Sonntag, 22. November 2020

Weiacher durch französische Soldaten ermordet?

«Der Kanton Baden 1798-1803». So lautet kurz und knapp der Titel der Dissertation von Rolf Leuthold aus dem Jahre 1933. Auf 245 Seiten rollt der Autor die Geschichte dieses helvetischen Verwaltungsbezirks von Frankreichs Gnaden auf. Dieser ging mit der von Napoleon zur Ablösung des gescheiterten Einheitsstaat-Experiments «Helvetische Republik» diktierten Mediationsakte von 1803 im erweiterten Kanton Aargau auf, nachdem bereits 1801 und 1802 beschlossen worden war, ihn aufzulösen (vgl. den Artikel im e-HLS: Baden (AG, Kanton)).

Auf Seite 85 dieses Werks findet man die Passage «Weiacher durch einen Soldaten getötet.» Das lässt natürlich aufhorchen. Was ist da passiert? Einige Gedanken zur Franzosenzeit im Zweiten Koalitionskrieg 1799/1800.

Enttäuschte Hoffnungen bei den Schweizern...

Schon die Alte Eidgenossenschaft war zu grossen Teilen faktisch ein Klientelstaatenbund des französischen Königreichs. Mit der Helvetischen Republik nahm diese Verbindung mit Frankreich eine noch stärker spürbare Form an. Es gab einen Bündnisvertrag und viele Errungenschaften der Französischen Revolution (gute und schlechte) kamen auch in Helvetien zur Anwendung. 

Die französischen Truppen hatten nach der Eroberung der Alten Eidgenossenschaft 1798 die Staatsschätze von Bern und Zürich abgezügelt. Das hätten die Schweizer allenfalls noch verkraften können (auch wenn es unvorstellbare Reichtümer gewesen sein müssen, die da verloren gingen; der Staat Bern hätte beispielsweise in den letzten 200 Jahren keine Steuern erheben müssen!). 

Dass aber sämtliche Hoffnungen auf bessere Zeiten durch die brutalen Härten der Kriegsjahre zunichtegemacht wurden, das nahmen die Untertanen der jungen Helvetischen Republik ihrer Obrigkeit und den Franzosen sehr übel. Auch, wenn viele Hiesige letztlich Opfer der eigenen Naivität geworden waren und sich das nicht eingestehen wollten.

Besonders schön zeigt sich das Problem anhand einer von Leuthold zitierten Eingabe der Munizipalität Albisrieden (also des Gemeinderates) vom Sommer 1799 an die Verwaltungskammer des Kantons Baden (Kantonsverwaltung), die interessanterweise in bestem Französisch abgefasst ist. Albisrieden (das Teil des zürcherischen Distrikts Mettmenstetten war) gehörte kriegsbedingt ein paar Monate zum Kanton Baden, da es den Kontakt zur Zürcher Verwaltung ennet der Frontlinie verloren hatte:

«Nous avouons franchement que les Français font voir des vues toutes contraires au traité d’alliance qui parle presqu’à toutes les pages d’un amour fraternel, d’amitié loyale, d’un traitement honnête… A nos remontrances, à nos plaintes, à nos prières portées aux généraux, aux officiers français, il ne suit d’autre réponse que: Voilà les malheurs de la guerre! Accompagnés alors de leurs plaisanteries malplacées et de leur rires nous pouvons retourner dans nos chaumières, exposés de nouveau à tous les excès.» (Fn-156: EA. 1196, 37. [EA: Eidgenössisches Archiv (Helvetik) Bern])

... resignativer Zynismus bei den Franzosen

Der Gemeinderat von Albisrieden vor den Toren der Stadt Zürich beklagt sich also darüber, dass das Verhalten der französischen Offiziere bis hinauf zu den Generalsrängen so gar nicht zu den schönen Worten und Versprechungen der Revolutionsrhetorik passen wolle. Dass sie auf all ihre Klagen nichts anderes als Achselzucken und den fatalistischen Hinweis: «Das ist halt das Unglück des Krieges» zu hören bekämen, gepaart mit deplatzierten Witzen und Gelächter. So sassen die Albisrieder also in ihren Strohdachhäusern und sahen sich weiterhin den fortgesetzten Übergriffen der französischen Soldaten schutzlos ausgeliefert.

Dass die fremden Offiziere nur noch mit einem Achselzucken reagierten, ist leicht erklärbar, wenn man sich in deren Lage versetzt. 

Für die Mehrheit der in Uniformen gesteckten Franzosen waren bereits die vergangenen zehn Jahre seit der Revolution eine einzige Abfolge von schrecklichen Erlebnissen und Nachrichten. Das war eine Zeit voller Gewalt und Entbehrung, hervorgegangen aus den wirtschaftlichen Problemen des bankrotten Feudalstaats, die in der eigentlichen Revolution von 1789 mündeten, den Jahren des Terrors der Jakobiner, dem Aufstand in der Vendée (unter vielen anderen) und das alles verflochten mit dem Versuch der Koalition der Fürsten, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen (Erster Koalitionskrieg, 1792-1797). Die Antwort darauf war französischerseits ab 1793 die Levée en masse, also die Generalmobilmachung aller nur irgendwie verfügbaren Männer als Wehrpflichtige, sowie der Revolutionsexport, um den Konflikt ins operative oder sogar strategische Vorfeld zu tragen. In den Zweiten Koalitionskrieg (1799-1800) wurde auch das Gebiet der heutigen Schweiz hineingezogen.

Logistikprobleme pur!

Militärische Operationen dieser Grössenordnung verschlingen enorme Mittel, das war damals nicht anders als heute. Anders war vor allem, dass die Logistik sich auf Rüstungsgüter beschränken musste und nicht auch noch für Lebens- und Futtermittelnachschub ausreichte, was die Truppen letztlich dazu verdammte, sich unmittelbar aus den Vorräten des Gebietes zu bedienen, in dem sie sich gerade aufhielten. 

