Im Mai 1743 hat Heinrich Baumgartner (48) mit seiner Frau Margretha (49) und zwei Teenagern (Barbara, 19 und Cleophea, 16) den grossen Sprung gewagt und seine Heimat Weyach für immer hinter sich gelassen (Faust 1920; Mitteilung von Pfr. Wolf, 14. April 1744; vgl. die Anmerkung unten).
Allen jahrelangen Versuchen der Zürcher Obrigkeiten ihm dies auszureden zum Trotz, ist er zusammen mit seiner vier Jahre älteren Schwester sowie einer verwitweten Weiacherin und deren Sohn in die Neue Welt ausgewandert. Nach Amerika!
Und ja, es war ein Wagnis, aber darben und sterben konnte man damals auch in Weiach, denn wirtschaftlich war im Staate Zürich kaum ein Fortkommen, ausser für Stadtbürger.
Einfach wurde es für Heinrich nicht. An den Strapazen der wochenlangen Überfahrt per Schiff ist ihm seine Frau gestorben. Ohne eine tüchtige Partnerin kann man die Arbeit auf einem zu gründenden Landwirtschaftsbetrieb aber kaum bewältigen. So blieb Heinrich nichts anderes übrig, als sich Mitte August 1744 in seiner neuen Heimat, der damals noch britischen Kolonie Pennsylvanien, mit der fast 30 Jahre jüngeren Maria Balzer zusammenzutun.
Zahlreiche Nachkommen
Zumindest was die Vitalität der Nachkommenschaft anbelangt, war diese Verbindung eine äusserst fruchtbare. Jedenfalls dürfte Mary mehr oder weniger dauerschwanger gewesen sein. In den folgenden 18 Ehejahren bis zu ihrem vorzeitigen Tod im Jahre 1762 (mit lediglich 38 Jahren) hat sie mindestens neun Kinder zur Welt gebracht, von denen nicht weniger als acht (!) das Erwachsenenalter erreichten. Angesichts der damals (auch in der alten Heimat Zürich) sehr hohen Kindersterblichkeit und der Risiken, denen gebärende Frauen ausgesetzt waren, ist das ziemlich bemerkenswert. Nur schon ein zu grosser Fötus, der nicht durch den Geburtskanal passt, war für Mutter und Kind meist das Todesurteil.
Aber bei Heinrich und Mary scheint anatomisch, erbbiologisch und auch beim Aufwachsen der Kinder fast alles relativ problemlos gelaufen zu sein. So kam es, dass dieser Heinrich heute als einer der wichtigeren Stammväter des Geschlechts der Baumgardner (auch Bombgardner geschrieben) in den Vereinigten Staaten von Amerika gilt.
«We loved every minute of it!»
Am Anfang stand eine Anfrage zum obgenannten Vorfahr und allfälligen, noch in Weiach lebenden Nachfahren. Eingereicht wurde sie über das Kontaktformular des Weiacher Gemeindepräsidenten. Aus Gründen des Datenschutzes können da weder die Gemeinde selber noch das Zivilstandsamt in Bülach weiterhelfen. Stefan Arnold reichte die Frage daher an den Wiachiana-Verlag weiter.
In den letzten Apriltagen ergab sich dann dank des Engagements der Ortsmuseumskommission eine Zeitreise der besonderen Art:
Am 1. Mai 2023 hat Randy Wilson aus Riverton im Bundesstaat Utah, ein Nachkomme Henry Baumgardners in 9. Generation, in Begleitung seiner Ehefrau Linette dem Herkunftsort seines Schweizer Ahnen einen kurzen Besuch abgestattet.
Empfangen wurden sie von drei Mitgliedern der Ortsmuseumskommission, Bruno Koller, Anita Meierhofer und Karin Volkart. Mit von der Partie: Willi Baumgartner-Thut, der um viele Ecken herum mit Randy verwandt sein dürfte. Wie genau, muss noch geklärt werden. Wilson sitzt dafür sozusagen an der Quelle, der 56-jährige IT-Spezialist arbeitet nämlich für den Genealogie-Datendienst familysearch.org, ein Projekt der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (grösste Glaubensgemeinschaft der christlichen Konfessionsgruppe der Mormonen).
