Der Glattfelder Pfarrer Arnold Näf beschreibt in der 1863 veröffentlichten Monographie über die Geschichte seiner Gemeinde auch die Kriegszeit von 1799/1800. Er erwähnt ausführlich die Plünderungen beider Kriegsparteien und streift die Gefahr für Leib und Leben nur am Rande:
«Einem Manne wurde von einem Kaiserlichen der Kopf zerspalten, weil er nicht ohne Weiteres das verlangte Geld hergab. Sonst werden die Kaiserlichen und Russen im Allgemeinen als freundliche Leute geschildert, während die Franzosen als härter und rücksichtsloser galten.» (Näf, S. 51/52)
Mit den Kaiserlichen sind die Soldaten der Habsburgermonarchie gemeint (meist pauschal als «Österreicher» bezeichnet, obwohl auch Verbände ungarischer und anderer Nationalität zum Einsatz kamen). Beim Sammelbegriff «Russen» ist es ähnlich. Darunter sind Angehörige aller möglichen Völkerschaften des Zarenreichs zu verstehen, einschliesslich sehr fremdländisch aussehende, wie die westmongolischen Kalmücken.
Der Beitrag Nr. 1612 vom letzten Sonntag hätte auch den Titel «Wie die Weiacher die Franzosen hassen lernten» tragen können.
Nachstehend werden weitere Erklärungen für das Phänomen geliefert, dass der eingangs geschilderte Angriff eines Österreichers (der leicht tödlich geendet haben kann und von dem wir nicht wissen, ob er vor ein Kriegsgericht kam) in der Retrospektive offenbar nicht allzu sehr ins Gewicht fiel.
Unterschiedliche Logistik- und Finanzierungs-Konzepte
Ja, auch die Russen haben alles, was ihrer Ansicht nach essbar war, aus Gärten und vom Feld geplündert, so z.B. in der Gemeinde Eglisau: «sie kochten in ihren Töpfen unreife Trauben, Nüsse, Aepfel, Bohnen, Unschlitt, u.s.w. durch einander» (Näf, S. 51). Da scheint es mit dem Nachschub nicht geklappt zu haben.
Anders bei den Kaiserlichen: «Während die Oesterreicher Lebensmittel aus Schwaben und Tirol hatten kommen lassen, nährten sich die 95'000 Franzosen, die jetzt in der Schweiz standen, ganz vom Raub», notiert Nägele 1979 (Separatdruck, S. 8).
Wer dafür verantwortlich war, kann man aus erster Hand erfahren. Aus Briefen, die C.N. Morin, ein französischer Zivilist, der zum Hauptquartier der Armée de l'Helvétie abkommandiert worden war, 1799 aus der Schweiz an seine Kontaktpersonen nahe der Pariser Machtzentrale geschrieben hat.
Diese Briefe stammen aus der Autographen-Sammlung des Genfers Henri Fatio und wurden 1930 von Schlumberger-Fischer in der Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde veröffentlicht.
Sie machen deutlich, dass der erwähnte räuberische Ansatz zur Versorgung der Truppen von den Machthabern in Paris zumindest in Kauf genommen, wenn nicht gar explizit angeordnet worden ist, schreibt Schlumberger-Vischer doch einleitend:
«Les troupes françaises ne s'étaient point bornées à prêter leur aide pour l'institution du nouveau régime.» [Gemeint: die Regierung der jungen Helvetischen Republik]. «Leurs généraux et leurs commissaires recevaient bientôt les ordres de remplir les caisses vides de l'armée par l'imposition de contributions fort lourdes, d'autant plus pénibles que par cette longue occupation le pays se voyait arriver à la fin de ses ressources.» (Schlumberger-Vischer, S. 96)
Herr Morin fragt sich: Sachverhaltsirrtum oder bewusste Täuschung?
Morin, geboren 1768 in Lyon, war offiziell Sekretär von Masséna, im Geheimen aber so etwas wie ein Kriegskommissär mit besonderem Aufgabenportefeuille, der insbesondere dort zum Einsatz kam, wo sich die finanztechnischen Probleme der Revolutionsarmee häuften, so schon 1797/98 als «liquidateur des dépenses arrierées de la guerre» (Schlumberger-Vischer, S. 99).
Er regt sich einem Schreiben von Mitte Juli 1799 darüber auf, dass den französischen Armeen in Helvetien zwar eine Kreditlinie von 900'000 Franc zugesichert worden sei, diese aber alsbald verpuffe, da die Ausgaben um ein Vielfaches höher seien. Keines der Probleme sei gelöst, im Gegenteil. Damit sei die Armée de l'Helvétie keineswegs aus der Krise heraus. Genau das würde aber in Paris behauptet und geglaubt. Und er fragt sich «Se trompe-t-on où veut-on tromper»?
