Montag, 23. Oktober 2006

Seldwyla und die chinesischen Pflastersteine

Gottfried Keller hat Seldwyla mit Liebe zum Detail und beissendem Spott beschrieben. Als schweizerisches Schilda sozusagen.

Im Unterland ist man seither überzeugt: Seldwyla ist Bülach. Was die Bülacher mittlerweile sogar selber akzeptiert haben. Die Bülacher Theatertruppe par excellence heisst nicht zufällig «Spielleute von Seldwyla».

Eine lustige Reminiszenz an den Dichter aus dem 19. Jahrhundert - dachte ich bis vor einigen Stunden.

Tempi passati? Mitnichten!

Mit einigem Erstaunen konnte man letzten Samstag im Zürcher Unterländer lesen, dass die heutige Bülacher Stadtregierung für Seldwylereien der Extraklasse gut ist.

Vor dem Rathaus in der Altstadt wird derzeit gebaut. Im Tiefbau, um genau zu sein. Eine Begegnungszone soll entstehen. Bis 2009 in der ganzen Altstadt. Und weil sich Asphalt nicht so heimelig anfühlt, kommen Pflastersteine zum Einsatz.

Schön und gut. Nur: die auf dem Rathausplatz gerade verbauten Steine stammen aus dem «Reich der Mitte». Schreibt ZU-Korrespondent Friedel K. Husemann. Ich dachte erst, ich lese nicht richtig. Aber es scheint leider zu stimmen.

Pflastersteine werden in China abgebaut, um den halben Globus transportiert und in der Bülacher Altstadt verlocht. Was für ein Schildbürgerstreich! Wie wenn es in diesem Land keine Steinbrüche gäbe, welche mindestens so gute Qualität liefern könnten.

Nächstens kommen die Bülacher noch auf die Idee, ihren Wandkies ebenfalls aus China zu importieren. Aber vielleicht erinnern sie sich dann doch noch daran, dass in Weiach und im Rafzerfeld der Kies grad vor der Haustüre zu haben ist. Anschauungsunterricht gäbe es ja mehr als genug: Schüttgüterwaggons der Kiesunternehmen mit grossen Schriftzügen, die durch den Bülacher Bahnhof gezogen werden, bzw. nächtens dort herumstehen.

Engstirnig auf kurzfristige Optimierung fokussiert

Vielleicht sollte die heutige Stadtregierung wieder einmal ihrem Alt-Stadtpräsidenten Menzi zuhören, wenn er Gottfried Kellers «Die Leute von Seldwyla» interpretiert:

«Der Glattfelder Schriftsteller habe damit die damaligen Bülacher vor Augen gehabt. Diese seien engstirnig und arrogant gewesen und hätten ihr Fähnlein gern nach dem Wind gehängt. Tatsächlich wurde Bülach, so Menzi, zweimal von den Eidgenossen in Brand gesetzt, weil es sich im Krieg auf die «falsche» Seite gestellt hatte.» (Unterländer, 5. Juli 2005)

Die falsche Seite wäre diesmal die der Energieverschwender und Arbeitsplatzverschieber. Ob man auch künftig dazu gehören möchte oder weiterhin kurzsichtigem Spareifer huldigt, sollten sich die Bülacher Stadtväter vielleicht besser überlegen, bevor sie die nächste Tranche Pflastersteine aus China ordern.

Quellen
  • Husemann, F.K.: Die Altstadt wirkt weiträumiger. Bülach - Bauarbeiten für die erste Etappe der Begegnungszone werden demnächst beendet. In: Zürcher Unterländer, 21. Oktober 2006
  • Calislar, F.: Die neuen «Leute von Seldwyla». Bülach - Rund 70 Neuzuzüger waren als Gast der Stadtverwaltung im «Stedtli» unterwegs. In: Zürcher Unterländer, 5. Juli 2005.

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