Freitag, 30. September 2022

Ein Meer von Hochstämmern. Eine Rückblende ins Jahr 1886

Im 19. Jahrhundert wurde das Pflanzen von Obstbäumen in unserer Gemeinde bekanntlich stark gefördert. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Weiacher Pfarrer Konrad Hirzel, der mit seinen Mitstreitern in der Ortssektion des Zürcherischen Vereins für Landwirthschaft und Gartenbau (seit 1992 unter dem Namen «Zürcher Bauernverband» bekannt) durch Anlegen einer Baumschule auf dem Areal der Hofwiese insbesondere die Dorfjugend im Obstbau unterwiesen hat.

Dass solche Bemühungen auch in anderen Gemeinden des Bezirks reiche Früchte trugen, kann man einer vom Kanton im April 1886 erhobenen Statistik entnehmen. Darin sind aus heutiger Sicht geradezu schwindelerregende Zahlen enthalten. Auch von anderen Bezirken unseres Kantons.

Im Kanton Zürich gab es an diesem Stichtag insgesamt mindestens 727'880 Apfelbäume, 564'574 Birnbäume, 106'353 Kirschbäume, 164'213 Zwetschgen- und Pflaumenbäume sowie 24'958 Nussbäume (s. Quelle 1887, S. 116).  Total sind das über 1.68 Millionen Hochstammbäume, mehr als der Kanton heute Einwohner hat. Der zählte damals etwa 330'000 Einwohner, heute rund das Fünffache! Zum Vergleich: 2001 wurden im Kanton Zürich nur noch 184'681 Hochstammbäume gezählt (s. Quelle 2003; Bäume von Nicht-Landwirten nicht erfasst).

Wird eine Besteuerungsgrundlage erhoben?

Dass ich im vorstehenden Abschnitt von «mindestens» rede, hat mit den damaligen Umständen der Erhebung zu tun. Aber auch mit zeitlosen Aspekten. Namentlich mangelndem Vertrauen in die Redlichkeit der Absichten der Daten sammelnden Obrigkeit. Hier die Erläuterungen in vollem Wortlaut (vgl. Quelle 1887, S. 104):

«Die nachfolgenden Tabellen dürfen nicht ohne einige Vorbemerkungen dem Leser übergeben werden. Die Obstbaumzählung traf leider in eine etwas ungünstige Zeit. Starker Schneefall und Sturm hatten am 28. September 1885 schweren Schaden an den Obstbäumen in vielen Theilen des Landes angerichtet. Viele, viele Bäume wurden ganz zu Grunde gerichtet, andere eines mehr oder weniger grossen Theils ihrer Krone beraubt. Die Stimmung der betroffenen Landwirthe war darob sehr bedrückt! Auf Gesuche um eine staatliche Beisteuer an den erlittenen Schaden trat die Regierung wegen der daraus zu ziehenden Konsequenzen nicht ein und man musste sogar, um nicht falsche Hoffnungen zu erwecken, auf eine Erhebung dieses Schadens verzichten.

Nun kam in Verbindung mit der Viehzählung die Obstbaumzählung. Wohl Manche erblickten in derselben eine Art Inventarisation zu Besteuerungszwecken. So unbegründet dieser Verdacht auch war und so sehr man sich auch Mühe gab, über Zweck und Nutzen der Obstbaumzählung Aufklärung zu verbreiten, — es gingen doch genügend Mittheilungen ein, die zeigten, dass eine Reihe von Besitzern ihren Obstbaumbestand zu niedrig angegeben hatten. Es betrifft dies namentlich einige Gemeinden des Bezirks Horgen, soll aber auch anderswo vorgekommen sein. Da nun die Viehzählung Hauptsache war und deren Resultate aus den Zählkarten zusammengestellt und innert festgesetzter Frist nach Bern berichtet werden mussten, ging es nicht an, die Zählkarten noch einmal an die Gemeindebehörden zur Revision zurückzusenden. Man musste nehmen, was gegeben war. In den meisten Theilen des Kantons ist übrigens die Obstbaumzählung mit anerkennenswerthem Eifer und Pünktlichkeit vollzogen worden und nur für wenige Gemeinden sind die nachfolgenden Zahlen als Minimalzahlen zu betrachten. Manchenorts mag man auch darum weniger Bäume, als vorhanden, angegeben haben, weil man die beschädigten nicht mitzählte und in ihr vollständiges Ausheilen Zweifel setzte.»

