Samstag, 31. Oktober 2020

Vor 300 Jahren: Zürich sperrt Handels- und Reiseverkehr mit Genf

Es gibt ja in Zeiten von Corona unterschiedliche Arten des Umgangs mit dieser Bedrohung. Dirigistische, ja diktatorische mit knallharten Ausgangssperren wie in Frankreich für den ganzen November verhängt. Solche die auf durchgehende Maskierung setzen und ganze Branchen wie Gastronomie, Events und Hotellerie abwürgen. Aber auch einige, die wesentlich stärker auf die Eigenverantwortung der Bürger setzen und wo man, wie in Schweden, keine gravierenden Probleme zu haben scheint, obwohl auch da einige Spitäler mit ihren Intensivpflegekapazitäten am Anschlag sind.

Handels- und Reisesperre gegen Frankreich

Vor genau 300 Jahren mussten sich die Zürcher Untertanen mit den Folgen eines Pestausbruchs in der südfranzösischen Hafenstadt Marseille herumschlagen. Pesttote gab es in Zürich (im Gegensatz zu vorangehenden Jahrhunderten) noch keine, was vor allem damit zusammenhing, dass die vorgelagerten Gemeinwesen radikal durchgegriffen und jegliche Handels- und Reisetätigkeit mit Südfrankreich unterbunden haben (oder es zumindest versuchten). 

Die Zürcher Obrigkeit verhängte ab dem 19. August 1720 im Abstand von wenigen Wochen mehrere sogenannte Mandate, d.h. staatliche Anordnungen mit Strafbewehrung, die von den Kanzeln aller Kirchen verlesen wurden. So natürlich auch in Weiach durch den damaligen Pfarrer Hans Rudolf Wolf (1708-1747 in Weiach; Grabstein in der Kirchenmauer).

Das erste Mandat vom 19. August wurde unter dem Titel COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich besprochen (vgl. WeiachBlog Nr. 1510 vom 18. Mai 2020). Das zweite Mandat in derselben Angelegenheit kann samt Kommentar im Artikel Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720 abgerufen werden (vgl. WeiachBlog Nr. 1599 vom 9. Oktober 2020).

Unter dem 31. Oktober 1720 publizierte die Kanzlei der Zürcher Regierung eine ergänzende Anordnung in der leidigen Pest-Angelegenheit, wobei die Obrigkeit ihren Untertanen gegenüber entschuldigend betonte, es sei wirklich «ohnumgänglich nohtwendig», nun bereits das dritte Contagions-Mandat in nur zweieinhalb Monaten zu erlassen:


Das Erlufftungshaus wird gebaut

In Weiach wurde derweil durch den Sanitätsrat (Vorläuferin der Gesundheitsdirektion) ein Lagerhaus geplant und (wohl ab Oktober 1720) auch gebaut, in dem unter Quarantäne gestellte Waren (insbesondere Stoffballen) «erlufftet» werden konnten, indem man sie aufschnitt und so zu erreichen hoffte, dass die Erreger abgetötet würden (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 9 und 10, s. Quellen).

Massnahmen für Reisende und Handel werden verschärft

Der Erlass vom letzten Tag des Weinmonats basiert mehrheitlich auf dem Text des zweiten Mandats. Er bringt folgende wesentliche Neuerungen:

Art. 1: Ausweitung der totalen Sperrzone für Personenverkehr und Handel u.a. auf Lyon, Burgund, Savoyen, Piemont und Genf.

Art. 2: Quarantäne für Personen und Waren aus dem Raum nördlich des Genfersees, d.h. aus dem bernischen Waadtland. Einfuhr und Einreise nur mit amtlichen Attesten.

Art. 3: Gesundheitsatteste müssen eine Identifizierung der Person erlauben und lückenlose Aufenthaltsverfolgung ermöglichen.

Wie will man sicher feststellen, dass die auf einem Zettel genannte Person mit derjenigen identisch ist, die ihn vorweist? Daher wurden jetzt Mindestvorgaben betr. Signalement gemacht (Statur, Alter, Haare bzw. Bart).

Für den mit landwirtschaftlichen Arbeiten befassten Weiacher änderte sich also nicht viel. Für Reisende, Textilhändler und Transporteure, sowie für die Kontrollorgane dafür umso mehr. Gerade der Artikel 3 zeigt ja auch deutlich, auf welche praktischen Probleme man in den etwas mehr als zwei Monaten der Sperrmassnahmen im täglichen Vollzug gestossen war.

