Samstag, 30. November 2019

«...in schonungsloser Korrektheit eines Befehls gehandelt»

WeiachBlog hat bereits vor mehr als einem Jahrzehnt über den tragischen Tod eines 30-jährigen Subalternoffiziers des gestern erwähnten Grenzfüsilierbataillons 269 berichtet (vgl. Leutnant von Wachtposten erschossen. WeiachBlog Nr. 613 v. 8. Mai 2008).

Im genannten Artikel wurde aus den Tagebüchern des Bataillonsstabes sowie einer Schwesterkompanie (Kp I/269) zitiert. Als Ergänzung dazu folgt heute ein Einblick ins Kommandantentagebuch der Gz Füs Kp III/269, der Einheit, der der zu Tode gekommene Lt Sigg angehörte.

Drei Monate Aktivdienst am Stück

Vom 6. März bis 7. Juni 1940 leistete die Kp III unter ihrem Kommandanten, Hauptmann Meister, Aktivdienst. Aus dem Offiziersetat ersieht man die Eckdaten von Meister und Sigg:

Hptm. Meister Arthur, Lehrer, Rafz, geb. 1905
Lt. Sigg Hugo, Dr. jur., Zürich, geb. 1910

Der Chef lebte und arbeitete also in der Grenzregion, wie das vorgesehen war. Leutnant Sigg hingegen wohnte in der Stadt Zürich und damit nicht in der Region. Aus welchen Gründen er dennoch bei den Grenztruppen eingeteilt wurde, ist mir derzeit nicht bekannt.

Sigg war akademisch ein Senkrechtstarter, der bereits 1935 an der Universität Zürich seine Dissertation zum Thema Der Entschädigungsanspruch des Strassenanliegers nach schweizerischem Recht vorlegte und kurz darauf auch das Anwaltpatent erwarb (vgl. weitere Angaben im letzten Abschnitt).

Wer wo einquartiert war

Am dritten Tag dieser Aktivdienstperiode, dem 8. März 1940, wurde im Kommandantentagebuch die
Unterkunftsliste der Kompanie eingetragen:

Kp. Büro – Mühle Weiach
I. Zug 3 Kantonnemente in Weiach
II. Zug 2 Kant. in Fisibach
III. Zug 1 Kant. in Fisibach-Bad
Hptm Meister – Pfarrhaus Weiach
Oblt Jenny – Lehrer Zollinger, Weiach
Oblt Wehrli – bei Holzhändler Meierhofer, Weiach
Oblt Baumgartner – Post Fisibach
Lt. Sigg - Fisibach

«Kant.» steht für Kantonnement. Der ranghöchste Offizier war im repräsentativsten Gebäude von Weiach einquartiert, im Pfarrhaus. Weiter hatte auch Lehrer Zollinger (der selber bei der Gz. Füs Kp V/269 eingeteilt war) ein Zimmer in seinem Haus am Müliweg 4 zu vergeben. Die Unterkunft von Oblt Jenny lag damit nur ein paar Meter vom Kompaniebüro in der Mühle entfernt.

Krankheit und Tod

Von widrigen Umständen blieb auch die dritte Kompanie nicht verschont. So stehen unter dem 11. März die folgenden Zeilen:

Witterung: Sonnig, warm
Lt. Sigg an Grippe erkrankt. Eine Grippewelle breitet sich unter der Truppe aus. Auch der Bat. Kdt. und Bat. Adj. müssen das Bett hüten.- Ausser Lt. Sigg sind 6 Mann erkrankt.

Etwas mehr als einen Monat später trug der Tagebuchführer unter Montag 15.4.1940 die folgenden Worte ein:

16.50 † Lt. Sigg
Unverständliche Umstände führen zur Erschiessung unseres Lt. Sigg durch eine Bunkerwache. - Es sei ihm an dieser Stelle in Ehren gedacht. Die Schildwache Füs. Schmid Hch., sein eigener Soldat, hat in schonungsloser Korrektheit eines Befehls gehandelt, den Lt. Sigg missachtete.

Man kann sich die Betroffenheit vorstellen. Durch die relative Ruhe im Tagesablauf des Grenzdienstes hatten die Kompanieangehörigen immerhin die Möglichkeit, über das Geschehene zu reden. Also das, was man heute Debriefing nennt und mit professioneller Hilfe eines Care-Teams durchgeführt wird.

Kurznachruf und Totentafel

Der Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich ist folgender Kurznachruf entnommen:

Hugo Sigg (1910-1940; Mitglied der Gesellschaft seit 1939).
Herr N. Sigg, Zürich, stellte uns folgende biographischen Angaben über seinen Sohn zur Verfügung:
«Dr. jur. Hugo SIGG, Rechtsanwalt, ist am 15. April 1940 ein Opfer seiner Dienstpflicht geworden und im Alter von 30 Jahren gestorben. Der allzufrüh Verstorbene hat nach Abschluss der Studien sich in einem Zürcher Anwaltsbureau als Substitut betätigt und sich speziell der Handels- und Verwaltungspraxis zugewandt. Nach kurzer selbständiger Tätigkeit auf diesem Gebiete ist er als Prokurist in das Übersee-Importgeschäft seines Vaters eingetreten. Ein vielseitig begabter und interessierter, hoffnungsvoller und liebenswürdiger junger Mann ist mit ihm dahingegangen.»

Noch kürzer die Mitteilung auf der Totentafel der Allgemeinen schweizerischen Militärzeitung:
«Lt. Hugo Sigg, geb. 1910, III/64 und III/269, verstorben am 16. April 1940 im Aktivdienst.» Die Kompanie III/64 war ebenfalls eine Infanterieeinheit. Beim Todesdatum hat sich die ASMZ geirrt.

Quellen
  • Tagebuch Gz. Füs. Kp. III/269. Signatur: BAR E5790#1000/948#1873* Bd. 3
  • Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (NGZH) 85/3-4, S. 364-365.
  • Allgemeine schweizerische Militärzeitung (ASMZ), Bd. 86=106 (1940), Heft 4 - S. 214.

Freitag, 29. November 2019

Grenzfüsilierbataillon 269 unter neuer Signatur

Die Weiacher Geschichte(n) und WeiachBlog haben schon mehrfach über die Aktivitäten des ehemaligen Grenzfüsilierbataillons 269 und seiner Angehörigen berichtet (vgl. Liste unten unter Literatur). Dieser Verband wurde im Rahmen der Truppenordnung 1938 (TO 38) aufgestellt und der damals ebenfalls neu aufgestellten Grenzbrigade 6 zugeteilt.

Alle Verbände der Grenztruppen erhielten Wehrmänner mit Wohnsitz im Einsatzraum zugeteilt, die  im Ernstfall sofort einsatzbereit sein mussten. Die Grenzbrigade 6 hatte den Auftrag, ihren Grenzabschnitt «bis zur letzten Patrone» zu halten, die Grenze gegen einen Vorstoss aus dem süddeutschen Raum an der Rheinlinie zu schützen und die Nord-Süd-Achsen zu sperren.

Man setzte dabei nicht nur auf die Ortskenntnisse dieser Armeeangehörigen, sondern auch auf ihren Kampfgeist. Es ging da schliesslich um ihre ureigensten Interessen, die eigene Familie, Haus und Hof.