Mit einer Privat-Führung durch das nach der wohl letzten Werkschau des 2022 verstorbenen Hans Rutschmann-Griesser noch nicht wieder eingemottete Weiacher Ortsmuseum am Müliweg, sowie einem Rundgang durch den historischen Ortskern gelang es den vier engagierten Weychern, den Gästen aus Übersee trotz des wenig erbaulichen, da verregneten Wetters viel Freude zu bereiten.
Haste Töne? Dieses Harmonium hat sie noch
Umgekehrt ist dies aber auch gelungen. Denn Linette schaffte es, der im Dachgeschoss des Ortsmuseums platzierten pump organ (d.h. ein Harmonium) Töne zu entlocken, die man so nicht erwartet hätte. Ein per Handy aufgenommenes Video beweist: Das Instrument funktioniert noch. All der Stillstandsjahre zum Trotz. Man muss nur die (richtigen) Register ziehen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Randy und Linette haben überdies viele Fotos geschossen, die dank ihrer hohen Auflösung (ZIP-Datei, 122 Elemente, 904 MB!) und guter Ausleuchtung einen wertvollen Beitrag zur Dokumentation der Sammlung des Ortsmuseums geben.
[Nachtrag vom 9. Juni 2023: Auf der Beschreibung des Harmonium links neben dem Notenhalter steht: «Modell Schmidmann, Basel. Instrument von Sr. Marie Liebert, Diakonissin in Riehen. 1966 dem Ortsmuseum geschenkt.» Es handelt sich um die Firma E. C. Schmidtmann & Co.]
Das Ortsmuseum vor 300 Jahren und heute
Den älteren, auf das Jahr 1646 zurückgehenden Teil des Lieberthauses, das heute unser Ortsmuseum beherbergt, den hat Henry Baumgardner als Amerikaner erster Generation noch mit eigenen Augen gesehen. Nicht aber den heutigen Baubestand der benachbarten Mühle im Oberdorf, denn die ist 1748 abgebrannt und musste komplett neu gebaut werden (vgl. das Deckentäferstück im Ortsmuseum, datiert auf 1752).
Zur Frage, ob man Heinrichs Geburtshaus besichtigen kann, gibt der Artikel von morgen Pfingstmontag Auskunft.
Anmerkung
Über den Verbleib der beiden Teenager ist bislang nichts bekannt. Sind sie ebenfalls bei der Überfahrt gestorben? Die Datenbank familysearch.org (Stand 27. Mai 2023) ordnet Barbara und Cleophea (als Cleopha) mit denselben Geburtsjahren einem anderen, älteren Ehepaar Baumgartner-Bersinger zu (Hans Heinrich Baumgartner, 1683–1750 und Maria Bersinger 1686–1734). Aufgrund des laut den Mandaten des Zürcher Rates geltenden Auswanderungsverbots für ledige junge Frauen, sowie der Vorschrift, dass man nur auswandern durfte, wenn keine allenfalls noch zu unterstützende Angehörige am Leben waren (Hans Heinrich starb erst 1750) ist eher von einer Abstammung vom 1695 geborenen Heinrich auszugehen, wozu auch dessen mutmassliches Heiratsjahr 1722 passt. Es sei denn, Pfarrer Wolf hätte am 14. April 1744 tatsächlich schriftlich bestätigt, dass im Vorjahr zwei junge Frauen illegal ausgewandert sind, was man ihm obrigkeitlicherseits gewiss angekreidet hätte, denn dann hätte er seine Aufsichtspflicht verletzt. Die entsprechenden Kirchenbücher sind zur Klärung dieser Frage genau unter die Lupe zu nehmen.
Quellen und Literatur
- Faust, Albert B.: Lists of Swiss Emigrants in the Eighteenth Century to the American Colonies. Volume I, Zurich, 1734-1744. National Genealogical Society, Washington D.C. 1920 - S. 94-95 [Datei auf archive.org] [No. 89 List of Persons, who from 1734-1744 foolishly left the parish Wyach to go to other strange Countries; laut Faust auf den 14. April 1744 datierte Liste des Weiacher Pfarrers Wolf.]
- Heinrich Henry Baumgardner, 30 June 1695–1763. Datensatz LZMC-QYZ auf ancestors.familysearch.org
- Anfragen David Randall Wilson an Stefan Arnold, Gemeindepräsident Weiach, vom 31. März und 24. April 2023 mit Beilagen (Stammbaum).
- Fotos 1. Mai 2023 von David Randall Wilson und Linette B. Wilson, Riverton, Utah, USA.
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