Auf der Website der politischen Gemeinde wendet sich der Präsident an die Weycherinnen und Weycher und fordert sie dazu auf, einen Beitrag an die 750-Jahr-Feier des Jahre 2021 zu leisten (vgl. Screenshot).
Falsche Fährte
Einleitend schreibt Stefan Arnold: «In einer Urkunde aus dem Jahre 1271 wird Weiach erstmals erwähnt.» In diesem Satz sind gleich zwei Quellen für Fehlinterpretationen enthalten.
(1) Dass es sich bei der «erstmaligen Erwähnung» eigentlich um die «älteste erhalten gebliebene Nennung» des Ortsnamens handelt, habe ich bereits mehrfach angemerkt (vgl. dazu u.a. Weiach - Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes, 6. Aufl., S. 20).
(2) Auch auf die Frage, ob es sich bei dem sozusagen als Weiacher «Geburtsurkunde» gehandelten Dokument tatsächlich um eine Urkunde im eigentlichen Sinn handelt, bin ich schon eingegangen: «Ebensolche Vorsicht muss man walten lassen, wenn es um die Frage geht, ob es sich bei dieser Erstnennung überhaupt um eine Urkunde gehandelt hat.» (vgl. WeiachBlog Nr. 453, 11. Mai 2007 mit Ergänzungen von 2016 und 2017).
Dem Gemeindepräsidenten kann man keinen Vorwurf machen, denn fast alle Quellen, die die Jahrzahl 1271 nennen, stossen in dieser Angelegenheit ins gleiche Horn, so dass natürlich auch im geschichtlichen Porträt auf der Website der Politischen Gemeinde (Porträt -» Geschichte) der Satz: «Erstmals wurde Weiach 1271 urkundlich erwähnt.» zu finden ist.
In diesem Beitrag zeige ich die Überlieferungsgeschichte auf und erläutere, weshalb die Bezeichnung «Urkunde» auf die falsche Fährte führt und folgerichtig vermieden werden sollte.
Ein Urbar im Urkundenbuch
Am Anfang der Missverständnisse steht das «Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich», herausgegeben von der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich zwischen 1888 und 1957, konkret dessen Band 4, erschienen zwischen 1896 und 1898. Auf S. 165 wird unter Nr. 1459 auszugsweise aus einem Einnahmenverzeichnis der Fraumünsterabtei Zürich zitiert, das heute unter der Signatur «StAZH C II 2. Nr. 79 e» im Staatsarchiv des Kantons Zürich (StAZH) aufbewahrt wird: «Iohannes dictus Brotpeko de Cheiserstůl I den. de bonis suis in Wiâch, que comparavit a Ia. dicto Gêbi.» (vgl. die roten Kasten)
Ein Einnahmenverzeichnis wird auch als Urbar bezeichnet. Der Name leitet sich vom althochdeutschen «urberan» bzw. dem mittelhochdeutschen «erbern» (hervorbringen, Ertrag bringen bzw. ertragbringendes Grundstück) ab (vgl. Historisches Lexikon der Schweiz, Artikel Urbare, Stand: 14. Januar 2014). Urbare entfalten zwar Rechtskraft und die Informationen darin wurden in der Regel von den Bewirtschaftern der fraglichen Grundstücke auch unter Eid erhoben. Es handelt sich jedoch technisch gesehen um Akten, also Verwaltungsschriftgut.
Eine Urkunde hingegen zeichnet sich in der Regel durch eine bestimmte (oft formelhafte) Sprache aus, sie nennt die Beteiligten und den geregelten Gegenstand in der gebotenen Ausführlichkeit (damit jedem Dritten klar ist, worum es sich handelt und worüber die Beteiligten sich verständigt haben). «Zentraler Bestandteil der Urkunden», so Anne-Marie Dubler im Historischen Lexikon der Schweiz sei «die Beglaubigung (z.B. durch ein Siegel oder eine Unterschrift), welche ihnen erst rechtl. Beweiskraft verleihen. Durch diese unterscheiden sich die Urkunden von anderen Quellengattungen wie Akten, Briefen oder persönl. Aufzeichnungen.» (e-HLS, Artikel Urkunden, Stand: 14. Januar 2014).