Kanton Zürich musste 1 Bataillon stellen - mit Aargauer Beteiligung

Die «Verordnung über die Organisation der Grenztruppen», ein «Bundesratsbeschluß» (man beachte das scharfe ß) vom 26. September 1939 regelte die Aufgaben und Zusammensetzung dieser Einheiten und bestimmte u.a. auch welche Kantone wieviele Einheiten aufzustellen hatten (damals war die Militärhoheit noch mehrheitlich kantonal geregelt, insbesondere was die Infanterie betraf).

Gemäss diesem Bundesratsbeschluss (vgl. S. 16) rekrutierte sich das Gz. Füs. Bat. 269 mehrheitlich aus Zürchern. Lediglich die Grenz-Füsilier-Kompagnie V/269 wurde kantonal gemischt mit Aargauern alimentiert. Da die Abschnittsgrenze der Grenzbrigade 6 unmittelbar westlich von Kaiserstuhl verlief, dürfte es sich bei letzteren vornehmlich um Kaiserstuhler, Fisibacher, Siglistorfer und andere Studenländer gehandelt haben.

Signaturen angepasst

Die eingangs angesprochenen Artikel zitieren ausführlich aus den Kommandantentagebüchern der Einheiten dieses Bataillons. Und geben auch eine Signatur an. Mittlerweile ist die aber vom Bundesarchiv (BAR) angepasst worden. Will man über das neue Internet-Portal recherche.bar.admin die referenzierten Bände finden, ist das nicht ganz so einfach. Daher hier ein Blick auf die Hierarchie des Archivplans:


Das Dossier Gz Füs Bat 269 ist nicht bestellbar (da zu umfangreich) und trägt die Signatur E5790#03.10.2.067 (mit dem Aktenzeichen als Deskriptor).

Die einzelnen Tagebücher findet man unter den folgenden um den Zusatz #1000/948# ergänzten Signaturen:

E5790#1000/948#1869*  Stab, Bd 1-5
E5790#1000/948#1870*  Stabs-Kp, Bd 1-6
E5790#1000/948#1871*  Gz Füs Kp I/269, Bd 1-11
E5790#1000/948#1872*  Gz Füs Kp II/269, Bd 1-11
E5790#1000/948#1873*  Gz Füs Kp III/269, Bd 1-10
E5790#1000/948#1874*  Gz Mitr Kp IV/269, Bd 1-12
E5790#1000/948#1875*  Gz Füs Kp V/269, Bd 1-10

Die Abteilung Stab umfasst die Unterlagen bis 1940. Ab 1941 scheinen sie von der Stabskompanie geführt worden zu sein. Alle anderen Bestände umfassen die Jahre 1939 bis 1945 (mit Ausnahme von Kp III, bei der das Jahr 1945 offenbar fehlt).

Literatur

Donnerstag, 28. November 2019

Zersiedelung – garantierter Seelenverlust inklusive

«Die Wohnungen werden grösser, dafür schrumpfen die Grünflächen rundherum». Mit diesem Lead machte der Tages-Anzeiger anfangs November eine «Stadtgeschichte» ihres Autors Gimes auf. Der hat zwar ursprünglich ungarische Wurzeln. Der Titel «Das Grün meiner Kindheit verschwindet»
zeigt aber, dass er in der Stadt bzw. Agglomeration Zürich aufwuchs, die sich in den letzten Jahrzehnten unaufhaltsam ins Umland ausgedehnt hat.
Die Agglomerationsgürtel des immer fetter werdenden städtischen Molochs sind in diesen Jahrzehnten seit dem 2. Weltkrieg mittlerweile auch in Weiach und Kaiserstuhl angekommen. Beide gehören gemäss Bundesamt für Statistik zum sechsten Gürtel.

Das Heimatgefühl geht zum Teufel

Was sich in Weiach mit der Gründung der Weiacher Kies AG durch den Haniel-Konzern aus Duisburg ankündigte und zuerst nur in Form einiger Einfamilienhäuschen im alten Dorfperimeter und seiner unmittelbaren Umgebung manifestierte, ist mit der Erschliessung des nördlich der Chälen gelegenen Riemlihanges unter Wingert (Weinbergstrasse und Neurebenstrasse), vor allem aber mit dem Ausbau der drei Rebbewirtschaftungsstrassen (namentlich der Trottenstrasse und der Leestrasse) zu einer unübersehbaren, massiven Veränderung des Dorfbildes geworden. 

Wo früher die Durstlöscher der bäuerlichen Bevölkerung wuchsen, da wuchert die EFH-Einfalt in der Vielfalt von bauherrspezifischen Wünschen. Bereits Mitte der 70er-Jahre platzierte Mehrfamilienhäuser im Bruchli (zuerst nur zwei) hatten eine signifikante Steigerung des Verkehrs auf der Chälenstrasse zur Folge. Heutzutage kann man den Sommerabend-Zeitvertreib der damaligen Jugend - das Fussballspielen auf der Strasse - glatt vergessen. Denn jetzt hat sich die Dichte an Blöcken von der Chälenstrasse 23 an vervielfacht. Und der Verkehr erst recht.

Die Alteingesessenen dieses Dorfteils haben daran zu nagen, wie sich beispielweise an diesem Tweet zeigt: 

Von der Heimatliebe ist hier ohnehin nicht mehr viel übrig...
Das hier ist keine Heimat mehr, schon lange nicht mehr.
Leider.  — (((דבורה))) (@MetalMaidenBo) 28. Juli 2018

Wie weiland in der Sage von der Teufelsbrücke die Urner einen Geissbock über die Brücke gejagt haben, so haben sich auch viele landbesitzenden Weiacher seit den 60ern dem faustischen Pakt verschrieben, der Finanzeinkünfte um den Preis des Verlustes alten Kulturlandes und Dorflebens ergab - und ergibt. 

Verweigert haben sich diesem Druck nur wenige. Aber es gibt sie immer noch, die Inseln inmitten des Dorfes. Vor allem eine, die noch die alte Unterscheidung zwischen Chälen und Büel/Oberdorf sichtbar vor Augen führt: eine Wiese mit alten Obstbäumen und Bienenhaus, wie sie früher überall anzutreffen waren, als das Dorf in einem Meer aus solchen Bäumen verschwand.

«Fortschritt» als Seelenverlust

Die kapitalistische Verwertungslogik wird überdeutlich anhand der gerade in den letzten Jahren hingeklotzten Renditeobjekte, mehrheitlich in Form von Mehrfamilienhaus-Überbauungen verschiedener ortsfremder Investoren. Betongold rentiert besser als viele andere Anlageprodukte - zumal in Zeiten von Negativzinsen und ins Groteske aufgeblähten Notenbankbilanzen.

Die Neuzuzüger mögen das «Landleben» als positiv empfinden, da sie Grünzonen in relativer Nähe ihrer Wohnwaben finden. Für etliche Alteingesessene und solche, die Weiach noch vor zwanzig bis vierzig Jahren kennengelernt haben, ist dieser sogenannte «Fortschritt» hin zur verbauten Landschaft vor allem eines: ein Seelenverlust.

Der Mainstream beklagt vor allem den Verlust an Schönheit, wie der Titel des vor genau einem Jahr erschienenen 20-Minuten-Beitrags zur Zersiedelungsinitiative nahelegt: 

«Schöne Landschaften werden verschandelt». Autor: Kempf, E. Mit Spitzmarke: Zersiedelungsinitiative. In: 20 Minuten, 27. November 2018. 18:01. 

