Montag, 18. Mai 2020

COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich.

Erinnern Sie sich? Am 28. Februar diesen Jahres ging es mit den Virusbekämpfungs-Erlassen aus Bundesbern los. Die erste Verordnung war noch kurz und bündig, verhängte ein schweizweites Verbot von Grossveranstaltungen mit über 1000 Personen bis zum 15. März und sah so aus:
COVID-19-Verordnung Nr. 1 vom 28. Februar 2020

Was danach kam, wissen wir. Der ganz grosse Hammer. Die Proklamation der «Ausserordentlichen Lage». Lockdown. Gegossen in die COVID-19-Verordnung 2 vom 13. März 2020. Mittlerweile ist die 16. Revision in Kraft. Lockerungen werden gewährt. Wirtschaftliche, politische und gesundheitliche Kollateralschäden begutachtet. Und die Corona-Saga geht weiter.

Gegen die Pestilenz aus Marseille und der Enden

Vor fast genau 300 Jahren hatte Mitteleuropa ebenfalls mit einer Seuche zu kämpfen, die von Süden kam. Die Zürcher Regierung sah sich genötigt, ausserordentlich gesetzgeberisch tätig zu werden. Sie erliess am 19. August 1720 ein Mandat, das als Einblattdruck erschien, öffentlich angeschlagen und von allen Kanzeln durch die Pfarrherren verlesen werden musste. Das sah dann so aus:

Mandat der Stadt Zürich betr. Massnahmen gegen die Pest aus Marseille vom 19. August 1720

Schon wesentlich umfangreicher für einen ersten Erlass. Dieses mutmasslich von Heidegger & Rahn gedruckte Blatt der Stadtschreiberkanzlei im Format 45 x 35 cm ist im Staatsarchiv des Kantons Zürich unter der Signatur: StAZH III AAb 1.8, Nr. 91 zu finden. Es wird nachstehend im Volltext zitiert und kommentiert.

Grussformel

«Wir Burgermeister und Rahte der Stadt Zürich: Entbieten allen und jeden Unseren Angehörigen zu Stadt und Land / Unseren gönstigen gnädigen Willen / und darbey zuvernemmen;»

Diese Formel, mit kunstvoll ornamentierten Initialen versehen, steht so oder ähnlich am Beginn jedes Mandats, das sich wie eine Ansprache an die Untertanen richtete. Viele hörten es ja auch nur, wenn es in der Kirche vorgelesen wurde. Vor den eigentlichen Gesetzesartikeln, die aber (wie hier) nicht immer nummeriert wurden, wird die Veranlassung erläutert und die danach erlassenen Gebote und Verbote dadurch in den Kontext gestellt:

Erwägungen

«Daß nachdeme Uns von verschiedenen Orthen haro / die versicherte und bedaurliche Bericht eingeloffen / wie daß auß sonderbahrer Verhängnuß Gottes / eine leidige gefährlich-ansteckende Pest-Krankheit zu Marseille in Provençe eingeschlichen; Wir aus wahrer Lands-Vätterlicher Sorgfalt / und Vergaumung Unsers lieben Vatterlands vor dergleichen schwehren Ohngemach / nach dem Exempel anderer / zwüschent Marseille und uns gelegnen Herrschafften und Länderen bewogen worden / Unsere vormahls in Truck gefertigete Sanitets-Anstalten hiermit von Neuem wiederum heraußzugeben / und gewohnter Orthen zu Jedermänniglichs Verhalt anschlagen zulassen :»

Eingeschlichen hatte sie sich tatsächlich, denn die ganze Malaise war nur entstanden, weil Kaufleute die Verantwortlichen im Marseiller Hafen bestochen hatten, um die Quarantäne zu umgehen. Man sieht auch schön, dass sich die Zürcher an den Erlassen anderer Staaten orientierten. So läuft das heute ja auch. Man kann nicht handeln, als wäre man allein auf einer Insel. 

Und die Zürcher Regierung erläutert hier auch, weshalb der erste Erlass zum Thema Marseiller Pest bereits einen stattlichen Umfang aufweist: da gab es bereits Vorlagen von früheren Seuchen-Zügen.

Nun folgen die eigentlichen Vorschriften, eingeleitet mit der Formel «ernstlicher Befehl, Will und Meinung»:

Art. 1  Briefe und Pakete ausräuchern

«Gestalten dann Unser ernstlicher Befehl / Will und Meinung ist / daß fürohin keine von denen inficierten und verdächtigen Orthen ankommende Brieffschafften und Pacquets, so nicht erforderlicher massen beräucheret / sollen abgenommen / oder eröffnet / auch keine derselben / ohne daß man sie von neuem wiederum beräuchere weiters versendet werden.»

Art. 2  Kontrolle über ankommende Waren und Personen

«So danne solle die unter denen Stadt-Pforten und auf denen Gränzen bestellte Commissarii bey Eydtlicher Pflicht auf die ankommende Persohnen / Wahren und Güter geflissene Aufsicht haben;»

Die Grenzen wurden also nicht dichtgemacht, aber alles Hereinkommende sollte kontrolliert werden.

Art. 3  Verbot der Wareneinfuhr aus Marseille und Umgebung

«Wie dann Unser fehrner-ernstliche Befehl und Meinung dahin gehet; daß weder Wollen / Baumwollen / Syden / Leinin Gezeug / Fäder / Beltz / noch alle andere Wahren / was Gattung selbige immer seyn möchten / auß denen inficierten Orthen sollen durchgelassen :»

Offensichtlich war man der Meinung, dass das die Seuche auslösende Übel in den genannten Warenkategorien zu finden sei. Das war dann später auch der Grund für weitergehende Massnahmen, die eigentlich bereits in Marseille hätten stattfinden sollen (vgl. Weiacher Geschicht(n) Nr. 9 und 10).

