Das heute durch die Schulanlage Hofwies belegte Areal inmitten des Dorfes war früher wirklich noch eine obstbaumbestandene Wiese («Hofwiese»), eine Art Pufferzone zwischen der westlich gelegenen Chälen (auf das Sagibachtal ausgerichtet) und dem östlich davon liegenden, auf den Mülibach und die Passage über Raat, Schüpfheim und Stadel nach Zürich ausgerichteten Oberdorf (dazu zählt teilweise auch das Büel, wo seit 1706 die Kirche steht).
Gibt es zwei Weiach oder nur eines?
In der Urkunde vom 8. Februar 1295 (StAZH C II 6, Nr. 466), die dem Fürstbischof von Konstanz die Niedergerichtsrechte über Weiach zuerkennt, kommt der Ortsbezeichnung Wiach gleich eine zweifache Funktion zu. Da ist die Rede von Rechten in einer «curie villicatus dicte Wiach, site prope Kaiserstůl» sowie solchen «in villa Wiach». Dies veranlasste den Historiker Konrad Wanner anfangs der 80er Jahre zu der These, es habe sozusagen zwei Wiach gegeben, zwei dicht beieinander liegende, jedoch rechtlich voneinander geschiedene Rechtsbereiche (vgl. Wanner, K.: Siedlungen, Kontinuität und Wüstungen im nördlichen Kanton Zürich (9.–15. Jh.). Zürich 1984.).
Wie wir aus der Abschrift der St. Blasianischen Urkunde vom 19. Juni 1279 wissen, war das Grundstück namens Cholun «situm in villa Wiach», also im Dorf Weiach gelegen. Da gibt es also keine Zweiteilung. Die Chälen gehört zum Dorf Weiach. Dies ist jedoch eine reine Kaufurkunde über Liegenschaften, sie betrifft keine gerichtsherrlichen Rechtstitel wie die Urkunde von 1295.
Hat die 1295 angedeutete, in späteren Dokumenten jedoch nicht mehr auftauchende Zweiteilung in Meierhof und Dorf die Grundlage für die bei einigen alteingesessenen Weiachern bis heute ausgeprägte Unterscheidung zwischen «denen aus der Chälen» und «denen aus dem Oberdorf» geliefert? (Für die Zweiteilung vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 52, vgl. Quellen)
Eher unwahrscheinlich. Dass Oberdorf und Chälen in der Wahrnehmung der Einheimischen nicht nur zwei klar gesonderte Bereiche bildeten, sondern auch ihre Bewohner sich klar voneinander abgrenz(t)en, hat seinen Ursprung doch eher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Nachstehend meine Hypothese, die bereits als Anmerkung 39 in die 5. Auflage, Ausgabe Dezember 2017 der Monographie «Weiach - Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes» Eingang gefunden hat (Fussnote 71 in der 6. Aufl., Ausgabe Juli 2018).
Woher kommen die vielen Taubstummen und Kropfträger?
Zwischen 1840 und 1855 wurde Weiach als Negativbeispiel in den medizinischen Fachzeitschriften halb Europas herumgereicht (vgl. WeiachBlog Nr. 103 und 104, s. Quellen), weil in der Chälen überproportional viele Taubstumme, Schwachsinnige, Kretins und Leute mit einem Kropf wohnten.
Natürlich wurde in den Fachblättern auch über die Ursachen für diese auffällige Häufung diskutiert. War die Beschaffenheit des Wassers dafür verantwortlich? Waren es die Trinkgewohnheiten der Bewohner? Oder doch die Wohnverhältnisse in den oft nicht unterkellerten Gebäuden entlang des noch nicht unter den Boden verbannten Sagibaches? An Genetik dachte in den Zeiten vor der Anerkennung der Vererbungslehre nach Gregor Mendel noch kaum jemand. Und so kam es, dass einige Herren Doktores die Ursache in den sozialen Verhältnissen selbst verorteten:
«Auch zählt dieser Theil von Weiach [Anm. d. Verf.: die Chälen] nach demselben Berichte meistens nur arme und dürftige Bewohner, bei denen eine oft ans Ekelhafte grenzende Unreinlichkeit herrscht.» (Meyer-Ahrens 1845).
Zum grossen Ärger der Weiacher aus dem Oberdorf kam der, wohl in diesen Jahren entstandene, im aktuellen Sprachgebrauch wieder verschwundene Übername «Weycher Chröpf» auf, der den Weiachern in den umliegenden Gemeinden angeheftet wurde (analog zum heute noch gebräuchlichen «Bachser Igel» für Einwohner von Bachs; vgl. Sutermeister 1869).
Es ist klar, dass die honorablen Oberdörfler sich darüber ärgerten, mit diesen Unterschichtlern in einen Topf geworfen zu werden. Und weil man nicht wusste, wo die Neigung zu Kröpfen herrührt, dürften wohl auch viele den Kontakt zu den mit Kröpfen belasteten Einwohnern gemieden haben. Das könnte ja ansteckend sein.
Auswirkungen im 20. Jahrhundert
Mit dieser alten Angelegenheit aus der Mitte des 19. Jahrhundert könnte man erklären, weshalb die Oberdörfler noch vor wenigen Jahrzehnten nicht mit dem «Chälenpack» in der gleichen Schulbank sitzen wollten (Erinnerungen der Kinder von Emma Erb-Saller, ehemals wohnhaft Oberdorfstrasse 1, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 72).
Man könnte sich auch einen Reim darauf machen, wieso sich der Verfasser dieser Zeilen selber in den 70er-Jahren (zusammen mit anderen in der Chälen wohnhaften Primarschülern) im Raum Hofwiese mit den Oberdörflern Scharmützel mit Holzschwertern u. dgl. geliefert hat. Und das ganz selbstverständlich und unhinterfragt.
Schliesslich passt dazu auch die Erfahrung des Weiacher Gemeindeschreibers Peter Wunderli. Erst nach dem Umzug ins Oberdorf «konnte» ihn ein älterer Oberdörfler duzen.
Quellen
- Dr. Meyer-Ahrens in Häsers Archiv der gesammten Medicin, 1845 – S. 526; vgl. WeiachTweet Nr. 286, 27. Dezember 2016.
- Sutermeister, O.: Die schweizerischen sprichwörter der gegenwart in ausgewählter sammlung. Verlag J. J. Christen, 1869 – S. 51.
- UBZH Nr. 1736. 19. Juni 1279. In: Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich. Band 5 (1900/01) – S. 81.
- UBZH Nr. 2323. 8. Februar 1295. In: Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich, Band 6 (1903) – S. 289.
- Brandenberger, U.: Im Hochmittelalter gab es zwei Wiach. Was die Chälen vom Dorf trennte. Weiacher Geschichte(n) Nr. 52. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach (MGW), März 2004 – S. 14-16.
- Brandenberger, U.: Les Français peints par eux-mêmes. WeiachBlog Nr. 103, 15. Februar 2006
- Brandenberger, U.: The North British Review. WeiachBlog Nr. 104, 16. Februar 2006.