Zu diesem Beitrag gab es 493 Kommentare. Davon zwei mit direktem Weiach-Bezug:
Hinweis: Der Beitrag von «Leidende» hat mittlerweile 31 Daumen hoch, der von «Auch ein Weiacher» 7.

Dessen Bemerkung, das Dorf sei wegen gesunkener Lebensqualität unattraktiv geworden, ist ein erneuter Hinweis darauf, dass es eben auch Menschen gibt, die nicht nach den Kriterien von Immobilienschätzern vorgehen, vgl. Kinder statt Rinder. WeiachBlog Nr. 353 v. 6. Januar 2007. Wenn Tamedia Weiach damals die Note 1 und Neerach die 6 gab, dann sah das für einen Weiacher Familienvater unter Umständen komplett anders aus.

Affaire à suivre.

Dienstag, 26. November 2019

Vom Wohnort der Eltern nicht weit weg

Fünf Jahrgänge der Primarschule Weiach mit Geburtsjahren von 1966 bis 1970. Als diese Jahrgänge das damals noch neue Schulhaus Hofwies besuchten, da wurden noch zwei Klassen im gleichen Zimmer unterrichtet, jeweils die 1./2., 3./4. und 5./6. In manchen Jahren wurden kaum 10 neue ABC-Schützen eingeschult.

Die letzten beiden grossen Treffen dieser Jahrgänge fanden 2001 und 2010 statt, vgl. WeiachBlog Nr. 797 sowie WeiachBlog Nr. 942 (für das Programm von 2010). Nachdem nun bald wieder ein Jahrzehnt vergangen ist, bereiten die damaligen Organisatorinnen eine neuerliche Zusammenkunft vor (vgl. WeiachTweet Nr. 2547 v. 25. November 2019).

Nach der Liste von Ursula Hänni-Hauser und Brigitte Klose (die selber zu diesen Jahrgängen gehören) leben noch 65 Ehemalige (Stand 25. November 2019).

Wo ist heute, wo sie um die 50 Jahre alt sind, ihr Lebensmittelpunkt? Wir stehen ja in einer Zeit, in der die individuelle Mobilität so gross ist wie in kaum einer anderen Epoche. Und trotzdem stellt man fest, dass die Menschen in ihrer überwiegenden Mehrheit über Jahrhunderte hinweg sehr standorttreu sind. Man kann das an der Verteilung der Wohnorte (nach Telefonverzeichnissen) rund um die Bürgerorte herum feststellen.

Nix auswandern. Mehr als die Hälfte sind noch Zürcher.

Ins Land, in dem man aufgewachsen ist, dahin kehrt man immer wieder zurück. Bei unserer Stichprobe ist das bei 97% der Fall. Nur zwei wohnen im Ausland, eine ehemalige Weiacher Schülerin im Fürstentum Liechtenstein unweit des Rheins, und einer in Stetten bei Hohentengen, also der Nachbargemeinde, die in mancher Hinsicht mehr zum Züribiet gehört als zu Baden-Württemberg. Selbst diese zwei sind also nicht wirklich ausgewandert.

Schauen wir uns die Verteilung der Lebensmittelpunkte in Prozenten an. Bei den Wohnorten ergibt sich ein Weiach-Anteil von 18.5%. Fast jede(r) Fünfte wohnt also noch am Ort, an dem die Eltern damals lebten! 44.6% leben im Zürcher Unterland (Weiach eingeschlossen) und mehr als die Hälfte (35 oder 53.8%) im Kanton Zürich.

Weitere Wohnortkantone: Aargau 6 (darunter 1 in Kaiserstuhl), Bern und Thurgau je 5, St. Gallen 3, und je 1 in den Kantonen Appenzell-Ausserrhoden, Glarus, Graubünden, Schaffhausen und Waadt.

Von zwei Ehemaligen fehlen die Wohnortdaten, von vieren sind sie noch nicht bestätigt.

Montag, 25. November 2019

Schlussbericht des Experten über den Neubau der Orgel

Heute vor 50 Jahren im glarnerischen Mitlödi (wenige Kilometer südlich des Kantonshauptorts). 

Da setzte sich Jakob Kobelt (1916-1987), der Orgelexperte unserer evangelisch-reformierten Kirchgemeinde für die Gesamtrestauration der Weiacher Kirche an die Schreibmaschine und tippte seinen abschliessenden Kurzbericht über die neu eingebaute Orgel. Gerichtet war er an Hans Griesser, zu diesem Zeitpunkt Präsident der Kirchenpflege.

Aus Anlass des diesjährigen Orgeljubiläums wird nachstehend der volle Wortlaut dieses letzten Schreibens veröffentlicht.


«Sehr geehrter Herr Präsident,

im Auftrag der Kirchgemeinde Weiach hatte ich am 20. Oktober 1965 ein Gutachten über die bestehende alte Orgel und über ein neu zu erstellendes Instrument geschrieben.

In oft mühsamen Verhandlungen mit der kant. und z.T. auch der eidg. Denkmalpflege - wobei sich Herr Dr. Albert Knöpfli sehr für das Projekt von Herrn Architekt  Hintermann und mir einsetzte - konnte schlussendlich die von mir vorgeschlagene Orgel (Gutachten vom 20. Oktober 1965) gebaut werden.

Die Orgel wurde auf Grund des Werkvertrages vom 22. Februar 1968 von der Firma Neidhart und Lhôte in Saint-Martin erbaut und am Sonntag, den 26. Oktober 1969 eingeweiht. Da das Instrument längere Zeit vorher fertig gebaut war, hatte ich Gelegenheit bei mehreren Besuchen und ausgiebigen Spielen die Orgel gründlich kennen zu lernen und zu prüfen.

Die Prüfung ergab, dass der Orgelbauer das Instrument genau nach Werkvertrag erstellt hat. Einige kleine Aenderungen (z.B. Principal 8' C-Dis akustisch) waren platzmässig bedingt. Es wurde durchwegs erstklassiges Material verwendet und nur Qualitätsarbeit geleistet. Auch wurde den Wünschen des Experten entsprochen (z.B. Lager des Instrumentes in Holz, zugelötete Gedackte!)

Eine glückliche, dem Raum angepasste Mensurierung, sowie eine sorgfältige künstlerische Intonation (Labiale: Herr Jehmlich, Zunge: Herr Lhôte) ergeben einen sehr differenzierten Klang bei den Einzelregistern und sehr viele herrliche Klangkombinationen.

Das Gehäuse (Entwurf Architekt Hintermann) ist ganz orgelgemäss entworfen und passt vorzüglich architektonisch in den Raum. Es ist eine Orgel, die in den Dimensionen dem Raume adäquat ist.
Zu dem ausgezeichneten Werk darf der Gemeinde herzlich gratuliert werden. Bei rechter Pflege dürfte die Orgel für viele Jahrzehnte ihren Dienst versehen. Auf alle Fälle sollte mit dem Orgelbauer (auch der Garantie wegen) ein Stimmvertrag abgeschlossen werden.