Selbst wenn man die Definition des Duden für den Begriff Urkunde heranzieht, wird diese als «[amtliches] Schriftstück, durch das etwas beglaubigt oder bestätigt wird; Dokument mit Rechtskraft» bezeichnet.
Dem Urbar-Eintrag zu Wiach, einer simplen Notiz in einem Verzeichnis der Fraumünsterabtei, geht der Beglaubigungscharakter vollständig ab. Bei diesem Einnahmenverzeichnis handelt es sich daher ganz eindeutig NICHT um eine Urkunde.
Nur leider wurde 1896 ein Ausschnitt aus diesem Urbar ausgerechnet im Zürcher Urkundenbuch aufgenommen. Womit - verständlicherweise - die Annahme, es handle sich auch bei diesem Dokument um eine Urkunde, naheliegend war (und ist).
Ab den 60er-Jahren verbreitete Legende
In Heimatbüchern, die sich (ausschliesslich oder unter anderen) der Gemeinde Weiach widmen, wird die Legende von der Urkunde, in der Weiach erstmals erwähnt sei, seit den 1960ern verbreitet.
1962 steht in Band V der sogenannten Bezirkschroniken des Kantons Zürich (bearbeitet von Paul Nussberger und Eugen Schneiter) noch der einfache Vermerk: «1271 wird das Dorf Wiach genannt».
Der damalige langjährige Gemeindepräsident Albert Meierhofer-Nauer hat im September 1963 in seinem ortskundlichen Abschnitt im Buch «WEIACHER KIES (red. von E. Mühlheim, Stäfa 1963) mit dem Satz «In alten Urkunden wird das Dorf Weiach erstmals 1271 genannt» sozusagen den Startschuss gegeben. Von da an ist die Urkunde treuer Begleiter der Jahrzahl.
Emil Maurer sekundiert in seiner Monographie «Die Kirche zu Weiach» (mutmasslich 1965 publiziert) mit: «Der Ortsname «Wiach» wird erstmals im Jahre 1271 urkundlich erwähnt.»
In seiner Bundesfeieransprache vom 1. August 1971 verfestigte (gemäss Redemanuskript) alt Lehrer Walter Zollinger die Urkundenlegende mit der Formulierung: «Der Name Weiachs oder wie er vor alten Zeiten lautete, Wîach, tritt soweit bis jetzt bekannt ist, erstmals in einem Kaufbrief aus dem Jahre 1271 auf.» - Ähnlich äussert sich Zollinger in der 1. Auflage seiner 1972 erschienenen Monographie Weiach 1271-1971. Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach: «Erstmals findet sich der Name Weiachs in einem lateinisch verfassten Kaufbrief aus dieser Zeit, nämlich im Februar 1271, erwähnt.»
Nur der Schatten einer Urkunde
Ein Kaufbrief ist eine Urkunde, da besteht kein Zweifel. Die Überlieferung im Einnahmenverzeichnis der Fraumünsterabtei nimmt Bezug auf einen (im 13. Jahrhundert wohl vorhandenen) Kaufvertrag zwischen Johannes, «genannt Brotbeck von Cheiserstuol» (Käufer) und Jacobus, genannt Gebi (Verkäufer).
