Sonntag, 8. Oktober 2006

Will Avenir Suisse die Gemeindeautonomie abmurksen?

Die Debatte zwischen Anhängern des Zentralstaates und denen des Föderalismus bis auf Gemeindeebene ist so alt wie die Wurzeln der Schweiz als moderner Staat. Nämlich mindestens 200 Jahre.

In der Helvetik führte der mit Waffen geführte Streit von Unitariern und Föderalisten schliesslich dazu, dass Napoleon das Experiment abbrechen liess und 1803 die Mediationsakte diktierte.

Kantönligeist-Schelte und Gegenschelte

Auch heutzutage sind die altbekannten Fronten immer wieder festzustellen. Seitens der Gegner des Kantönligeists und der «ausufernden» Demokratie fechten die think tanks des Finanzkapitals, unter anderen Avenir Suisse.

Deren Direktor Thomas Held erhielt in der Weltwoche vom 5. Oktober eine Plattform für seine neoliberalen Ideen. Die sind bei der breiten Bevölkerung offenbar nicht auf das erhoffte Echo gestossen.

Und erst recht nicht bei Kommentatoren wie Frank A. Meyer, der heute im SonntagsBlick Spott und Häme über «ultraliberale Manager und Milliardäre» ausgiesst, die uns in den vergangenen Jahren, u.a. mit dem «Weissbuch» vorgerechnet hätten, «die Schweiz entgehe dem Untergang nur durch massiven Abbau des Sozialstaates».

Bürger zuwenig wachstumskompatibel?

Markus Schneider (selber einer der Autoren obgenannten Weissbuchs) über ein Gespräch mit Thomas Held:

«Was würde er heute anders machen, wenn er die ganze Wachstumsdebatte nochmals von vorn beginnen könnte?

Thomas Held denkt nach. Er würde nicht so stark die Politik angreifen, sondern auf die Zielgruppen zugehen und dabei den aufklärerischen Aspekt ins Zentrum stellen. Er würde fragen: «Was bedeutet Wachstum? Warum ist Wachstum gut? Warum braucht es Wettbewerb? Warum nützt es der Gesellschaft als Ganzes, wenn einzelne Gruppen im Moment etwas verlieren?» Ja, er würde versuchen, auf populäre Art und Weise Antworten zu geben. «Aber thematisch würde ich gar nichts ändern.»

Und studiert Thomas Held die Zeitungen, dann fühlt er sich erst bestätigt. Gerade heute sind ihm in der NZZ zwei Meldungen aufgefallen:

– Die Elektra Birseck Münchenstein BL, ein Strommonopolist, hat sich als Kabel-TV-Betreiber versucht und fünf Millionen Verlust eingefahren; neu engagiert die Elektra Birseck auch Gärtner, Maurer, Maler, hat sogar drei Handwerksbetriebe hinzugekauft und preist sich nun an als Sanierer von «ganzen Badezimmern», zu vermutlich nicht ganz kostendeckenden Preisen. Ist solcherlei Quersubventionierung Staatsaufgabe?

– Die Gemeinde Stadel ZH lehnt den Bau von Hindernisbefeuerungen (sichtbare Masten im Wald) für den Flugverkehr auf ihrem Gemeindegebiet vorläufig ab, wie zuvor die Gemeinde Weiach ZH. Allerdings sei die Gemeinde Stadel zu Verhandlungen bereit. Gefordert werden verbindliche Regeln im künftigen Betriebsreglement, Mitsprachemöglichkeiten bei An- und Abflugverfahren und finanzielle Entschädigungen. Erlaubt solcherlei Gemeindeautonomie eine nationale Flughafenpolitik? «Ein klassisches Politikversagen», urteilt Thomas Held.
»

Das Interview wurde offensichtlich am 7. September 2006 geführt. Held nimmt nämlich Bezug auf den Artikel «Stadel lehnt neue Befeuerung für Nordanflug vorläufig ab.» (vgl. Kommentar zum WeiachBlog vom 6. September)

Politikversagen? Ah ja?

Worin genau besteht denn nun das Versagen der Politik, Herr Held?

Darin, dass die UNIQUE einen Versuchsballon hat steigen lassen und negative Reaktionen aus den betroffenen Gemeinden kommen?

Darin, dass Regierungsrätin Rita Fuhrer es genauso wenig wie ihr Vorgänger Ruedi Jeker geschafft hat, die Zürcher von Nutz und Frommen unbegrenzten Fluglärms zu überzeugen?

Darin, dass wir im Unterland trotz Schalmeienklängen nicht bereit sind, in vorauseilendem Gehorsam das zu beschliessen, was die Vordenker von Avenir Suisse gerne hätten? Nämlich ohne langes Nachdenken Ja und Amen zu allem zu sagen, was die Weisen aus dem Wirtschaftsland uns als Heilsbotschaft auftischen?