Ich danke allen Beteiligten, vor allem den Orgelbauern und dem Architekten für die sorgfältige, künstlerische Arbeit. Ich danke für die alle Zeit schöne Zusammenarbeit zwischen Baubehörde, Architekt und Orgelbauer.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Jakob Kobelt

Beilage:
Meine Rechnung an die Kirchgemeinde

Kopien des Schlussberichtes an:
- Orgelbauer Neidhart-Lhôte
- Herrn Architekt Hintermann»

Die im zweiten Abschnitt erwähnten «mühsamen Verhandlungen» insbesondere mit der kantonalen Denkmalpflege, aber auch Geplänkel mit den Exponenten der Eidg. Kommission für Denkmalpflege, spielen auf die monatelangen, erbittert geführten Auseinandersetzungen um die Frage des Rückpositivs an, bei der sich die Allianz aus Kirchgemeinde, Orgelbauer, Architekt und nicht zuletzt dem Orgelexperten schliesslich gegen die Bedenkenträger der Denkmalpflege durchsetzte. Die waren nämlich der Meinung, dass die Feldereinteilung der Emporenbrüstung derart schützenswert sei, dass man unmöglich ein Rückpositiv darüberhängen könne (vgl. dazu WeiachBlog Nr. 1412: Neidhart&Lhôte-Orgel Weiach: Nur ein Rückpositiv bringt's! v. 18. Oktober 2019). Der erwähnte Albert Knöpfli, Mitglied der Eidg. Kommission aus dem Thurgau war konstruktiv an der Lösung des vom kantonalen Denkmalpfleger sozusagen zur cause celèbre erklärten Rückpositiv-Problems beteiligt.

Im dritten Abschnitt erwähnt Kobelt, wie er das neue Instrument ausführlich habe testen können. Da er darauf das Einweihungskonzert gespielt hat, war das auch zwingend erforderlich (vgl. WeiachBlog Nr. 1414: Die Einweihung unserer Neidhart&Lhôte-Orgel, v. 26. Oktober 2019, zum 50-jährigen Jubiläum derselben).

Quelle

Kobelt, J.: Schlussbericht des Experten über den Neubau der Orgel in der Kirche Weiach ZH. Brief an Hans Griesser, Präsident Evangelisch-reformierte Kirchenpflege Weiach, 25. November 1969.
Original: ERKGA Weiach, 5.06.7 Orgel -- Durchschlag: ZBZ, Mus NL 118: W6, Fasz. 1

Sonntag, 24. November 2019

In memoriam Alt-Weiach: Lotti Pfenninger und Trudi Meierhofer

Der Totensonntag ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr, das am 1. Advent beginnt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kirchenjahr#Das_evangelische_Kirchenjahr), je nach Datum des Weihnachtstages liegt er zwischen dem 20. und 26. November, dieses Jahr am heutigen Tag.

Am Totensonntag gedenken die Reformierten ihrer Verstorbenen, während die Katholiken dies an Allerseelen (2. November) tun. Und Alt-Weiach, also Weiach, wie es noch vor wenigen Jahren war, ist protestantisch. Und zwar zu weit über 50%.

Am Kristallisationspunkt der Moderne

Die beiden Verstorbenen, denen WeiachBlog heute besonders gedenken möchte, haben gemeinsam, dass sie über Jahrzehnte sozusagen an einem Kristallisationspunkt zur heute unübersehbaren Moderne lebten. Moderne heisst in diesem Fall: massive Überbauung der früher landwirtschaftlich geprägten Landschaft. Oder wie es Benedikt Loderer, der Gründer der Architektur-Zeitschrift Hochparterre ausdrücken würde: «Hüsli-Pest».

Wo befindet sich dieser Kristallisationspunkt? Charlotte Pfenniger-Bühler und Gertrud Meierhofer-Albrecht wohnten Tür an Tür in den ältesten beiden Einfamilienhäusern, die seit den 1960er Jahren an einer der früheren Rebstrassen unter der Fasnachtflue stehen (heute Leestrasse genannt.).

Und beide wurden sie über 90 Jahre alt:
15.02.1924 - 25.08.19  Pfenninger Charlotte, Leestr. 23
13.06.1928 - 17.10.19  Meierhofer Gertrud, Leestr. 21


Im Alten verankert und doch Vorboten des Wandels 

Die beiden ersten Einfamilienhäuser an der heutigen Leestrasse sind exemplarische Vorboten der Verstädterung, der Transformation eines Bauerndorfes in eine arbeitsplatztechnisch mehrheitlich auf die Agglomeration Zürich ausgerichtete Siedlung.

Insbesondere die Familie Pfenninger hat in ihrer Geschichte direkt mit der neuen Zeit zu tun gehabt. So war Lotti Pfenningers Ehemann Ernst (gest. 2005) ab 1946 der erste vollamtliche Gemeindeschreiber von Weiach und nach der Gründung der Weiacher Kies AG 1962 deren erster Geschäftsführer. Aus dieser Kiesgrube wurde der Rohstoff für sehr viele Bauvorhaben gezogen. Kurz nach der Betriebsaufnahme beispielsweise die Autobahn A3 (damals noch N3) von Zürich über den südlichen Seerücken ins Gebiet March-Gaster, wofür eigens eine Bahnentladestation samt Förderbandsystem erstellt wurde. Denn die Weiacher Kies AG lieferte ab Beginn ihrer Produktionstätigkeit vor allem per Bahn aus.

Auch die zweite Familie, die an der mittleren Rebstrasse ein neues Domizil bezogen hatte, lebte von Verkehrbeziehungen. Nämlich denen der Post. «Poscht-Trudi», so nannten die Weiacher Getrud Meierhofer über Jahrzehnte hinweg, denn sie war als Ehefrau des letzten Posthalters aus der Familie der Meierhofer von der Alten Post sozusagen die administrative Zentrale der Weiacher Post, die bis Ende 1991 an der Stadlerstrasse 17 domiziliert war. Trudis Ehemann Walter war im Herzen eigentlich Bauer, aber da sein Bruder den Landwirtschaftsbetrieb übernommen hatte, wurde er eben Posthalter. Vgl. dazu Zürcher Unterländer v. 9. August 1996 und WeiachTweet Nr. 2526 vom 2. November 2019:

Samstag, 23. November 2019

Nackte Russen flüchten über die Grenze

Die Schlacht an den Masurischen Seen zwischen dem Russischen und dem Deutschen Reich tobte vom 6. bis 14. September 1914. Die Russen verloren dabei 125'000 von 325'000 Mann, darunter etwa 45'000 als Kriegsgefangene. Diese Gefangenen wurden auf das Reichsgebiet verteilt und als Hilfsarbeitskräfte eingesetzt, einige auch in unserer unmittelbaren deutschen Nachbarschaft.

