Samstag, 16. Dezember 2017

Auffällig! 400 Jahre Weiacher Konkursverordnung

Die Gemeinde Weiach lag über Jahrhunderte sozusagen zwischen zwei konkurrierenden Staaten, dem Stadtstaat Zürich und dem Fürstbistum Konstanz. Aufgrund dieser vertikal geteilten Souveränität (niedere und hohe Gerichtsbarkeit) gab es immer wieder Streitigkeiten. So auch über die Frage, wer Betreibungs- und Konkursangelegenheiten zu regeln habe und auf welche Weise (nach welchen Rechtsgrundsätzen und durch welche Amtsträger). Denn das war im «Vertrag umb die grichtsherrligkeit zuo Wyach» von 1576 und dem Zusatz von 1604 nicht geregelt.

Nachdem sich deshalb «von wegen der verfertigung der uffälen» (uffälen = Konkurse) «die jar hero spänn und mißverstendtnußen erhept» (spän = Streitigkeiten) kamen die Amtsträger der niederen und der hohen Gerichtsbarkeit, also der fürstbischöflich-konstanzische Obervogt zu Kaiserstuhl und die zürcherischen Obervögte des Neuamts (jeweils in Doppelbesetzung) zu Verhandlungen zusammen und schlossen einen Vergleich, der am heutigen Datum vor genau 400 Jahren, dem 16. Dezember 1617 besiegelt wurde.

Diese Auffallordnung von 1617 ist als Nr. 192 des Bandes Neuamt aus dem Jahre 1996 letztmals im Druck erschienen (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen in der I. Abteilung über den Kanton Zürich).

Betreibungsverfahren vs. Konkursverfahren

Wie man der Urkunde entnehmen kann, beharrten die Zürcher auf ihrer Ansicht, dass sie als hochgerichtliche Obrigkeit grundsätzlich für Konkurse zuständig seien, da dies auch in Malefitz-Sachen (Recht zur Aburteilung von Kriminalverbrechen) zutreffe. Damit konnten sie sich durchsetzen, wohl auch weil sie der niedergerichtlichen Seite, also dem Fürstbistum Konstanz, Zugeständnisse machten.

Nach der Präambel wird nämlich eine Art Vorverfahren zum Konkurs geregelt. Wenn eine in Weiach ansässige Person auffällig wurde, ihre Schulden also nicht bezahlen wollte oder konnte, dann wurde erst einmal der fürstbischöflich-konstanzische Obervogt tätig, der zusammen mit seinem Amtsschreiber und im Beisein von zürcherischen Amtsträgern eruieren musste, «ob einer mit synem hab und guot synen ansprecheren mit der bezalung khönne begegnen». Wenn der Kaiserstuhler Obervogt feststellte, dass die Person nicht überschuldet ist, sie also sämtliche Forderungen begleichen kann, ohne dass ein Gläubiger dabei finanziell zu Schaden kommt, dann - und nur dann - hatte er die Kompetenz die Angelegenheit rechtsgültig zum Abschluss zu bringen. [Hinweis: Darüber, nach welchen Regeln - fürstbischöflichen oder zürcherischen - dieses Verfahren abzulaufen hatte, wird nichts gesagt. Es kann aber sein, dass implizit klar war, dass die nachstehenden Regeln mutatis mutandis ebenfalls Gültigkeit hatten].

Anders sah das aus, wenn «hab und guot zuo bezalung syner schulden nit gelangen möchte», sobald also mutmasslich nicht alle Gläubiger befriedigt werden konnten. In diesem Fall musste der Kaiserstuhler Obervogt den Fall dem gerade amtierenden zürcherischen Obervogt im Neuamt übergeben, der dann zusammen mit seinem Landschreiber ein ordentliches Kollokationsverfahren (wie man das heute wohl nennen würde) einleiten musste. Das beinhaltete den Schuldenruf von der Kanzel («die schuldvorderer durch die kilchenrueff zesammen berueffen») und die Einleitung der Bevogtigung von Hab und Gut des Schuldners (ähnlich wie heute das Konkursamt die Kontrolle übernimmt).

Der Entscheid den Konkurs zu eröffnen, musste im Beisein des Kaiserstuhler Obervogts sowie des Weibels (unklar ob derjenige der hohen oder der niederen Obrigkeit gemeint ist) sowie zweier Richter von Weiach erfolgen. Als Schauplatz einer Konkurseröffnung bot sich daher das Dorfgericht Weiach an, denn da waren die Genannten von Amtes wegen regelmässig zugegen.

