Mittwoch, 3. April 2019

«Man höre auch die andere Partei!»

«Audiatur et altera pars» ist ein Kernelement der römischen Rechtsprechung. Das Gericht soll auch die Gegenseite anhören, oder anders formuliert: Beide Seiten sind anzuhören, nicht nur die klagende.

Über den Suizid des Oberstufenschülers Johann Hermann Baltisser, der sich im Spätherbst 1905 in Zürich-Aussersihl ereignete, wurde wohl vor allem in den Zürcher Gazetten berichtet. Ob die Todesursache (der Jugendliche hatte sich mit der Dienstwaffe seines Vaters das Leben genommen) den Ausschlag gab oder nicht: das Ereignis fand auch im «Berner Intelligenzblatt» (intelligenzblatt.unibe.ch) vom 5. Dezember 1905 seinen Niederschlag. In WeiachBlog Nr. 1151 (vgl. Quellen) ist der Volltext dieses Berner Beitrags enthalten. Erziehungsberechtigte und Lehrpersonen kommen darin nicht gerade gut weg.



Mit den Worten im Titel dieses WeiachBlog-Artikels hebt eine Art Gegendarstellung in der zweitletzten Ausgabe der «Zürcher Wochen-Chronik» des Jahres 1905 an (Titelblatt s.oben), die sich zwar eher auf Berichte in der zürcherischen Presse bezieht, die Linie des Berner Artikel aber ebenso kontert. In welche Richtung die Sichtweise der Gegendarstellung tendiert, kann man schon anhand des Rubrikentitels erahnen - einer Vignette mit Schuluniform und Rute:



Baltisser habe bei Pflegeeltern in Aadorf (Kt. Thurgau) keine gute Erziehung erhalten, sei dann zu einem «sehr achtbaren Elternpaar in Weiach» gekommen, dem er «bei seiner bösen Veranlagung saure Tage» bereitet habe.

Nicht erläutert wird in der Wochen-Chronik, ob es sich bei diesem Elternpaar um Verwandte gehandelt hat, was man beim typisch weiacherischen Nachnamen Baltisser aber annehmen muss.

Gezeichnet wird das Bild eines renitenten, absolut respektlosen Jungen, der auf Drohungen, man werde ihn «bei weiterem schlechten Verhalten in einer Anstalt unterbringen» jedesmal gedroht habe, «sich vorher im Rhein ertränken oder erschießen» zu wollen.

Zum Schluss wird dann noch angedeutet, dass sein Sekundarlehrer in Aussersihl noch «weitere Tatsachen» zu berichten wisse, so dass man zur Erkenntnis gelange, es sei für einen Lehrer «ein eigentliches Unglück», «solche Elemente» in die Klasse zu bekommen.

Nachstehend der Originalbeitrag:



Fazit: Erziehungsfragen werden nicht erst heute kontrovers diskutiert. Geändert hat nur der Umstand, dass Name und Herkunft des Jugendlichen heutzutage kaum mehr genannt würden - man denke nur an den «Fall Carlos».

Quellen

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