Sonntag, 1. Mai 2011

Die Brodtaustheilung 1795 und 1796

Gestern wurde auf WeiachBlog erklärt, wie Johann Conrad Fäsi, Professor der Geschichte und Erdbeschreibung, als Toter noch wissenschaftliche Artikel schreiben konnte. Heute spüren wir der Weiacher Geschichte in der dort erwähnten «Bibliothek der schweizerischen Staatskunde, Erdbeschreibung und Litteratur» von 1796 nach.

Das von Google Books am 28. April 2010 digitalisierte Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek enthält auf den Seiten 785-793 den Artikel «Brodtaustheilungen im Canton Zürich in den Jahren 1795 und 1796», den der mutmassliche Herausgeber und Sohn von Professor Fäsi, Johann Kaspar Fäsi sen. (1769-1849) verfasst hat (vgl. Quellen unten).

Staatlich garantierte Höchstpreise für Getreide

Fäsi erklärt in diesem Artikel, welche Art von wirtschaftlicher Landesversorgung die Zürcher Obrigkeit als Nachfolgerin der mildtätigen Klöster betrieb:

«In die gleiche Classe [gemeint: der Wohltaten gegenüber den eigenen Untertanen], wie die Leibeigenschaftsbefreyung der Solothurnischen Regierung gehören, die Brodtaustheilungen, welche die Zürcherische Regierung bey jeder Theurung der ersten Lebensbedürfnisse Ihren Angehörigen angedeyen ließ.

Schon im Jahr 1540, also zu einer Zeit wo das Magazinieren noch unter die grösten Seltenheiten gehörte, sammelte man in Zürich einen beträchtlichen Getreydvorrath den man von Zeit zu Zeit, theils durch Ankauf, theils durch die Natural-Einkünfte vom Kornmarkt vermehrte, und dadurch in den Stand gesetzt wurde, verschiedene Mahle schon im vorigen Jahrhundert, Bürger und Landleute, durch Ueberlassung von Getreyde in geringen Preisen zu unterstüzen.

In diesem Jahrhundert suchte die Regierung vornemlich in den Jahren 1712, 1713, 1739, 1749, 1770, 1771, 1772 und 1789 *), theils dadurch, daß sie die geringe Zufuhr der Fremden auf die hiesigen, Wochenmärkte durch eigenes in geringern Preisen erlassenes Getreyde ersetzte, theils durch wöchentliche Austheilung an Mehl, Brodt und Reis, die allgemeine Theurung zu mildern suchte, und auch dießmahl ergreiffe sie ähnliche Maaßregeln.

*) Leser welche etwas mehreres über diese Jahre zu erfahren wünschen , verweise ich nuf Werdmüllers Memorab. Turic., und von Moosen astronomisch-politisch-historisch-kirchlichen Calender von Zürich. T. III.
»

Keine Spekulation mit Grundnahrungsmitteln

Die Regierung übte also eine preisstabilisierende Funktion aus, indem sie bei Bedarf eigenes Getreide zu tiefen Preisen auf den Zürcher Markt warf. Faktisch garantierte der Zürcher Staat einen Höchstpreis. Soziale Unruhen als Folge von Preisschwankungen konnten so verhindert werden:

«Sobald der Preis 1794 über 8 fl. stieg, wurde dem Oberkeitlichen Comite, welchem die Aufsicht über den wöchentlichen Getreydemarkt aufgetragen ist, Vollmacht ertheilt, je nach Beschaffenheit der Umständen, ein grösseres oder geringeres Quantum von Getreyde aus den öffentlichen Vorraths-Häusern zu nehmen, und dasselbe den Müllern und Bäckern aus der Stadt und der Landschaft, welche ihr wöchentliches Bedürfnis genau angeben mußten, in solchen Preisen zu überlassen, daß sie den Mütt Mehl um 9 fl. geben konnten.

Durch diese Hülfe galt also ein Brodt von 2 Pf. [Pfund] im Canton Zürich nicht mehr als 9 ß. da es hingegen zu gleicher Zeit anderwärts 15 und 16 ß. kostete.
»

Anmerkung zur Geldeinheit: 1 Gulden (fl.) war in 40 Schilling (ß.) unterteilt.

Sparen angesagt: Höchstpreise nur noch für wirklich Bedürftige

Diese Staatseingriffe kosteten enorm viel, denn das Getreide war natürlich für alle Käufer günstig - auch für diejenigen, die sich höhere Preise durchaus leisten konnten. Deshalb änderte man das System der staatlichen Maximalpreise so ab, dass es von März 1795 an nur noch für die wirklich darauf Angewiesenen galt:

«Indessen zeigte doch die Erfahrung, daß durch dieß Hülfsmittel die öffentlichen Vorräthe (besonders da die fremde Zufuhr immer mehr abnahme) allzusehr erschöpft werden könnten, daher wurde vom 24 Merz an[Anno] 1795 nur bey ausserordentlich geringer Zufuhr oberkeitliches Getreyde auf dem Kornmarkt verkauft, hingegen wurde an gedachtem Tage mit der Austheilung von Mehl, Brodten und Reis der Anfang gemacht.