Weiachspezifische Verfahrensregelung

Auch der Ablauf des Konkursverfahrens - insbesondere die Rangfolge der Gläubiger - bestimmte sich in Weiach weder nach dem Recht der Grafschaft Kyburg (bzw. des Neuamts) noch nach dem Recht des Amtes Kaiserstuhl (wo auch Weiach seit 1295 mit den niederen Gerichten zugehörig war), sondern nach der Auffallordnung, einem Mix aus für diesen Fall festgelegten Regeln:

Der Neuamts-Obervogt konnte das in Konkurs gefallene Gut «wo von nöthen verkhauffen laßen», verwaltete den Erlös und musste über den Verbleib Rechenschaft ablegen (Art. 1).

Interessant ist nun der Vergleich mit unserem heutigen Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, insbesondere die Festlegung der Rangfolge der Forderungen wie in den nachstehenden Absätzen beschrieben. Damals wie heute hatten die Grundpfandgläubiger eine herausragende Stellung.

Zuerst kommen Verfahrenskosten und Grundpfandschulden

Aus dem Erlös wurden erst einmal die Kosten des Konkursverfahrens gedeckt (Art. 2). Danach folgten «alle grund- und bodenzinß, jtem brief und sigel mit genambseten underpfanden, und je der elter brief dem jüngern vorgahn». In der Regel konnten jedoch lediglich drei fällige Jahreszinsen geltend gemacht werden, es sei denn, dass einem Gläubiger (wohl durch den Schuldner) schriftlich mehr Rechte zugesichert worden waren (Art. 3).

Das Verfahren war also ähnlich wie heute, wo Grundpfandverschreibungen nach ihrem im Grundbuch eingetragenen Rang befriedigt werden. Denn nun folgten bereits Schuldverschreibungen aller Art (also auch Grundpfandschulden), «dieselben soll man uß dem, das ab jren pfanden erlößt, bezalen» (Art. 4), also dem Verkaufserlös z.B. eines Stück Ackerlandes, auf dem die Verschreibung lastete.

Eigengut der Ehefrau folgt Kaiserstuhler Recht

Im nächsten Rang folgten «eigen und erb», also Eigengut und noch nicht ausbezahlte Erbansprüche (Art. 5). Im Gegensatz zur Regelung in der Grafschaft Kyburg aber, wo Ehefrauen unter diesem Artikel ihr eingebrachtes Eigengut hätten beanspruchen können (dafür aber in Erbsachen hinantstehen mussten), galt in Weiach das Amtsrecht von Kaiserstuhl, nach dem die Ehefrau ihren Gatten beerbte, dafür aber im Konkursverfahren auch mithaftete (Art. 6, nachfolgend im Wortlaut):

«Wiewol nun nach der grafschafft Kyburg [...] rëchten die wyber mit jrem zuogebrachten guot daruf volgen theten, und aber zuo Wyach und jm ambt Keißerstuol nach altem bruch und herkhommen die eementschen einanderen eerbend und für einanderen bezalen müßend, so soll es deßhalber hierby belyben, unnd die eewyber mit jren ansprachen nebent sich zestahn schuldig syn.»

Hier wurde den Weiachern das hergebrachte Recht belassen, wohl auch deshalb, weil der Fürstbischof aufgrund seines bereits seit 1295 bestehenden Niedergerichtsrechts auf den älteren Rechtsanspruch pochen konnte.

Ein besonderer Absatz (Art. 7) ist den Vogtkindern, d.h. den Mündeln gewidmet. Es handelt sich dabei wohl um Kinder, denen der Konkursit Vormund war. Nur so ist der Satz zu verstehen, wonach Mündel «umb das, so der vogt jnen uß dem jrigen verthaan» entschädigt werden müssten.

Der Staat bekommt seine Steuern

Erst im Artikel 8 - aber noch vor vielen anderen Gläubigern - kommen die «hohen und nideren grichtsherren» mit ihren Steuer- und Bussenforderungen zum Zug: «Darnach die herren von Zürich wie auch der nider grichtsherr umb das, so jnen by vogtstüren, abzügen, umbgelt, buoßen und anderen derglychen gfellen ußstehndig.»