«Aargau. Entflohene russische Kriegsgefangene. Am Donnerstag früh entdeckte ein Einwohner von Weiach auf einem Emdwagen sechs splitternackte Gestalten, die dem erschrockenen Manne zuriefen: "Wir Russen! Russen nicht bös!". Es waren sechs von den Deutschen in der Schlacht an den Masurischen [sic!] gefangen genommene Russen, alles Burschen von 23 bis 24 Jahren, die in der Nacht vom letzten Mittwoch aus der Gegend von Stetten und Hohentengen, wo sie Feldarbeiten verrichten mußten, entwichen waren. Von fünfzehn Gefangenen hatten sich acht aus einem gemeinsamen Schlafraum geflüchtet und oberhalb Kaiserstuhl das schweizerische Rheinufer erreicht. Dabei war ihnen von der Strömung das Kleiderbündel entrissen worden, und so hatten die Flüchtlinge im Adamskostüm landeinwärts flüchten müssen. Aus den benachbarten Bauernhäusern wurden sie bald mit den nötigen Kleidungsstücken versehen und hierauf nach Dielsdorf eingeliefert, wo kurz hernach zu ihrer Freude auch die fehlenden zwei Kameraden eintrafen, die in Raat-Stadel aufgegriffen worden waren.» (Bote vom Untersee, 16. August 1916)

In diesem Sommer 1916 flüchteten noch etliche weitere Russen in die Schweiz, vgl. den unten verlinkten Artikel der Basler TagesWoche.

Der Zeitungsmeldung aus der Zeit des 1. Weltkriegs ist fast nichts hinzuzufügen. Nur noch dies: Wo genau die auf dem Emdwagen entdeckten Soldaten aus dem Rhein gestiegen sind, ist unbekannt. Es kann durchaus auf Kaiserstuhler (und damit Aargauer) Gebiet gewesen sein. Aber einem Weiacher verdanken wir die Überlieferung des Ausrufs «Wir Russen! Russen nicht bös!».

Quelle und weiterführender Artikel
  • Bote vom Untersee. Publikations-Organ für den Bezirk Steckborn und die angrenzenden Gemeinden, 16. August 1916 – S. 3.
  • Rockenbach, M.; Jäggi, S.: Die Flucht der russischen Soldaten nach Basel. In: TagesWoche, 17. Juni 2014.

Donnerstag, 21. November 2019

Eine Wasserleiche im Rhein, gefunden 26. August 1787

Wann wurde Weyach erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung erwähnt? Und in welchem Zusammenhang? Sie können es sich wohl denken. Aus ähnlichen Gründen, wie wenn der Ortsname heutzutage in den Massenmedien erscheint. Bei ausserordentlichen Ereignissen. Unglücksfälle und Verbrechen bevorzugt.

Zwei Namensgleiche

Das damals noch «Zürcher Zeitung» genannte, gerade einmal rund acht Jahre alte Blatt (erstmals erschienen am 12. Januar 1780) veröffentlichte am Mittwoch, 19. September 1787 eine behördliche Anzeige der Zürcher Staatskanzlei, die textgleich auch in anderen Zeitungen erschienen ist. 

So zwei Tage darauf, «Freytags, den 21. Herbstmonat» (September) in dem unter dem Namen «Zürcherische Freitagszeitung» oder im Volksmund als «Bürklizeitung» bekannten Blatt, das sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls «Zürcher Zeitung» nannte. Ob dieser Namensgleichheit gerieten sich die beiden Verleger Salomon Gessner (NZZ) und David Bürkli in die Haare und die Angelegenheit musste schliesslich gerichtlich geklärt werden.


Die Zürcherische Freitagszeitung wurde übrigens bereits 1674 von Barbara Schaufelberger (1645-1718) unter dem Namen «Ordinari Wochen-Zeitung» gegründet. Der Begriff Zeitung bezeichnete damals noch eine Nachricht oder Neuigkeit. Mit dem Zusatz «Ordinari» wurde signalisiert, dass dieses Nachrichtenblatt regelmässig (z.B. kurz nach Eingang der ordentlichen Postbotenkurse) erschien.

Anzeige einer Wasserleiche zu Handen der Angehörigen

AVERTISSEMENT.

Den 26sten des lezt verwichenen Augstmonats wurde in dem Rhein unweit Weyach, eine unbekannte Weibsperson von ungefähr 50 Jahren, mitlerer Statur, und magerem Körper, mit schwarz-grauen Haaren, zerrissenen Kleidern und einem an der Brust hängen[d]en Crucifix todt gefunden; welches in der Absicht bekannt gemacht wird, daß die allfähligen Verwandten derselben von diesem Unglück Wissenschaft bekommen, und bey Endesunterzeichneter die nähern Umstände erfahren möchten.

Signatum den 15ten Septempris 1787
Canzley der Stadt Zürich


Behördliche Nachforschungen waren offensichtlich ergebnislos geblieben, so dass man zu dieser Art öffentlicher Ausschreibung Zuflucht genommen hat. Ob die Angehörigen der unglücklich zu Tode gekommenen Frau gefunden werden konnten, ist mir nicht bekannt.

Mittwoch, 20. November 2019

Nur eine Hanföl-Gült gekauft, nicht einen ganzen Hof

Bei unserem Ortschronisten Walter Zollinger (1896-1986) kommt es leider wiederholt vor, dass sachlich relevante Irrtümer einer Richtigstellung bedürfen.

Das betrifft insbesondere den Text seiner 1972 erstmals publizierten Monografie zur Geschichte von Weiach (vgl. WeiachBlog Nr. 1292). Auffallend ist vor allem seine etwas spezielle Art, Zitate aus Urkunden bzw. Urkundenregesten (also den Zusammenfassungen in Urkundenbüchern) zu übernehmen. Diese wirkt sich in mehreren Passagen sinnentstellend aus.

Richtigstellungen betreffen das Mittelalter

Man erinnere sich an die von Zollinger selber aus einem anderen Text (wohl von 1560) eingeschmuggelte Ortsangabe für die vor über dreihundert Jahren geschleifte alte Kirche (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 90), die es so aussehen lässt, als hätte es bereits 1381, also in vorreformatorischen Zeiten, eine Kirche im Oberdorf gegeben.

Oder an die falsche Darstellung der Verkäufer/Käufer-Verhältnisse für die älteste erhaltene Erwähnung des Ortsnamens 1271 (vgl. WeiachBlog Nr. 453). Auch vom Anonymus, der im Exemplar der Nationalbibliothek handschriftliche Anmerkungen eingetragen hat, wurde letzterer Fehler korrigiert (vgl. WeiachBlog Nr. 1283).

Weiter hat der anonyme Annotator einen von Zollinger falsch datierten Text aus der St. Blasianischen Urkunde von 1279 erkannt und berichtigt (vgl. WeiachBlog Nr. 1284).

«Den Zins darab»? Auch nicht ganz!

Schliesslich hat der oder die Unbekannte einen weiteren Fehler, betreffend eine Urkunde von 1392  erkannt und handschriftlich mit dem Zusatz «den Zins darab» sowie einer Anmerkung 15a ergänzt. Und darum soll es in diesem Artikel gehen.


Aus der obigen Formulierung Zollingers kann man nur den Schluss ziehen, Dietrich Ortolf habe dem Peter Stadler einen in Weiach gelegenen Hof abgekauft und den gesamten Ertrag der Kaiserstuhler Stadtkirche St. Katharinen gestiftet, was impliziert, dass Ortolf den Hof in sein Eigentum übernommen hätte.

Es ging um das Seelenheil der Verstorbenen

Dem ist aber keineswegs so. Sieht man sich das Regest von Paul Kläui (vgl. Bild unten) genau an, dann verhält es sich nämlich wie folgt: Dietrich Ortolf hatte eine sog. Gült gekauft, also ein Wertpapier, das auf dem nach wie vor im Eigentum des Peter Stadler stehenden Hof lastete und dessen Pächter dazu verpflichtete, vorgängig jeder anderen Zinsverpflichtung zehn Viertel Hanfsamen abzuliefern.