Zu diesem Ende mußten die Herren Pfarrer ein genaues Verzeichniß 1) der in ihrem Kirchspiele anwesenden Personen, und 2) der bedürftigen Haushaltungen und Seelen eingeben. — Jeder Person wurde nun wöchentlich entweder 2 Pf. Mehl, oder ein Brodt von 2 Pf. am Gewicht oder 2 Pf. Reis um 6 ß. überlassen. Alle Wochen wurde ein Tag festgesezt, an welchem das Quantum für eine Gemeinde abgehollt, und die Bezahlung dagegen eingeliefert werden mußte.
»

Gute Ernten: Unterbruch der Nahrungsmittelhilfe

Dass die Abgabe von subventioniertem Mehl, Broten und Reis nur als Überlebenshilfe und zur Linderung der grössten Not gedacht war, zeigt Fäsi ebenfalls auf:

«Die Austheilung daurte vom 24ten Merz bis zum 28 August 1795 mithin volle 23 Wochen, während welchem Zeitraum (...) Summa. Mt. Mehl 14743, Brodt 187979, Reis Pf. 40664, An Werth 119704 fl. 26 ß ausgetheilt wurden.

Wegen der reichlichen Getreyd-Erndte, und dem noch reichlichern Ertrag der Kartoffelfelder wurde mit der Austheilung erst wieder den 3ten May 1796 der Anfang gemacht, und fünfzehn volle Wochen (bis den 9ten August) fortgefahren. In diesem Zeitraum wurden in gleichem Preise wie das vorige Jahr, 36048 Armen 10'905 Mütte Mehl, 95'170 Brodte, und 18'900 Pf. Reis ausgetheilt, deren Werth 111'108 Gulden betrug.
»

Die eingebrachte Ernte reichte also bei den Bedürftigen trotz guter Ernten nur grad bis in den Frühsommer. Dann war bereits wieder Nothilfe nötig.

«Mt.» steht übrigens als Abkürzung für das Getreidemass «Mütt», wobei dieses selbst innerhalb des Zürcher Gebiets höchst unterschiedlich war:
  • Winterthur: 1 Mütt = 4873 Pariser Kubikzoll = 96 2/3 Litre
  • Zürich: 1 Mütt = 4140 Pariser Kubikzoll = 82 Litre
  • Eglisau: 1 Mütt = 4646 Pariser Kubikzoll = 91 31/40 Litre
(Quelle: Wikipedia-Artikel Mütt). Es ist also nicht ganz klar, um welches Mütt es bei dieser Rechnung ging. Das der Stadt Zürich mit 82 Litern Fassungsvermögen?

Für jeden Bedürftigen genau gleich viel Geld

Schliesslich liefert der Autor auch noch Zahlen auf Gemeindeebene: «Ich füge hier die Austheilungs-Tabelle vom Jahr 1795 bey, weil dieselbe zugleich eine genaue und zuverläßige Angabe aller anwesenden Einwohner der Landschaft Zürich enthält (...)»

Auf Seite 792 findet man unter Nr. 144 auch die Ortschaft Weyach:


Zahl d Einwoh.: 544
Zahl d Bedürf.: 180
Mehl: 3 Mtt.
Brod: 50 [Stck.]
Reis: 20 Pf.
Werth: 27 fl. -- ß


Wenn man nachrechnet stellt man fest: Ein Drittel (!) der vor Ort anwesenden Bevölkerung von Weyach (180 von 544) galt offiziell als bedürftig, war also unverschuldet in Armut geraten und nicht in der Lage diesen Zustand zu ändern. Heute würde man dieses Drittel wohl «Working Poor» nennen.

Was bei einem Vergleich der Zahlen zwischen den Gemeinden ebenfalls auffällt: Pro bedürftige Person gab es 1795 aus staatlichen Mitteln überall genau die gleiche Unterstützung, nämlich 6 Zürcher Schilling, entsprechend 0.15 Gulden.

Diese Lieferungen erhielten die Gemeinden übrigens nicht automatisch. Sie mussten die Subventionen beantragen. Sonst gab es nichts.

Quellen
  • Fäsi, J. C.: Johann Conrad Fäsis [...] genaue und vollständige Staats- und Erd-Beschreibung der ganzen Helvetischen Eidgenossenschaft, derselben gemeinen Herrschaften und zugewandten Orten. 2. und verbesserte Aufl.; Band 1-4, Zürich 1765-1768 - Bd. 1, S. 311. (vgl. erste Zitierung in den «Mitteilungen für die Gemeinde Weiach», Juli 2009: «Die Collatur gehört dem kleinen Rath zu Zürich». Weiach in Standardwerken von 1742 bis 1820. Weiacher Geschichte(n), Nr. 116; Gesamtausgabe S. 482)
  • Fäsi, J. C. (formell): Bibliothek der schweizerischen Staatskunde, Erdbeschreibung und Litteratur. Dritter Band, mit Johann Conrad Fäsis Bildniß. IX Stük. September 1796. September, October, November und December. Zürich, Im Verlag des Herausgebers, 1796 [Eigentlicher Herausgeber war wohl der Sohn des Genannten, der Geograph und Historiker Johann Kaspar Fäsi sen.].

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