Mitarbeitende mündige Kinder sind erst jetzt dran

Direkt nach den staatlichen Forderungen sind Lidlöhne fällig (Art. 9: «unverjarter lidlohn»). Vgl. zum Begriff den Art. 334 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) von 1912: «Mündige Kinder oder Grosskinder, die ihren Eltern oder Grosseltern in gemeinsamem Haushalt ihre Arbeit oder ihre Einkünfte zugewendet haben, können hiefür eine angemessene Entschädigung verlangen». Schuldner nach dem Zivilgesetzbuch war das Familienoberhaupt und der Anspruch konnte erst bei dessen Tod oder im Falle des Konkurses geltend gemacht werden. Damit wurden kapitalschwache Landwirtschaftsbetriebe privilegiert, ähnlich der Regelungen im heutigen Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht (BGBB).

Ab dem bluomen bezahlt

Ebenfalls unter dem Lidlohn werden die übrigen Mitarbeitenden auf dem Landwirtschaftsbetrieb aufgeführt, desgleichen Handwerker (explizit genannt: «schmid, wagner und ysenman»), die für den Betrieb Arbeiten erledigt hatten. Sie wurden «ab dem bluomen, daruf sy gearbeitet» entschädigt. Der bluomen war der Bodenertrag. In diesem Fall beschränkt auf den Jahresnutzen («und was desselben jars rechtmeßiger wyß uferloffen»). Für den Fall, dass jemand weder Äcker noch nennenswerten Ertrag hatte, wurde bestimmt, dass es sich bei der Forderung dann um eine Schuld und nicht um einen Lidlohn handle.

Eine ähnliche Regelung wurde in Artikel 10 getroffen für geliehenes und ausgebrachtes Saatgut sowie zur Verfügung gestellten Rindermist. Der Verleiher solle «uß dem bluomen jm veld desselben jars gewachßen bezalt werden».

Die einzige Ausnahme von dieser Bluomen-Regel wird übrigens im Art. 15 genannt, wo es darum geht, das «hoüw, strauw und buw jnn einem uffal bim hof verblyben sölle». Wenn also ein Landwirtschaftsbetrieb in der Konkursmasse war, dann gehörten Heu und Stroh, die auf dem Land des Betriebs gewachsen und zum Zeitpunkt des Konkurses noch vorhanden war (also auch solches vom Vorjahr), desgleichen der Mist auf dem Stock, demjenigen, der den Hof aus der Konkursmasse erhielt, «also das er annderen gelten darfür ützit zegëben ald abtrag zethuond nit schuldig syn.». Der Erwerber musste dafür also niemanden entschädigen.

Geliehenes Geld und Zehrgeld

Im 10. Rang folgten zinslose Gelddarlehen, sowie Früchte (wie Korn o.ä.), die «fürgestreckt»  worden waren und die man ursprünglich im Verhältnis 1:1 wieder zurückgeben wollte. Im gleichen Rang waren verzinsliche Darlehen, sowie Früchte und Esswaren, «die uff gwün fürgesetzt», also zum Zwecke der Gewinnerzielung überlassen worden waren. Schliesslich auch laufende Schulden, die mit «brief und sigel» belegt werden konnten (Art. 11). In Artikel 13 wird dann noch das Zehrgeld erwähnt. Alle diejenigen, denen der Konkursit noch solches schuldig war, sollten nicht mehr «dann zëchen schilling nach luth der herren von Zürich mandaten» erhalten. Ausgenommen von der Begrenzung waren Zehrgelder, die in Rechtsstreitigkeiten und Erbteilungen aufgelaufen waren.

Nachlassdividende mit Pferdefuss?

Alle übrigen Forderungen wurden in den letzten Rang verwiesen: «Unnd so dann noch etwas überig und verhanden were, söllen alle die, denen man noch gelten soll, zuosammen stahn und das under einannderen nach anzal eines jeden schuld und ansprach abtheilen, so vehr das gelangen mag.». Wenn also noch etwas übrig war, dann sollte eine Gläubigerversammlung einberufen werden.

