Es kommt nicht allzu häufig vor, aber es gibt Momente in der Ortsgeschichtsforschung, in denen zwei Mosaiksteinchen sozusagen wie Schlüssel und Schloss zusammenpassen. Einen solchen hatte ich jüngst dank der folgenden Literaturstelle im Werk der aus Weiach stammenden US-Autorin Louise Patteson (1853-1922; vgl. WeiachBlog Nr. 1487):
«Another of my friends was Barbara, the seamstress. She lived in a house that was thatched with straw, and not tiled like the other houses. The straw thatch hung so far over the windows that it made the rooms dark, and it was not pleasant there. But Barbara made my dresses, and I had to go there to have them fitted.» (When I was a Girl in Switzerland, Boston 1921, S. 15)
Das Haus von Barbara, der Näherin, war ein Strohdachhaus. Das Wort «thatch» trägt an sich schon die Bedeutung «Dachstroh», sodass wir es beim «straw thatch» mit einem Pleonasmus zu tun haben, der als hübsches Stilmittel eingesetzt wird, um das Zuviel an Stroh zum Ausdruck zu bringen. Ein Zuviel, das die Räume dunkel und den Aufenthalt in ihnen unerfreulich gemacht habe.
Die anderen Häuser, so Patteson, seien mit Ziegeln gedeckt gewesen. Und es scheint, als ob es an diesem Ort sonst nur Ziegeldächer und keine weiteren Strohdächer gegeben hat. Die Rede ist von Weiach und der Zeitraum, um den es geht, liegt zwischen 1853 und 1867, dem Jahr der Abreise in die Neue Welt.
Es stellt sich also die Frage, ob es sich tatsächlich um das einzige Strohdachhaus in Weiach gehandelt hat und wo im Dorf dieses zu finden war.
«oben in Kellen. N°. 95.»
Wenn man das älteste Lagerbuch der Brandassekuranz, das im Archiv der Politischen Gemeinde Weiach erhalten geblieben ist (PGA Weiach IV.B.06.01; Bild S. 111 s. unten), systematisch durchblättert, dann ist sozusagen auf den ersten Blick zu erkennen, welches Material auf dem Dach war.
Vergleiche dazu die vierte Spalte «Bauart» des Vordruckformulars mit den Unterkategorien «Gemauert», «Riegel» und «Holz» für den Baukörper (links) sowie «Ziegel», «Holz» und «Stroh» für die Bedachung (rechts). Wenn unter «Stroh» kein Eintrag mit einer Zahl 1 zu finden ist, dann war es eben kein Strohdach.
In diesem Fall hier weist das Nebengebäude Nr. 95b (ab 1842 als «Tenn & Brügi» bezeichnet) ein Ziegeldach auf.
Das mit einiger Sicherheit aus dem 18. oder einem noch früheren Jahrhundert stammende Wohngebäude Nr. 95 im Eigentum von Jacob Meÿerhofer (zu 6/8 in Riegelbauweise) verfügte hingegen nach wie vor über ein Strohdach:
1864 erfolgte also ein kompletter Neubau am selben Bauplatz. Bei diesem Gebäude Nr. 95 (später, 1895, mit der Nr. 155 bezeichnet und seit 1955 nach aktueller Gebäudeversicherungsnummerierung mit Nr. 508) handelt es sich um das Haus Chälenstrasse 24, ehemals im Eigentum von Robert Bersinger, beim oberen Chälenbrunnen.
Das letzte Strohdachhaus in Weiach ist demnach 1863 oder 1864 aus dem Ortsbild der hinteren Chälen verschwunden.
Natürlich hätte man den Standort des letzten Weiacher Strohdachhauses auch ganz ohne den Hinweis in Pattesons Autobiographie finden können, rein durch systematische Auswertung des Lagerbuchs. Aber die Kombination dieser beiden Belege gibt der Trouvaille ihre besondere Note.
Quellen und Literatur
- Lagerbuch Gebäudeversicherung Kt. ZH, Expl. Gemeinde, 1834-1894. Signatur: PGA Weiach IV.B.06.01.
- S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassungen auf archive.org: PDF, 11 MB; weiteres Exemplar] – S. 15.
- Brandenberger, U. (Bearb.): Gebäudenummernkonkordanz der Gemeinde Weiach 1809-1895-1955-1992, nachgeführt bis 31.12.2024; in Verbindung mit der Gebäudealterkarte sowie der Eigentümerauskunft des Geoportals des Kantons Zürich (maps.zh.ch).
- Brandenberger, U.: Die Weiacher Autobiographie einer amerikanischen Tierbuchautorin. WeiachBlog Nr. 1487, 13. April 2020.
- Zur Näherin Barbara, vgl.: Brandenberger, U.: Freund und Feind im Tod vereint. WeiachBlog Nr. 1490, 16. April 2020.
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