Oder will man bei Avenir Suisse damit gar zum Ausdruck bringen, die Gemeindeautonomie gehe zu weit und gehöre abgeschafft?

Fragen über Fragen. Vielleicht bekommt man ja auch einmal Antworten.

Herr Held möge bitte seinem aufklärerischen Anspruch gerecht werden. Sonst kann man sein Gejammer über angebliches «Politikversagen» schlicht nicht ernst nehmen.

Quellen

5 Kommentare:

Wiachiana-Verlag hat gesagt…

Mir ging es hier vor allem um die sozial stabilisierenden Effekte eines föderalistischen Systems.

Was den Sozialstaat als solchen betrifft, kämpfen wir mit den Folgen der Globalisierung. Als man die arbeitslosen Ausländer einfach wieder hinausschmeissen konnte, war die Finanzierung kein Problem.

Ausserdem war die Schweizer Wirtschaft bei überhitzter Konjunktur noch viel eher willens, sich mit schwierigeren Fällen abzugeben oder neuen Mitarbeitern Einarbeitungszeit zu gewähren. Resultat: eine Arbeitslosenrate bei nahezu 0%, praktisch keine Ausgesteuerten. Wer wollte hatte eine Arbeit.

Heute rekrutiert die Wirtschaft lieber auf dem internationalen Arbeitsmarkt und lässt andere für die Ausbildung ihrer im hire&fire-System angeheuerten Arbeitskraft zahlen. Die Nichtmobilen und weniger Qualifizierten haben das Nachsehen und werden tendenziell zu Sozialfällen.

Rein durch Verknappung der Mittel wird man dieses Problem der Lohnarbeitsverknappung und des dadurch ständig zunehmenden "Unnötigwerdens" breiter Bevölkerungskreise nicht in den Griff bekommen.

Hier sind kreative Lösungen gefragt. Sonst verspielen wir den noch bestehenden Standortvorteil der Schweiz (v.a. die soziale Stabilität) leichtfertig und haben dann wirklich ein Problem.

Merke: Wenn eine genügend grosse Masse von Marginalisierten sich plötzlich zu organisieren beginnt, dann wird es gefährlich - der Generalstreik von 1918 lässt grüssen. Bis zur Machtergreifung à la 1933 will man es hoffentlich nicht wieder kommen lassen.

Anonym hat gesagt…

Zur Erinnerung: Unsere Wirtschaft boomt momentan... und im Ausland rekurtiert man, weil man im Inland kaum noch qualifizierte Arbeitskräfte findet.

Und nein, als man die ausländischen Arbeitskräfte noch auf Zeit hier hatte, war der Sozialstaat deutlich weniger ausgebaut als heute... aber klar, in Deinem Alter wäre ich auch eher pro Sozialstaat als dagegen, Du profitierst ja davon, während ich bezahlen muss... und mir die Leute, deren Lebensunterhalt ich finanziere, dann in meinen 8 Einkaufsstunden am Samstag im Weg stehen... :->

Wiachiana-Verlag hat gesagt…

Bei mir geht das noch Jahrzehnte bis ich in dem Alter bin, auf das Du hier anspielst.

Ich gehöre selber zu denen, die momentan noch kräftig zur Kasse gebeten werden, Steuern zahlen und zu den Sozialwerken beitragen. Profitieren tun andere.

Merke: So kann man sich irren. Nicht jeder Blogger, der sich mit der Welt aus lokaler und historischer Perspektive befasst, ist zwingend ein AHV- oder IV-Rentner.

Anonym hat gesagt…

Probleme sind immer auf der geeigneten Stufe zu lösen.

Der Nationalstrassenbau ist national zu koordinieren, Primarschule und Quartierstrassen auf Gemeindeebene, Kantonsschulen vom Kanton.

Das hier angesprochene Flughafenplanungsverfahren betrifft die ganze Wirtschaftsregion Zürich & Umgebung inkl. Süddeutschland. Also muss der Betrieb hier unabhängig von Kantons- Gemeinde- oder Landesgrenzen gelöst werden. Der Schlüssel hierzu liegt z.B. in der EU-Richtlinien zum Fluglärm oder im Umweltschutzgesetz der Schweiz.

Wiachiana-Verlag hat gesagt…

Prinzipiell wäre gegen eine stufengerechte Lösung nicht viel einzuwenden.

Nur: Eine solche Problemlösung darf meines Erachtens nicht ausschliessen, dass die Betroffenen angehört UND angemessen ihrer Betroffenheit an der Entscheidfindung beteiligt werden.

Eine angemessene Entschädigung für aufgehalste Nachteile wäre auch wünschenswert.