In diesem Punkt kommen nun allerdings wieder die alten Rechte zum Vorschein, heisst es doch gleich anschliessend und einschränkend: «Jedoch mit diser erlütherung unnd underscheidt, diewyl das dorf Wyach von alterhar jnn das ambt Keißerstuol, wie vorgemeldet, diennet, so sölle es mit dem vor- und nachgahn der bezalung halber jnn einem uffal, was die gmeinen lauffenden schulden anthrifft, also gebrucht und disere ordnung gehalten werden, namblich, das jnn der bezalung allwegen jnn jeder linien luth der ordnung den vorgang haben, 
[1.] erstlich die ynseßen deß dorfs Wyach,
[2.] demnach fürs ander söllint die ynseßen der vogty deß Nüwen Ambts, deßglych die burger zuo Keißerstuol unnd die jnwohner der übrigen vier jnns ambt Keißerstuol auch gehörender dörferen Tengen, Herderen, Lienheim und Nidervißibach, alle gmeinlich zuoglych zesammen jnn ein linien nebent einannderen, je nach dem einer recht hat, gestelt werden;
[3.] denen nach die burger zuo Zürich,
[4.] darufhin derselben underthonnen,
[5.] und dann fürs letst die frömbden.»

Es gab also innerhalb dieses letzten Ranges nicht weniger als fünf Klassen (Weiacher, Neuamts- und Kaiserstuhler Amtsangehörige, Zürcher Bürger, Zürcher Untertanen aus anderen Vogteien und Ausländer, also auch solche aus anderen Gebieten des Fürstbischofs)! Je näher jemand an Weiach dran war, desto eher hatte er noch etwas zu erwarten. Denn wenn bereits mit den Forderungen der Weiacher die vorhandenen Mittel aufgebraucht waren, dann gingen Auswärtigere wohl leer aus. Oder wurde hier - wie heute üblich - eine Nachlassdividende, also ein Forderungsteilverzicht vereinbart?

Welches Konkursamt ist zuständig?

Abschliessend wird unter dem Titel «Wer die brief, so jnn einem uffal zemachen, schryben sölle» festgelegt, dass das notarielle Instrument bei Handänderungen von Grundstücken, der «khauffsvertigungbrief», durch den «ambtsschryber wie von alterher» erstellt werden solle. Dabei muss es sich um den Kaiserstuhler Amtschreiber gehandelt haben, «da die khoüff vor gricht zuo Wyach wie brüchig gefertiget werdent» - und bei diesem Gericht hatten fürstbischöfliche Amtsträger das Sagen.

Auch hier behielten sich Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich eine Extrawurst vor. Im Konkurs erfolgende Eigentumsübergänge für Erblehenhöfe und -Grundstücke durften nicht durch die fürstbischöflichen Amtsträger gefertigt werden, wenn diese «von gmeiner statt Zürich clösteren und embteren oder dem spital daselbst lehen» seien. Solche Geschäften mussten in Zürich «vor den rechenherren oder pflägeren deß spitals jnn der statt Zürich wie bißher brüchig gefertiget und verbriefet werden». Und weil in Weiach seit der Reformation eine ganze Reihe von Höfen und Grundstücken dem Almosenamt und weiteren staatlichen Institutionen gehörten, war diese Einschränkung keineswegs eine bloss theoretische, sondern von grosser praktischer Bedeutung.

Dazu kam dann noch eine weitere Einschränkung: Auch Lehen, die nichts mit dem Zürcher Staat zu tun hatten waren von einer Sonderregelung betroffen! Da durfte zwar das «gricht zuo Wyach wie von alter und bißher fertigen unnd daselbst die khauff- und vertigungsbrief ufrichten laßen», musste aber sicherstellen, dass den jeweiligen Lehenherren ein Vorkaufsrecht eingeräumt wurde und - wo sie dieses nicht ausüben wollten, sich deren Einwilligung zur Handänderung geben lassen. Ohne diese seien solche Fertigungen ungültig, heisst es in der Urkunde.

Zuletzt steht da noch die Bestimmung, welche im Bezug auf die Errichtung von Schuldbriefen im Zusammenhang mit Konkurserledigungen in Weiach die heutige Notariatssituation vorwegnimmt. Für Grundstücke in Weiach muss man ja heute das Notariat in Niederglatt aufsuchen - und dieses war früher die Landschreiberei des Neuamts: «Was dann an schuldbriefen von khoüffen her jnn einem uffal zemachen weren, die söllent einem landtschryber der vogty deß Nüwen Ambts zeschryben zuo stahn und gehören». So schiebt man seinen Amtsträgern Einkommensquellen zu.

In der Fertigungsformel zum Schluss der Urkunde über die Weiacher Auffallordnung bezeugen die Siegler, der Fürstbischof und der Zürcher Rat, dass «wir darjnnen nützit unzimblichs noch dem gmeinen rechten und alten brüchen und herkhommen dero von Wyach ungemeß syn befinden khönnen».

[Veröffentlicht am 3. März 2019 um 02:02 MEZ]

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