Die dringend benötigten finanziellen Mittel waren in keiner Art und Weise gesichert: «Ils ne sont nulle part.» Und Morin spricht offen von einem Systemversagen (défaut de sistème) auf höchster Ebene in Paris, wobei er nur die Auswirkungen auf dem Territorium der Helvetischen Republik anspricht:
«Comment veut-on compter sur une armée qui est entre la vie et la mort? comment veut-on que le pays ne souffre pas, lorsqu'il est surchargé de troupes qui manquent de tout?»
Schaut halt selber! Wird schon irgendwie gehen.
Und das hat einer geschrieben, der damals wirklich direkt an der Quelle sass. Mit unmittelbarem Zugang zu den obersten Heerführern, namentlich André Masséna, dem Mastermind der Helvetien-Operation, der zu diesem Zeitpunkt noch etliche Wochen von seinem grössten militärischen Coup entfernt war, der Zweiten Schlacht von Zürich am 25./26. September.
Die Ratlosigkeit, die aus Morins Zeilen spricht, ist geradezu mit Händen zu greifen. Mitte Juli waren die Franzosen seit Monaten nur noch im Krebsgang. Und dass die Front seit Anfang Juni mehr oder weniger eingefroren war, das war vor allem der Passivität ihrer Gegenspieler geschuldet, die sich nicht auf ein offensives Vorgehen einigen konnten. In der Innerschweiz flackerten Aufstände auf. Viele weitere Gegenden der noch besetzten Gebiete Helvetiens warteten nur darauf, gegen die Franzosen loszuschlagen, sodass sie auch dort mit der Aufstandsbekämpfung gebunden gewesen wären. Aber die obersten Entscheidungsträger in Wien und Moskau haben diesen Trumpf aus der Hand gegeben.
Malheureux que je suis!
Masséna selber fürchtete gegen Ende Mai kurz, es sei alles verloren, als er mitten in der Nacht mit der Nachricht aufgeweckt wurde, die Koalition hätte zwischen Koblenz und Kaiserstuhl an mehreren Stellen den Flussübergang über den Rhein geschafft (vgl. den Brief Morins vom 25. Mai 1799, S. 118).
Masséna habe das für eine Falschmeldung gehalten, so Morin: «Ma ligne du Rhin est gardée, l'ennemi n'a pu passe sans se battre, et si l'on se battait j'en serais instruit.» Es stellte sich heraus, dass französische Generalstabsoffiziere den Zusammenfluss von Reuss und Aare mit dem von Aare und Rhein verwechselt hatten, was am 23. Mai zu einem Rückzug von der Rheinlinie geführt habe. Masséna reagierte heftig:
«Malheureux que je suis, s'écrie le général, si l'ennemi a un camp de 8 à 10,000 sur ce point [d.h. am Unterlauf der Aare], la Suisse est perdue, je suis déshonoré, et on pourra à juste titre m'accuser d'avoir vendu la Suisse... après cette exclamation bien naturelle dans la circonstance, il reprend son sangfroid et donne des ordres pour attaquer l'ennemi.»
Dann begann die Gegenoperation: «Le général Tharreau était chargé de culbuter l'ennemi par Coblentz et Zurzach, le général en Chef [d.h. Masséna selber] devait l'attaquer en flanc par Kaysertoul» (gemeint: Kaiserstuhl). Tharreau musste also die Gegner zurückstossen, Masséna nahm sie aus der Flanke in die Zange. Nur 12 Stunden nach dem Alarm, so Morin, sei das südliche Rheinufer wieder fest in französischer Hand und 500 Kaiserliche gefangengenommen gewesen.
Der peinliche Fehler mit der Verwechslung der beiden Zusammenflüsse wurde in der Meldung an die Regierung in Paris tunlichst verschwiegen. Keiner der Beteiligten wollte riskieren, abgesetzt zu werden, was einem höheren Stabsoffizier (vom Brigadier an aufwärts) auch heute noch von einem Moment auf den anderen passieren kann, wenn die politisch Verantwortlichen das Vertrauen in ihn verloren haben.
Auf des Messers Schneide
Wären die Kaiserlichen tatsächlich mit Macht ins Wasserschloss der Schweiz vorgedrungen und hätten sie sich auch auf einem westlichen Brückenkopf auf der anderen Seite der Aare festsetzen können (z.B. bei Döttingen, woran sie tatsächlich gescheitert sind), dann hätte dies die Armée de l'Helvétie in grösste Schwierigkeiten gebracht, ja das Ende der Revolution in Frankreich überhaupt bedeuten können, zumal es auch General Lecourbe im Südosten der Schweiz sehr schlecht lief. Wo die Nachschublogistik in einem Alpental nicht funktioniert und man die lokale Bevölkerung nicht mehr weiter auspressen kann, weil die auch nichts mehr hat, da verhungert einem auch leicht die eigene Truppe.