Wir stellen also fest: Die älteste noch vorhandene Erwähnung des Ortsnamens Wiach findet sich in einer Aktennotiz zu einer Urkunde. Die Existenz der Urkunde selber kann nur vermutet werden. Es ist fast so wie im berühmten Höhlengleichnis aus der klassischen griechischen Philosophie. Wir Heutigen können nur den Schatten von etwas sehen, das eine Urkunde sein könnte. Der Schatten ist der Eintrag im Einnahmenverzeichnis. Das Objekt, das den Schatten geworfen hat, können wir nur erahnen. Meierhofer-Nauer, Maurer und Zollinger erwecken mit ihrer Formulierung den Eindruck, das schattenwerfende Objekt als Kaufbrief identifizieren zu können. Man könnte fast meinen, das Dokument liege sozusagen mit Brief und Siegel vor uns. Das tut es aber nicht.
Da wir die Originalurkunde nicht kennen (und letztlich nicht einmal wissen, ob es sie je gegeben hat) ist es auch nicht möglich festzustellen, auf welches Jahr die Eigentumsübertragung zwischen Johannes dem Bäcker aus Kaiserstuhl und Jacobus genannt Gebi genau gefallen ist. Fand sie noch Anno 1270 statt? Wenn der Eintrag im Urbar im Februar 1271 erfolgte, dann kann es sehr wohl sein, dass die Transaktion, welche ihn veranlasst hat, Monate zuvor erfolgt ist. Vielleicht auch erst, nachdem die Abtei versucht hatte, den (jährlichen) Denar von Jacobus (oder seinen Nachkommen) einzuziehen und bei dieser Gelegenheit mit dem Eigentumsübergang konfrontiert wurde.
Die Kanonisierung der Legende
In den Adelsstand des Faktischen erhoben wurde die Legende von der Urkunde durch Hillmar Höber in der NZZ: «Der Name Weiach wurde erstmals im Jahre 1271 in einer Urkunde erwähnt.» (Höber, H.: 700 Jahre Weiach. In: Neue Zürcher Zeitung, Freitag, 15. Oktober 1971, Mittagausgabe Nr. 481 – S. 21., vgl. WeiachBlog Nr. 453)
Damit war der Weg vorgespurt. Es ist völlig klar, warum alt Gemeindeschreiber Hans Meier für seinen Beitrag in dem zum Jubiläum 125 Jahre Verein Zürcherischer Gemeinderatsschreiber und Verwaltungsbeamter (VZGV) 1981 publizierten Büchlein «Die Gemeinden im Kanton Zürich» auf S. 269 den Satz «1271 ist Weiach erstmals urkundlich erwähnt.» formulierte, der fortan erst recht zum Selbstläufer wurde.
Und die Geschichts-Seite unter der Rubrik Porträt auf der Gemeindewebsite? Die wurde - leicht überarbeitet - zu weiten Teilen direkt aus dem VZGV-Büchlein übernommen. Auch die Passage mit der urkundlichen Erwähnung (vgl. das Zitat im Abschnitt «Falsche Fährte» oben)
Bescheidenheit hat auch Vorteile
Die «erstmalige Erwähnung» des Namens Wiach findet man also nicht in einem Kaufbrief oder einem anderen erhalten gebliebenen Dokument, das mit Siegeln versehen den Rang einer Urkunde für sich beanspruchen kann. Sondern in einem bescheidenen, leicht zu übersehenden Verwaltungsvermerk.
Eine solche Geburtsurkunde ist dem Charakter der immer auf ihre Eigenständigkeit bedachten Dorfgemeinde auch viel angemessener als jede noch so pompöse Urkunde. Nicht aufzufallen, um von den Mächtigen in Ruhe gelassen zu werden. Das hat für die Weiacher in vielen Jahrhunderten weit besser funktioniert als jeder von Königen und Kaisern ausgestellte Freibrief. Solche Dokumente wurden ja auch gern gefälscht - einfach weil man damit einen Machtanspruch untermauern wollte, wie der Vatikan weiland mit der Konstantinischen Schenkung.
Fazit: Wie wäre es mit der neuen Formulierung: «Die älteste erhalten gebliebene Erwähnung von Weiach in einem Einkünfteverzeichnis der Fraumünsterabtei fällt auf das Jahr 1271.»?
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