Acht Hochstämmer auf jeden Einwohner

Die in der nachstehenden Tabelle für den Bezirk Dielsdorf aufgeführten Zahlen dürften also eher am unteren Rand der tatsächlichen Bestände liegen. Zumal es damals ja nicht, wie heutzutage, für jeden auch noch so beschädigten Baum einen Direktzahlungsbeitrag gab. 

Zum Zeitpunkt dieser Obstbaumzählung lebten im Bezirk Dielsdorf (damals noch mit Affoltern, das seit 1934 zur Stadt Zürich gehört) gerade einmal 13000 Menschen. Im selben Gebiet gab es aber über 100'000 Obstbäume!

Für Weiach sind folgende Zahlen erhoben worden (vgl. Tab. 41 Hochstämme, s. Quelle, S. 111):

  • 2939 Apfelbäume (<15 J.: 1203; >15 J.: 1736)
  • 1271 Birnbäume (<15 J.: 454;  >15 J.: 817)
  • 490 Kirschbäume (<15 J.: 161; >15 J.: 329)
  • 868 Zwetschgen- und Pflaumenbäume (<15 J.: 357; >15 J.: 511)
  • 169 Nussbäume (<15 J.: 31; >15 J.: 138)

Total somit 5737 Hochstämmer! 

Ausgehend von ca. 670 Einwohnern (deren Zahl zwischen 1880 und 1888 von 743 auf 643 abgenommen hat) liegt Weiach also leicht über dem Bezirksdurchschnitt.

Verteilt man diese Weiacher Hochstämmer gleichmässig auf die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche (ca. 40 % der Gesamtfläche der Gemeinde von 957 ha), dann ergibt sich ein Schnitt von 15 Hochstämmern pro Hektare. Da vieles davon aber Ackerfläche war, muss die statistische Obstbaumdichte (besonders um den alten Dorfkern herum) wesentlich höher gelegen haben. Alte Fotos bestätigen diesen Umstand auch noch Jahrzehnte später.

Ziel von Ausmerzaktionen oder wertvolle ökologische Nischen?

Sollten Sie sich übrigens je gewundert haben, weshalb manche Obstbaumruinen stehengelassen werden: diese Bäume dienen als Nistgelegenheiten und damit der Artenvielfalt. Deshalb bekommt der Bewirtschafter auch Geld dafür, solange sie als Hochstamm-Feldobstbaum erkennbar sind.

So ändern sich die Zeiten. Noch anfangs Februar 1955 hat die Bezirkssektion desselben eingangs erwähnten Landwirtschaftlichen Vereins dafür gesorgt, dass in Weiach rund 100 Obstbäume sogenannt «nicht mehr gangbarer Sorten» mittels Traktor und Seilwinde umgerissen werden (vgl. WeiachBlog Nr. 55).

Quellen

  • Die Ergebnisse der Viehzählung vom 21. April 1886 sowie der damit verbundenen Güter- und Obstbaumzählung [Ursprüngliche Zählung: Jahr 1886, 1. Heft. Rückwirkend nummeriert als Heft 35 der Statistischen Mitteilungen betreffend den Kanton Zürich]. Verlag Orell Füssli & Co. Zürich 1887. URL: https://doi.org/10.20384/zop-2202
  • Bundesamt für Statistik (Hrsg.): Feldobstbau nach Arten (Hochstammbäume)  T 07.02.02.02.07. Neuenburg 2003. [Excel-Tabelle]

1 Kommentar:

Herr 60 hat gesagt…

Besten Dank für den tollen Post;)