Das Mandat im vollen Wortlaut

«Wir Burgermeister / Klein und Grosse Rähte der Statt Zürich: Entbieten allen und jeden Unseren Angehörigen zu Stadt und Land / Unseren gönstigen gnädigen Willen / und darbey zuvernemmen; Daß nachdeme sinth letsthin unterem 9ten letst abgeloffenen Herbstmonats publiciertem Unserem Sanitets-Mandat die verläsliche und sichere Bericht von verschiednen Orthen eingetroffen / was gestalten die leidige Contagion nicht nur in der Stadt Marseille sondern auch umligenden Orthen in Provence, noch immer hefftig grassiere; Wir in sorgfältiger Erwegung und Beherzigung solch trauriger und gefahrlicher Zeitungen / und damit Unser werthes Vatterland vor so schwehr antrohender Straff Gottes / unter außbittend seiner fehrneren Gnaden-Hilff / möchte verschohnet bleiben / Unsere über die bereits obbedeuter maassen außgegebne Sanitets-Vorsorgen / annoch hernachfolgende Verordnung ergehen / und publicieren zulassen ohnumgänglich nohtwendig befunden. Benantlichen

1. Sollen Erstens mit und neben denen in besagt-Unserem Mandat außgesetzten Provinzen Frankreichs / Provence, Languedoc und Dauphiné, auch Lion, Lionnois, Bresse, Burgund / Franche-Comté, Genff / Savoye und Piemont gänzlichen bannisiert und von Unserem Commercio, so lang bis Wir hierum eine andere Verordnung thun werden / außgeschlossen seyn / also daß weder Persohnen / Veich / noch Wahren / auf kein Weis noch Weg / bey der in mehrbesagt Unserem Mandat angesetzten ernstlichen Straff / nicht hereingebracht noch eingelassen werden mögen / und

2. Aller Handel und Wandel mit der dißseithigen ganzen Gegend des Genffer-Sees / in der Meinung suspendieret / daß alle von daharkommende Persohnen / ehe und bevor sie in- oder durch Unsere Bottmässigkeit gelassen werden / Fünfzehen Tag / die Wahren aber Ein und Zwanzig Tag die Contumaz außzustehen angehalten / und beynebent mit Eydtlichen und beglaubten Attestatis, und Sanitets-Zeugnussen / wie Unser offtbemeldtes Mandat enthaltet / begleitet seyn. Wornebst Wir

3. Besagter Attestationen und Sanitets-Scheinen der Reisenden Persohnen halber Unsere Verordnung dahin erleutheren / daß in solchen hinkönfftig derselben Statur, Alter / Haar und Barth ordenlich / und zugleich bemerket werden solle / daß selbige innert 40. Tagen Zeit an keinem obbemeldten verdächtigen / und von Uns verbottenen Orthen sich aufgehalten haben / oder dorten durchpassieret seyen; Zu welchem Ende dann / die Reisende ihre mithabende Paßschein / von Orth zu Orth fleissigest unterschreiben zulassen / sich zu Ihrer eigenen Sicherheit obgelegen halten werden:

Da Wir im übrigen es bey dem Inhalt vor und offtbemeldten Unsers unterem 9ten Herbstmonats in den Truck gegebenen und publicierten Mandats lediglich bewenden lassen / und solches hiemit in allen seinen Puncten und Artiklen kräfftigest bestäten / zumahlen Jedermänniglich / zu genauer Beobachtung desselben Obrigkeitlich erinneret / und hiedurch sich selbsten vor Schaden und Ungnad zuvergaumen verwahrnet haben wollen.

Geben den 31. Weinmonat A°. 1720.    Cantzley der Statt Zürich»

Quellen

  • Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich (Hrsg.): Mandat vom 31. Weinmonat 1720. Einblattdruck, 46 x 35 cm. Originale unter den Signaturen StAZH III AAb 1.8, Nr. 93 sowie ZBZ M&P 2:343. Letzteres verfügbar auf e-rara.ch Nr. 86253. Literatur: Schott-Volm, Policeyordnungen Zürich, Nr. 1477.
  • Brandenberger, U.: Mit Mörsern gegen die Pest. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 1). Weiacher Geschichte(n) Nr. 9. Erschienen in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach (MGW), August 2000 – S. 9.
  • Brandenberger, U.: Europäisches Handelshemmnis und lokale Einnahmequelle. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) Nr. 10. Erschienen in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach (MGW), September 2000 – S. 13-14.

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