Gemäss der Urkunde von 1392 ging diese Lieferung direkt an die Verwalter der Kaiserstuhler Stadtkirche, wo mit dem daraus gepressten Öl das Ewige Licht am Brennen gehalten werden sollte. Alle anderen Einkünfte von diesem Weiacher Hof gingen weiterhin an den Eigentümer Peter Stadler (soweit der Hof nicht noch mit anderen, nachrangigeren Verschreibungen belastet war).

Stifter der ewigen Gülte (und Käufer des in der Urkunde genannten Hanfsamens) war – gemäss Regest Kläuis – jedoch Ortolfs Sohn. Die Stiftung hängt offenbar direkt mit Heinrich Baldenweg und dessen Vorfahren zusammen. Was gleich mehrere Fragen aufwirft: a) ob der verstorbene Baldenweg zu Lebzeiten selber bereits eine Stiftung vorgenommen hat (oder dies nur testamentarisch verfügte), b) ob Dietrich Ortolf zum Zeitpunkt der Verurkundung bereits tot war und sein Sohn aus diesem Grund als Käufer auftrat, sowie c) in welcher Beziehung Baldenweg zu den Ortolfs stand. Es ist möglich, dass die Frau Dietrich Ortolfs eine Tochter dieses Heinrich Baldenweg war. Der Sohn Ortolfs wäre dann einer seiner Enkel.

Wenzinger Plüss verortet Baldenweg'sches Ewiges Licht im Jahr 1392

Franziska Wenzinger Plüss spekuliert 1992 in ihrer Arbeit über das kirchliche Leben im spätmittelalterlichen Kaiserstuhl nicht über diese Fragen. Für sie ist klar, dass die Baldenweg'sche Stiftung 1392 erfolgte – ob nun gleichzeitig mit oder erst direkt durch Dietrich Ortolf bzw. seinen Sohn (vgl. auch S. 98):

Es ist zu vermuten, dass Seelgeräte statt in die Pfarrkirche [Hohentengen] schon bald nach der Errichtung der Stadtkirche [nach 1255] in diese gestiftet wurden. Urkundlich belegen lässt sich dies jedoch erst für das Jahr 1392. In die Stadtkirche wurde damals ein Ewiges Licht für das Seelenheil des verstorbenen Heinrich Baldenweg und seiner Vorfahren gestiftet. Dietrich Ortolf von Lindau hatte dafür zum Preis von 50 gl zehn Viertel Hanfsamen jährlich von einem Hof in Weiach gekauft. Die Stiftung errichtete Dietrich Ortolfs Sohn, die Fertigung holte der Kaiserstuhler Bürger Peter Stadler, Eigentümer des genannten Hofes in Weiach, von Schultheiss und Rat der Stadt ein [Anm-130]. Ewige Lichter sind seit dem 11. Jahrhundert in Altarnähe bezeugt, im Spätmittelalter war dieses Brauchtum
weit verbreitet, wobei die Brenndauer trotz des Namens auch nur eine zeitweilige sein konnte [Anm-131]. (Wenzinger Plüss –  S. 99-100; Ergänzung in [ ] durch WeiachBlog)

Anm-130: StAK U 22 zu 1392 IV 26; AU XIII Nr. 34, S. 24.
Anm-131: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd. 6. München 1973. Sp. 600-618.

Was bedeutete das für den Weiacher Bauern Hans Locher?

Unter einem Viertel ist ein Getreidehohlmass zu verstehen. Wenn damit das Kaiserstuhler Viertel für unentspeltztes Getreide gemeint ist (in diesem Fall also geschälte Hanfnüsse), dann waren das 22.42 Liter (vgl. WeiachBlog Nr. 117), mithin also ca. 225 Liter geschälte Hanfsamen. Nicht gerade wenig.

Gemäss dem Wikipedia-Artikel Hanföl ergibt sich bei 30-35% Ölgehalt ein Ertrag von 180-350 Liter Hanföl pro Hektar Anbaufläche. Für die Hanfsamen aus Weiach wären das 75 Liter Öl, entsprechend einer Hanfplantagenfläche von 0.4 Hektar (Ertrag 180 l/ha bei Ölgehalt 33%), bei guter Düngung auch weniger.

Jahr für Jahr mindestens die geforderte Menge Hanfsamen hinzubekommen, war dann das Problem von Bauer Locher und seinen Nachfolgern auf diesem Hof. Da sie Hanf auch für den Eigenbedarf anbauten (aus Hanffasern machte man u.a Kleider, vgl. Weiacher Geschichten(n) Nr. 94), musste die Hanfpünt einfach genug gross sein, damit sie diesen Teil des Pachtzinses entrichten konnten.

Korrekturen in Publikationen des Wiachiana-Verlags

1. Da sich die ortsgeschichtliche Monographie in der Tradition Zollingers bewegt und ab 2003 (dritte Auflage) viel von seinem Material übernommen wurde, muss nun auch die entsprechende Passage angepasst werden. Wo Zollinger noch geschrieben hat:

1392 urkundet «Lütold Grebel, schultheiss zue Keyserstuel», dass Peter Stadler «burger daselbst, einen hoff gelegen zue Wiiach hetti .... den hans Locher von Wiiach buwet.... dem Dietrich Ortolf von Lindöw ... umb fünfzig gueter guldin an gold und an gewicht» verkauft hat. Letzterer stiftete dann den Ertrag dieses Gutes an die «kapelle in der statt (Kaiserstuhl) und der reinen jungfröwen sant Katherinen ... » (Schutzheilige von Kaiserstuhl). [Vgl. Zollinger, W.: Weiach 1271-1971. Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach, 1. Aufl. 1972, S. 19.]

... so steht nun in der 6. Auflage der Weiacher Ortsmonographie, Version 6.19 vom November 2019 die folgende Darstellung:

1392 urkundet «Lütold Grebel, schultheis ze Keyserstůl», dass Peter Stadler, Bürger daselbst, «einen hoff gelegen ze Wiiach» habe, «den Hans Locher von Wiiach buwet» und er Zinsanteile davon dem Dietrich Ortolf «von Lindouw […] umb fünfzig gůter guldin an gold und an gewicht» verkauft habe. Sein Sohn stiftete diesen Ertrag der «kapelle in der statt [Kaiserstuhl] und der reinen jungfrouwen sant Katherinen» (Katharina von Alexandrien) [Fn-79].

Fn-79: Zehn Viertel Hanfsamen für das Ewige Licht; vgl. Aargauer Urkunden, Band XIII, Nr. 34 u. WG(n) Nr. 94.

Vgl. Brandenberger, U.: Weiach - Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes. 6. Aufl. Version 19; November 2019, S. 22 (Stand vom 20.11.2019)

Hinweis: Bei der heiligen Katharina von Alexandrien, einer Märtyrerin, handelt es sich wohl um eine Kunstfigur, die der von fanatisierten Christen ermordeten paganen Mathematikerin, Astronomin und Philosophin Hypatia nachempfunden sein soll.

