Sonntag, 5. Februar 2012

Vom Auseinanderfallen der Familien

Der Weycher Dorfchronist und langjährige Lehrer Walter Zollinger (1896-1986) machte jeweils kurze Schlussbemerkungen zu seinen Jahreschroniken.

Für den Sommer 1963 abgeschlossenen Text der Chronik 1962 basierten sie einerseits auf der Einleitung (vgl. WeiachBlog vom 12. Januar 2012) und andererseits auf einem Zitat eines Referenten an der von ihm obligatorisch zu besuchenden Lehrersynode und mündeten in einer veritablen Zivilisationskritik:

«Prof. Dr. J. Niehaus sprach in seiner diesjährigen Synodalrede auch den folgenden Satz aus, den ich mir spontan notierte: "Der steigende Wohlstand ist mitschuld, dass die Landwirtschaft zusammenschrumpft; denn von 1.- Fr. Mehrlohn gehen nur noch ca. 20 Rp. auf den Sektor Nahrung, weil die heutigen Menschen "satt genug" sind."

Vierfünftel der erhöhten Löhne gehen damit also wohl auf in Anschaffungen für Bekleidung, für Maschinen im Beruf und Haushalt, in erhöhtem Wohnkomfort, für die Motorisierung, für Reisen und andere Vergnügung aller Art. Der Bauer hat also nur geringen Anteil an der Hochkonjunktur von heute. Das erklärt wohl, nochmals, die in der Einleitung zu dieser Chronik erwähnte Tatsache, des Rückgangs unserer landwirtschaftlichen Betriebe um beinahe die Hälfte.

Eine weitere Folge des erhöhten Komforts im Haushalt, der vermehrten maschinellen statt Hand-Arbeit, der gestiegenen Reise- und Vergnügungssucht ist sicher auch der geringere, leicht zu beobachtende Zusammenhalt, oder schärfer gesagt: das Auseinanderfallen der Familien (vornehmlich in Angestellten- und Arbeiterfamilien). Für die heute aufwachsende Generation hat man daheim keine erzieherisch so wertvollen Beschäftigungen mehr, da ja die bequemen, wenn auch teuren Apparate und Maschinen das alles leisten können, wozu man früher etwa die Kinder anhalten konnte oder musste. So suchen diese eben ihre Zeit nun auf der Strasse (früher sagte man "auf der Gasse") zu vertrödeln. Und was dabei herauskommt, ist oft erschreckend: zunehmender Ungehorsam, wachsende Arbeitsscheu, abnehmende Autorität des Elternhauses, Sucht nach Schleckereien (dies auch dank der Verlockungen durch die neuen, überall aufgestellten Automaten oder durch die Kioske), Verwilderung in den Sprachausdrücken u.s.w.

Einige Beispiele! "Dumme Siech", "du bisch en Dubel", "es gaht di en Dräck a", "das isch en Seich". Solch wüste Ausdrücke hätten wir uns zu meiner Bubenzeit und im Beisein Erwachsener kaum gestattet. Heute hört man sie ungeniert und zwar von Knaben wie von Mädchen und in jedem Milieu; leider musste ich's sogar schon von jungen Kollegen anhören und auch von Elternseite, was mir jedesmal bis in's Innerste weh tat.

Es tut mir fast leid, die 1962er-Chronik mit solch betrüblicher Feststellung schliessen zu müssen, aber eben....!
»

Dieser Text wurde in Teilen bereits veröffentlicht in Weiacher Geschichte(n) Nr. 44: «Di hütigi Jugend...!» Von der «Jugendordnung 1960» zur «Just Community»?

Quelle
  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1962 - S. 26-27. [Original in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1962].
[Veröffentlicht am 18. März 2012]

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