Art. 4  Erfolgreiche Quarantäne wird erwartet

«Denenjenigen Persohnen und Wahren aber / so auß verdächtigen Orthen ankommen / der Durchpaß nicht anderst verstattet werden / als so fehrn sie mit authentischen Sanitets-Zeugnussen / daß sie an gesunden oder ohnverdächtigen Orthen die Quarantaine außgehalten / versehen.»

Vorerst war die Zürcher Regierung noch der Meinung, dass mittels Begleitdokumenten die anderswo ausgestandene Quarantäne belegt werden könne.

Art. 5  Gesundheitsatteste sind zwingend

«Es sollen auch sonsten alle Reisende Persohnen / von was Stands und Alters die wären / mit erforderlichen Gesundheits-Scheinen / daß sie von gesunden Orthen harkommen und passiert / versehen seyn :»

Auf diesen Dokumenten musste letztlich der ganze Reiseweg mit Unterschriften von Funktionären der durchreisten Gebiete dokumentiert werden. Sonst riskierte man, an der Zürcher Grenze abgewiesen zu werden.

Das erinnert schon etwas an die gerade aktuelle Diskussion über COVID-19-Immunitätsnachweise. So verhandeln aktuell offenbar die EU-Tourismusminister darüber, den Nachweis des Corona-Immunitätsstatus zur Bedingung für grenzüberschreitendes Reisen im Schengen-Raum zu machen. Und da die Schweiz Schengen-Mitglied ist, läuft das letztlich wohl auf einen auch hierzulande auszustellenden Impfpass hinaus.

Art. 6  Fremde Strolche und Bettler abschieben

«Alles frömbde Strolchen- und Bättel-Gesind / und andere verdächtige ohnbekannte Landläuffling aber / selbige haben gleich Päß oder nicht / von denen Dorffwachten / mit allem Ernst ab- und zuruckgewisen / und nach dem Innhalt Unsers letsthin publicierten Bätteljägi-Mandats / von Wachten zu Wachten bis auf die Gränzen weggeführet werden:»

Auch der Evergreen der zürcherischen Mandate darf hier natürlich nicht fehlen, denn die unkontrollierten Wanderungsbewegungen des Lumpenprekariats waren den Gnädigen Herren (und ihren Untertanen) schon in normalen Zeiten ein Dorn im Auge. Da wurden regelmässig Bettler-Jagden veranstaltet und die aufgescheuchten Fremden dann per Schub von Dorfwache zu Dorfwache bis an die Grenze geleitet. Da konnte sich dann der Nachbarstaat ihrer erfreuen.

Art. 7  Verkehrsbeschränkung

«Zu dem End die gemeinen Landstrassen allein gebraucht / und alle nebent-Strassen und Beyweg verbotten und beschlossen seyn;»

Von besonderer Bedeutung ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Verkehrs von fremden Personen und Waren auf die Hauptachsen. Das galt nicht nur für die Bettlerfuhren. Auch die auswärtigen Kaufleute mussten sich daran halten. Nebenstrassen durften bei Strafe nicht genutzt werden.

Art. 8 Strafbestimmungen

«Und so jemand wider diseres Verbott / sich erfrechen thäte / sich selbsten oder auch Wahren von was Gattung selbige immer wären / durch solche nebent-Weg durchzutringen / solche nicht nur von Niemandem beherberget / sondern auf betretten / je nach Beschaffenheit an Leib und Guth werden gebüßt werden.»

Hier steht nun zwar nicht, dass man auch beim illegalen Benutzen von Hauptstrassen bestraft werde. Aber die Gnädigen Herren zu Zürich gingen wohl davon aus, dass die an den Grenzübergängen Ankommenden zumindest nicht unbemerkt durchschlüpfen könnten.

Interessant ist, dass hier auch die Gastwirte in die Pflicht genommen werden, denn diese Strafbestimmung verlangt letztlich die Überprüfung der Reisepässe von Übernachtenden auf ordnungsgemässe Einträge.

Schlussformel

«Gleichwie Wir nun nicht zweiflen / es werde durch sothane Verordnung / das Land / durch die mitwürkende Krafft Gottes fehrnerhin bewahret / und vor dergleichen Landsverderblichen Plagen verschohnet bleiben; Also wollen Wir auch Jedermänniglich zu deren gehorsammer und geflissner Beobachtung bey Hoch-Oberkeitlich zugewarten habender Straff und Ungnad / verwahrnet haben.»

Auch diese Formel ist in ähnlicher Form in jedem Mandat vorhanden. Es wird die Hilfe Gottes angerufen und dann den Untertanen noch einmal eingebläut, dass Verstösse gegen das eben Verkündete Konsequenzen haben.

Datumsangabe und Herausgebervermerk

«Geben Montags den 19. Tag Augstmonat / von der Gnadenreichen Geburth Christi unsers Herren und Heilandes gezellt / Eintausent / Siebenhundert und Zwanzig Jahre. -- Cantzley der Stadt Zürich»

Herrn lic. phil. Christian Sieber vom Projekt e-RQZH des Staatsarchivs des Kantons Zürich sei hiermit herzlich für die Erstellung und Zusendung einer Aufnahme des Erlasses gedankt.

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