2. Der Artikel Weiacher Geschichte(n) Nr. 94 (Gesamtausgabe S. 355 unten) wurde ebenfalls umformuliert. Der Abschnitt lautet neu:

In einer Urkunde des Stadtarchivs Kaiserstuhl, die auf den 26. April 1392 datiert ist, wird ein Geschäftsabschluss zwischen dem Kaiserstuhler Bürger Peter Stadler und dem Sohn Dietrich Ortolfs von Lindau besiegelt. Ortolf junior erwarb für 50 Gulden eine jährliche Lieferung von «zehen fiertel gůtes hanfsamen» von einem Hof in Weiach, welche «gan sont […] an die kappelle in der statt und in der ere uinser lieben frouwen und der reinen jungfrouwen sant Katherinen, also das da ein ewig liecht in der vorgenanten kappelle vor fron altare bruinnen sol […].»

In die Stadtkirche von Kaiserstuhl wurde damit ein Ewiges Licht für den verstorbenen Heinrich Baldenweg und seine Vorfahren gestiftet. Ewige Lichter in Altarnähe sind seit dem 11. Jahrhundert bezeugt, im Spätmittelalter war dieser Brauch dann weit verbreitet. (Wenzinger Plüss 1992)

Vgl. Quellen unten für den vollständigen Artikel in der alten und der neuen Fassung.

Quellen und weiterführende Artikel

Samstag, 16. November 2019

Auch Bismarck würde gnadenlos betrieben

Manche Stilblüten machen die Runde durch die Gazetten. Vor allem wenn sie träf sind und noch ein wenig schräg daherkommen. Dann nehmen sogar geographisch weit entfernte Redaktoren davon Notiz und kolportieren sie in ihrem Blatt.

Mit einem Weiacher Thema war das gegen Ende des Jahres 1881 der Fall. Die Armengemeinde Weiach, damals (und bis Ende der 1920er-Jahre) eine eigene Körperschaft wie die Primarschulgemeinde oder die Kirchgemeinde, war offensichtlich etwas knapp bei Kasse. Das ist kein Wunder, denn sie war mit irdischen Gütern (Land, Wald und Kapital) nicht gerade üppig ausgestattet um ihre Aufgabe, die Sozialhilfe, erfüllen zu können.

Dass in dieser Behörde meist auch der Herr Pfarrer und einer der Lehrer Einsitz hatten, zeigt sich an der aufgepfefferten Version einer amtlichen Anzeige, die es über den Bülach-Dielsdorfer Volksfreund (später: Neues Bülacher Tagblatt) in eine andere freisinnige Regionalzeitung schaffte, das heutige Thuner Tagblatt:

«Amtlicher Styl. Im „Bülach-Dielsdorfer Volksfreund" liest man folgende Anzeige von Weiach: „Weil diesen Winter kein Steckenhau unter die Bürger vertheilt wird und man die gewöhnlichen Maßregeln nicht in Anwendung bringen kann, so haben die Ausstehenden, und wenn es selbst Bismarck wäre, sofortigen Rechtstrieb zu gewärtigen. Die Armengutsverwaltung."» (Quelle: Thuner-Blatt, 3. Dezember 1881)

Der amtierende deutsche Reichskanzler Bismarck musste also als Vergleich herhalten. Auch gut Vernetzte mit Zahlungsrückstand, die teils mit Glacéhandschuhen angefasst wurden, erhalten hier einen Schuss vor den Bug: Zahlung oder Betreibung!

In einem Dorf wie Weiach blieb das zwar kaum einem verborgen, wenn der Gemeindeammann (Betreibungsbeamter) bei jemandem vorstellig wurde.

In diesen Jahren ging es allerdings vielen Weiachern wirtschaftlich sehr schlecht, was sich in einer extremen Häufung von Betreibungen, Konkursen und Versilberungsganten äusserte. Entsprechend unbeliebt machte sich der Gemeindeammann – ein öffentliches Amt, das man als Gewählter so schnell wie möglich wieder loszuwerden versuchte.

Dass eine solch klare öffentliche Ansage gerade in diesen Jahren stattfand ist also indirekt auch ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Adresse des Weiacher Gemeindeammanns. Denn der wurde im selbigen Jahr «gerichtlich wegen fahrläßiger Amtspflichtverletzung bestraft», wie schon sein Amtsvorgänger im Jahre 1876. Das kann man den «Rechenschaftsberichten» des Obergericht an den Kantonsrat für die fraglichen Jahre entnehmen (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 36).

Quellen

Sonntag, 10. November 2019

Staatliches Angstmanagement

«Hexen! Überall Hexen!» – diesen Alarmruf ihrer Untertanen vernahmen die «ehrenvesten» und «wysen» Herren des Zürcher Rates ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert immer häufiger, drängender. Auch aus Weiach. Zu grosse Bevölkerungsdichte, Missernten, Streit in der Dorfgemeinschaft. Die Menschen bekamen es zunehmend mit der Angst zu tun.

Hexenglaube war Mainstream

Nun waren weite Teile der Bevölkerung felsenfest davon überzeugt, dass es a) Hexen gebe, die mit dem Teufel im Bunde stehen, b) diese den Schadenzauber beherrschten und damit äusserst gefährlich seien und c) man sie nicht am Leben lassen sollte. Das letztere erfuhren auch einfache Leute (da sie seit der Reformation vermehrt selber in der Bibel lesen konnten) aus dem 2. Buch Mose 22, 17, wo es heisst: «Eine Zauberin sollst Du nicht am Leben lassen». Todesstrafe für Hexen war also ein Auftrag direkt aus der Bibel. Und: Hexenglaube war Mainstream.

Und das blieb er noch bis weit in die Aufklärung hinein auch in Mitteleuropa, wie man dem «Grossen vollständigen Universallexicon» von Johann Heinrich Zedler von 1735 entnehmen kann. Nach ausführlicher Erklärung, was man unter Hexen zu verstehen habe, hält der Zedler fest: «Ob es nun dergleichen Hexen gebe, wie wir sie beschrieben haben, darüber ist ein grosser Streit. Der gemeine Hauffen spricht ja, etliche wenige sonderbare Köpffe aber sprechen nein.»

Es spielt nun keine Rolle, ob man als Zürcher Stadtbürger, der sich als Obervogt, Landvogt oder Pfarrer mit diesem Volksglauben konfrontiert sah, an Hexerei glaubte oder nicht. Wenn die Ängste der Untertanen so übermächtig werden, dass sie die eigene Macht gefährden, dann muss man handeln. Zumal dann, wenn aus der eigenen Führungsschicht auch einige der Massgebenden die Vorstellungen des Volkes teilen. Und erst recht, wenn diese bereit sind, jemanden, der nicht an Hexerei glaubt und daher geneigt ist, eine als Hexe denunzierte Person laufen zu lassen, ohne Umschweife als selber mit dem Teufel im Bunde Stehenden zu diffamieren. Im besseren Fall konnte einen das Amt und Würden kosten, im schlechtesten Gesundheit und Leben.

Und so machte wohl mancher beim Hexenwahn des 16. und 17. Jahrhunderts mit, auch wenn er insgeheim daran zweifelte, dass die zum Tode Verurteilten schuldig seien oder auch nur, dass sich mit deren brutaler physischen Vernichtung die Ängste der Untertanen auch nur halbwegs aus dem Weg räumen liessen. Bevor man also ob dieser – heute offensichtlichen – Justizmorde (u.a. an fünf Frauen aus Weiach, die in Zürich auf einer Kiesbank in der Sihl verbrannt wurden) den Stab über den Urteilssprechern bricht, sollte man sich die Frage stellen: «Wie hätte ich in dieser Situation gehandelt?»