Und wohlverstanden: das war im ersten Halbjahr 1799. Der sogenannte «Hungerwinter 1799/1800» (vgl. Leuthold in WeiachBlog Nr. 1612) stand den Soldaten und den Einheimischen da noch bevor.
Vom 7. Juni bis 25. September lag die Front auf einer Linie von der Albiskette, quer durch den heutigen Westteil der Stadt Zürich (Albisrieden war in französischer Hand, die Altstadt in der der Koalition), und entlang der Limmat und Aare bis zum Rhein. Östlich dieser Linie hatten auf dem Gebiet der Schweiz die Österreicher, ab 1. September die Russen das Sagen. Und deren Schwäche nutzte General Masséna (Späterer Übername: «L'enfant chéri de la victoire») mit strategischem Geschick, guter Planung und taktischer Überrumpelung innert wenigen Tagen aus.
Wenn sich die Russen und die Österreicher im Sommer 1799 nicht zerstritten hätten, dann wäre die Armee Massénas mit hoher Wahrscheinlichkeit erledigt gewesen. Dank den Erfolgen Soults bei der Aufstandbekämpfung und Lecourbes Eroberung des Gotthards im August wendete sich aber das Blatt. Dann gelang Masséna bei Dietikon auch noch der Übergang über die Limmat (eine militärische Glanzleistung, die auf dem Arc de triomphe in Paris verewigt ist). Ein Scheinangriff bei Zürich verwirrte die Koalition. Und kurz darauf wurden die Russen unter Korsakow überrumpelt und flüchteten überstürzt über den Rhein. Damit rollte die Front Ende September 1799 erneut über Weiach hinweg.
Diese Zweite Schlacht bei Zürich (Vgl. das Gemälde Le général Masséna à la bataille de Zurich, le 25 septembre 1799, par François Bouchot) sprengte letztlich die Koalition, indem die Russen nach diesem und dem Suworow'schen Debakel in den Alpen aus dieser austraten und die Preussen sich ihr nicht anschlossen. Das hat die französische Revolutionsregierung gerettet.
Die Plünderung als staatl. genehmigter Modus operandi
«Masséna gilt bis heute als einer der fähigsten Heerführer Napoleons. Überschattet wird dieses Andenken nur durch die Beutegier des Marschalls, der die von ihm besetzten Gebiete systematisch ausplündern ließ, um sich zu bereichern. Neben Marschall Nicolas Jean-de-Dieu Soult zählt Masséna daher zu den größten Plünderern der Napoleonischen Kriege». So eine Passage im Wikipedia-Artikel über Masséna, die ein Anonymus am 18. Mai 2007 eingestellt hat.
Wann Masséna auch privat angefangen hat, sich als General Raffzahn zu gebärden, das ist nicht ganz klar. Es dürfte sich aber eher um seine Zeit in Süditalien gehandelt haben. Bei General Soult (1799 ebenfalls in der Schweiz im Einsatz) weiss man, dass er seine beträchtliche Gemäldesammlung zusammengestohlen hat (wohl u.a. in Spanien). Was auch immer man von der militärischen Genialität dieser Heerführer sagen mag: Die von ihnen geduldeten Kriegsverbrechen und der Umstand, dass sie als Kleptomanen in Uniform auch in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, all das lastet schwer auf ihrem Ruf.
Aber – und das haben vorstehende Abschnitte und insbesondere die Briefe Morins deutlich gezeigt – solche Typen sind immer auch ein Produkt des Systems, das ihr Emporkommen ermöglicht hat. Wer seine Leute nicht anständig alimentiert, der muss sich nicht wundern. In Paris waren die nämlich kein Haar besser. Wer den von ihnen eingesetzten Generälen an der Front einfach zu verstehen gibt: «Make it happen! Wie, ist uns letztlich egal. Wird schon irgendwie gehen – auch ohne die nötigen Mittel, oder?», der macht sich mitschuldig.
Irgendwie kommt einem das doch sehr bekannt vor. Die Parallelen zu gewissen Bereichen des heutigen Gesundheitswesens sind erkennbar. Resultat sind Zynismus und schliesslich desertierende Einsatzkräfte (Pflexit). Und am Schluss wird dann wieder gefragt, wie das bloss so weit kommen konnte.
Quellen
- Näf, A.: Geschichte der Kirchgemeinde Glattfelden mit Hinweisungen auf die Umgebung. Scheuchzer, Bülach 1863. Neuauflage: Verkehrs- und Verschönerungsverein 8192 Glattfelden 1985 – S. 51-52.
- Schlumberger-Fischer, E.: Lettres de Morin, secrétaire de Masséna, an 7 de la République. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde. Bd. 29 (1930) – S. 95-145.
- Nägele, H.: Die entscheidenden Kämpfe gegen Napoleon im Rheintal. In: Unser Rheintal, 36. Jg., 1979 – S. 57-59. Zitiert nach Separatdruck in der Reihe Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz.
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