Man kann sich die Probleme am besten anhand der Ersten Schlacht bei Zürich (4.-7. Juni 1799) vorstellen. Die Stadt hatte damals (nach einer Volkszählung der Helvetischen Republik von 1800) rund 10'000 Einwohner, der ganze Kanton Zürich rund 180'000 Einwohner. In Stadtnähe lagerten 30'000 Franzosen und 40'000 Österreicher bzw. Russen. Ein temporärer Bevölkerungszuwachs von rund 40 Prozent. Bei der Zweiten Schlacht um Zürich (25./26. September 1799) waren es sogar noch mehr: 75'000 Franzosen und 60'000 Österreicher bzw. Russen (75 Prozent)! Darauf war die Lebensmittelversorgungsinfrastruktur der damaligen Schweiz nicht ansatzweise vorbereitet.

Und nun versetze man sich in die Stimmungslage eines durchschnittlichen Soldaten. Fern der Heimat in irgendeinem Dreckkaff zu sitzen. Nicht zu wissen, wann man die Heimat wiedersehen wird und ob überhaupt. Und dabei selber von der eigenen Regierung und Heeresleitung auch nicht gerade pfleglich gehalten werden. Da bleiben einem zum Selbstschutz nur noch Zynismus und schlechte Witze angesichts von Klagen der Zivilbevölkerung.

Winning hearts and minds? Forget it!

Das Ziel von Stabilitätsoperationen heutiger Prägung ist es, die Herzen der Zivilbevölkerung zu gewinnen. Denn nur dann hat man als Armee im fremden Gebiet die volle Handlungsfreiheit. An so etwas war 1799 nicht ansatzweise zu denken, wie man auch der Dissertation von Leuthold entnehmen kann:

«Im Hungerwinter 1799/1800 hielt sich im Distrikt Zurzach die 67. Halbbrigade auf [eine Halbbrigade umfasste rund 2500 Mann]; sie hinterließ einen denkbar schlechten Ruf. Mannschaft und Offiziere steckten unter derselben Decke, nahmen mit Gewalt weg, was sie nicht sonst erhielten. Beschwerden bei höhern Kommandanten nützten nichts. Sie waren Partei und Richter zugleich. Über Mißhandlungen häuften sich die Klagen. Gewöhnlich unterließ man es in den Dörfern, sofort einen „procès verbal“ aufzunehmen, ohne den später von vornherein nichts mehr zu machen war.»

Chef der helvetischen Zivilverwaltung in diesem uns benachbarten Distrikt war ein Unterstatthalter namens Welti (ein in dieser Gegend bekannter Familienname).

Die zu diesem Abschnitt gehörende Fussnote 157 lautet: «KAA. M.F. Einzig aus Oberendingen sind uns 3 Procès verbaux erhalten; Unterstatthalter Welti berichtet darüber an die Verwaltungskammer: Der 77jährige Greis Werder wurde mit seiner Frau aus dem Bett geworfen und mißhandelt. (Werder starb kurze Zeit darauf.) Dem Agenten [d.h. Direktunterstellten des Unterstatthalters in der Gemeinde Oberendingen] wird, da er zu wenig Wein auftischt, der Rest der Mahlzeit ins Gesicht geworfen usw. 

Ein einziger Fall von Ermordung eines Zivilisten durch französisches Militär ist uns bekannt: In Fisibach wurde Franz Jos. Weiacher durch einen Soldaten getötet. Mangels rechtsgültiger Zeugen wurde dieser vom französischen Militärgericht freigesprochen. Welti, der auch für diesen Fall die nötige Sühne wünschte, bekam die verlangten Akten nicht zur Einsicht und konnte deshalb auch keine weitern Schritte unternehmen. Ferner wurde in Besenbüren ein gewisser Jos. Leonz Etterli von französischen Soldaten verwundet.»

«Dem Regierungsstatthalter [d.h. dem Chef der Kantonsverwaltung in Baden] schrieb Welti in dieser Angelegenheit am 21. Januar 1800: „Ich weiß wohl, es braucht rechtmäßige Beweise, und hierzu ist unser Volk zu dumm.“ Mit größter Selbstlosigkeit setzte sich Welti für die Bevölkerung und deren Beschwerden ein und scheute sich nicht, mit den verantwortlichen Kommandanten zu verhandeln. Der Erfolg war – aus seinen Berichten zu schließen – sehr gering.»

Wie der Fall des Fisibachers zeigt, gab es zwar durchaus eine Militärjustiz. Ob die Verantwortlichen allerdings wirklich durchgreifen wollten, wenn es nicht gerade Tote gab, darf bezweifelt werden. Es ist einfacher, der eigenen Truppe das Plündern quasi zu erlauben, wenn man schon selber nicht für adäquaten Nachschub sorgen kann. 

Deshalb ist es kein Wunder, dass die Franzosen verhasst waren. Nicht nur im Kanton Baden. Und, dass sie deshalb auch in den Monographien über die Geschichte von Weiach alles andere als gut wegkommen.

Quelle
  • Leuthold, R.: Der Kanton Baden 1798-1803. Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der philosophischen Fakultät I der Universität Zürich. Sauerländer Aarau, 1933. In: Argovia, Jahresschrift der historischen Gesellschaft des Kantons Aargau, Bd. XLVI (1934) – S. 1-243. Hier: S. 84-85.
    Ausgabe A: Diss. Phil. I. Univ. Zürich; Aarau, 1933; Kollation: II, 245 S.
    Ausgabe B: Separatabdruck aus Argovia; Aarau, 1934; Kollation: IV, 244 S.

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