Erst die fortschreitende Aufklärung hat eine Mehrheit der Personen in Machtstellungen darin bestärkt, auf den Volksglauben (vgl. Zedler-Zitat oben) nicht mehr allzu viel zu geben. Ausnahmen mit Todesurteil, wie der Wasterkinger Hexenprozess von 1701 oder gar die letzte Hexenhinrichtung der Schweiz (Anna Göldi im Kanton Glarus, 1782) bestätigen die Regel.

Und heute?

Wir Heutigen befinden uns zusehends in einer ähnlichen Lage. Lautstarke Gruppen mit Social Media-Megaphonen gehen im globalen Dorf umher und zeigen mit dem Finger auf postmoderne Äquivalente von Hexen.

Die heutigen Hexen, das sind Personen, die sich als Kristallisationspunkt der gefühlten diffusen Bedrohung der eigenen Lebenswelt, Zukunft, etc., kurz: der persönlichen Sicherheit, eignen. Und die damit als Sündenböcke für eine aus den Fugen geratende Welt herhalten sollen. Die sogenannten Qualitätsmedien unserer Tage verstärken solche Trends (gewollt oder ungewollt), denn Zuspitzungen aufs Emotionale kommen immer gut an – und letztlich soll ja auch die Kasse stimmen.

Wie ist das mit den Ängsten? Nehmen wir Flugzeugabstürze als Beispiel. Die haben einen ganz hohen Schreckensfaktor. Weil man da in einer Blechdose sitzt, nicht aussteigen kann und den Piloten vorne voll und ganz vertrauen muss. Den Strassenverkehr empfinden dagegen viele als kleineres Risiko, weil man da glaubt, es selber im Griff zu haben und obwohl man wissen könnte, dass in kleinen Portionen gesamthaft täglich um Grössenordnungen mehr Menschen ums Leben kommen als bei den medial im Wochentakt aus der ganzen Welt gemeldeten Flugzeughavarien.

In einer Welt, die dank moderner Technik für die Mehrheit der in Mitteleuropa Lebenden weit sicherer ist als noch vor einigen Jahrzehnten, in dieser Welt werden alle möglichen und unmöglichen Unwägbarkeiten des Lebens zu unerträglichen Bedrohungen aufgebauscht.

Dämonenbewirtschaftung

So werden die inneren Dämonen der Menschen auch heute bewirtschaftet. Darüber sind sich in Verantwortung Stehende heutiger Tage nur allzu bewusst. Ein Shitstorm mit freundlicher Begleitung durch den Kampagnenjournalismus kann einen locker die Position kosten. Also ist man äusserst vorsichtig. In modernem Neusprech: risikoavers. Und: Risikoaversion ist Mainstream.

Kein Wunder erliegen Parlamentarier jeglicher Couleur der populistischen Versuchung, bei jedem für sich selber stehend noch so kleinen – wenn auch für das Opfer tragischen – Vorfall, sofort mit der ganz grossen Keule «Abhilfe» schaffen zu wollen. Mit Postulaten, Motionen, Interpellationen und was der Rats-Instrumente mehr sind.

Ein paar Raser – die es notabene seit dem Aufkommen der Automobile gegeben hat – reichen aus, um die Strafbestimmungen des Strassenverkehrsgesetzes mit knallharten Artikeln anzureichern, bei denen das vom Richter zwingend zu berücksichtigende Strafmass in keinem Verhältnis zu anderen Vergehen und Verbrechen steht. Ein durchgeknallter Armeeangehöriger, der mit dem Sturmgewehr eine an einer Bushaltestelle wartende junge Frau erschiesst, reicht letztlich aus, um heute ALLE Stellungspflichtigen einer sogenannten Personensicherheitsprüfung zu unterziehen. Und da werden dann proaktiv Stellungspflichtige aussortiert, deren Jugendsünden in früheren Jahrzehnten selten aktenkundig geworden wären.

Diese Entwicklung ist wenig verwunderlich. Denn: macht man nichts, kann man als Verantwortlicher sicher sein, dass einen die «Qualitätsmedien» spätestens beim nächsten ähnlich gelagerten Vorfall öffentlich zum Abschuss freigeben werden.

Rechtsstaat ade in der Uujäääää!-Gesellschaft?

Regierungsräte, Bezirksstatthalter, KESB-Verantwortliche, Gemeindepräsidenten, Richter, Staatsanwälte, Polizeikommandanten. Sie alle müssen damit rechnen beim Übersehen eines aktenkundig gewordenen Vorfalls medial in die Pfanne gehauen zu werden, wenn sie nicht plausibel abstreiten können, von all dem nichts gewusst zu haben. Und diese Abstreitbarkeit ist halt nur dann gegeben, wenn nichts, aber auch wirklich gar nichts Schriftliches vorhanden ist, was Whistleblower leaken oder Journalisten ausgraben könnten.

Die herrschende Nullrisikomentalität in unserer Gesellschaft führt dazu, dass, wie Daniel Binswanger gestern auf republik.ch schreibt, der «Präventionsgedanke» den Rechtsstaat immer häufiger aushebelt. Heisst: eine mögliche Tat proaktiv verhindert werden soll. Es gebe einen «Paradigmenwandel» von der Sanktion (Freiheitsstrafe oder Geldbusse) hin zu präventiven Massnahmen. Und das selbst dann, wenn noch keine Straftat begangen wurde, die beispielsweise eine Verwahrung rechtfertigen würde.

Die Angst vor Rückfällen macht Strafjustiz immer häufiger zu einer Präventionsveranstaltung. Forensische Psychiater (wie Frank Urbaniok), die modernen Schamanen des Risikomanagements, machen sich bewaffnet mit elektronischen Tools aller Art auf, den Verantwortlichen im Justizsystem den Hintern abzusichern. Und weil natürlich auch diese aus dem Dunstkreis der Medizin stammenden Fachpersonen sich absichern wollen, werden sie im Zweifel gegen den «Angeklagten» entscheiden und ihre Gutachten entsprechend vorsichtig formulieren. Sicher ist sicher. Dasselbe gilt für die Hersteller der Beurteilungssoftware. Im Zweifel produzieren sie lieber ein paar «false positives» zu viel. Alle Beteiligten können sich damit beruhigen, dass die modernen Hexen «nur» noch sozial und beruflich verbrannt werden. Oder in Raten von jeweils fünf Jahren letztlich lebenslänglich weggesperrt.

Man kann sich fragen, wo all das noch hinführt. Schon heute nimmt der Staat Armeeangehörigen die Dienstwaffe auf unbestimmte Zeit weg, wenn auch nur der kleinste Hinweis auf Eigen- oder Fremdgefährdung nicht durch ein forensisch-psychiatrisches Gutachten vollständig ausgeräumt werden kann. Wann werden wohl Strassenverkehrsämter auf die Idee kommen, gestützt auf Art. 16d Abs. 1 Bst. c SVG bei diesen Armeeangehörigen vorsorglich auch gleich einen unbefristeten Führerausweisentzug wegen fehlender Fahreignung zu verfügen?

Sicher ist schliesslich sicher, oder?

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