgeber der Bülach-Regensberger Wochenzeitung (heutiger Zürcher Unterländer) gemeint]. Den geringen Aerger darüber haben wir mit einem vollen Glase des besten von den Regensberger Ehrenweinen weggeschwemmt, und einem der Waffenfabrikanten darauf mit der alten Freundschaft aus den Universitätsjahren die Hand gedrückt. 

Um diese Festbeschreibung machen zu können, nahmen wir die Einladung zum Feste an, waren auf Unangenehmes in Regensberg gefaßt, fanden aber nur freundliche Worte, und sehen auch hierin, daß die Bauern den neugebackenen Aristokrätlein weit voraus sind.»

Ein Seitenhieb auf all die Herren im Umfeld des Eisenbahnkönigs Escher (wozu auch der Statthalter Ryffel gehörte) und der freisinnigen Regierung der ersten Jahre des Bundesstaats.

Und wer weiss, vielleicht hat dieser Leitartikel ja zu Ausflügen über Weiach nach Kaiserstuhl angeregt. Weiacher Post und Passagiere haben ab da jedenfalls den Zug nach Zürich ab Station Niederglatt genommen, wenn auch nur für wenige Jahre (nämlich bis zur Eröffnung der Linie Winterthur-Bülach-Eglisau-Koblenz am 1. August 1876).

Quelle und Literatur