Liebe, Verzweiflung, Krankheit, Tod und Verbrechen. Der perfekte Mix für eine saftige Geschichte in der Zeitung. Ein Fall wie geschaffen für einen Gerichtsberichterstatter.
Heute vor 150 Jahren begann im zürcherischen Pfäffikon ein Schwurgerichtsprozess, über den auch in der Neuen Zürcher Zeitung ausführlich berichtet wurde. WeiachBlog bringt hier Auszüge:
«Auf der Anklagebank erscheinen
1) Die seit 1870 verwittwete Frau Barbara Fisler, geborne Peier von Berg [am Irchel], geboren 1834, deren Ehemann beim Schlitten verunglückt ist, Mutter von 2 Kindern;
2) Konrad Peter von Berg, bis zum Beginn des gegenwärtigen Prozesses Gemeindammann [d.h. der Betreibungsbeamte] in Berg, verheirathet, Vater von 2 Kindern, unter der Anklage der Abtreibung durch innere und äußere Mittel;
3) Jakob Meier von Dättlikon, Thierarzt in Hüntwangen, geboren 1798, Wittwer, angeklagt, Räthe, Anweisungen und Mittel zu dieser Abtreibung gegeben und dadurch dieses gleichen Vergehens sich schuldig gemacht zu haben.»
In Weyach die Ausbildung zum Tierarzt begonnen
Letzterer soll uns hier besonders interessieren, denn er gab, da als einziger von den dreien nicht geständig, die eigentliche Veranlassung für diesen Prozess:
«Am Ende des vorigen Jahrhunderts, der Sohn eines Thierarztes, in Dättlikon geboren, kam der Angeklagte, 20 Jahre alt, zu Thierarzt Willi in Weiach und nach Verfluß eines Jahres in die Thierarzneischule in Zürich, wo er 1/2 Jahre verblieb. Nachdem er im Examen durchgefallen war, bildete er sich praktisch aus bei einem Thierarzt in Flaach, erstand dann das Examen und ließ sich selbständig nieder in Dättlikon.»
In den Jahren 1818 und 1819 war der junge Meier also Tierarztlehrling in Weyach. Wie er sich bei uns gehalten hat, ist in der NZZ nicht weiter dokumentiert, darüber finden sich eventuell noch Angaben in alten Weiacher Protokollen, beispielsweise denen des Stillstandes (Kirchenpflege und kommunale Sittenaufsicht).
Wahrlich kein unbeschriebenes Blatt
Dass ich das hier so explizit erwähne, kommt nicht von ungefähr, denn im Verlauf seines Lebens geriet Meier immer wieder mit seinen Zeitgenossen, den Obrigkeiten und den Gesetzen ins Gehege und wurde überdies gar verbeiständet.
So wurde vor Gericht ausgeführt, der Angeklagte habe zwar in Hüntwangen einen guten Ruf, sei aber in seiner alten Heimat Dättlikon (nördlich der Töss, zwischen Embrach und Neftenbach), wo er bis 1869 wohnte, wegen «Beschimpfung, Körperverletzung, falscher Zeugnisse, Ehebruchs und sehr oft wegen Verfehlung gegen das Medizinalgesetz bestraft worden. Vor 5 Jahren stand er in Untersuchung wegen Abtreibung, die Untersuchung wurde sistirt, der Angeklagte aber wegen wiederholter Pfuscherei mit Fr. 150 Buße belegt. 1857 wurde er wegen Verschwendung bevogtet.»
Da gab es also eine ganze Reihe von Warnsignalen und sogar bereits ein einschlägiges, wenn auch eingestelltes Strafverfahren, was natürlich aufhorchen lässt.
Der Gerichtsreporter zitiert den Staatsanwalt, der den Meier in seinem Schlussplädoyer als «gewerbsmäßigen Abtreiber» und «alten Sünder» bezeichnete, «dem seine Haushälterin treulich sekundire».
Viele Hilfesuchende landeten bei diesem Alternativpraktiker
Wobei ihm seine Lebenspartnerin in Hüntwangen geholfen hat, machte der Ankläger allen Anwesenden deutlich. Barbara Fisler war nämlich kurz nach dem Unfalltod ihres Mannes im Spätjahr 1870 mit dem seit kurzem getrennt lebenden Gemeindeammann zusammengekommen. Der habe sie darauf wie ein Sperber bewacht vor lauter Eifersucht und sie dann – weil immer noch verheiratet und damit als Ehebrecher strafbar – gezwungen, das Kind, das sie seit Dezember 1873 von ihm erwartete, abzutreiben. Hier kommt nun wieder Tierarzt Meier ins Spiel. In den Worten des NZZ-Journalisten:
«Der Angeklagte ist weithin bekannt als „Doktor Meier“ und er erfreut sich einer ganz ausgezeichneten Praxis, nicht bloß als Thierarzt, sondern vorzugsweise als Arzt gegen menschliche Gebrechen aller Art. Er beschaut „das Wasser“ der Patienten, erkennt daraus den Grund ihrer Leiden und receptirt, obwohl er eine geradezu gräuliche Orthographie schreibt, wie ein Professor. Als Frau Fisler ihn das erste Mal aufsuchte, traf sie ungefähr 25 Personen in seiner Wohnung, die auf den „Herrn Doktor“ warteten. Sie brachte das Wasser ihres unpäßlichen Knaben mit, der Doktor untersuchte dasselbe, fand, der Knabe leide am Herz und gab der Mutter Thee für ihn, später auch Tropfen. Gleichzeitig trug sie ihr persönliches Anliegen vor.»
Schwunghafter Handel mit Heilmitteln
Bei einer Hausdurchsuchung seien bei ihm «geradezu massenhaft [...] Briefe Hülfesuchender aus dem Kanton Zürich, Schaffhausen, Thurgau, Aargau; ja bis in's aufgeklärte deutsche Reich hinein» gefunden worden.» So habe unter anderen «eine Mutter von 14 Kindern» den «Doktor» angefleht, ihr «eine Mixtur gegen einen Krebs im Unterleib» zu geben, eine andere Frau wollte ein Mittel gegen «eine Geschwulst am Hals, die der Hausarzt nicht heilen kann; ein Gemeinderathschreiber will ein Mittel gegen Bangigkeit, ein Waisengerichtsschreiber ein solches gegen Lungenschwindsucht; gegen Magenleiden und Flechten, gegen Blasenleiden, Kopfschmerzen». Und so weiter. Ein wahrer Wunderdoktor also, der sich überdies als sehr guter Kunde diverser Apotheken erwies und seinerseits «Händlern ganze Kisten voll Güldenbalsam» lieferte.
Besonders begehrt: Mittel für danach...
«Zahlreich sind die Briefe um „die bekannte Waare für das Mädchen“ oder gar „für meine Frau“ und es sind diese Briefe theilweise mit ganz besonderen Artigkeiten ausgestellt. Der eine „ist der Kenntnisse des Herrn Doktors in der medizinischen Fakultät gewiß“, der andere fleht den „hochgeehrtesten Herrn Doktor“ um Zusendung weiterer stärkerer Mittel an, und zwar „auf mein Gewissen, nicht auf Ihr Gewissen, da ich eine Wittwe von 2 Kindern bin, während der Vater 5 Kinder hat“, und man bekommt durch den Einblick in diesen Theil der Praxis des „Herrn Doktor“ eigenthümliche Begriffe von der Sittlichkeit des Volkes.» Den letzten Satzteil würde man heute wohl als journalistische Einordnung bezeichnen.
Die Untersuchungsbehörden hätten sich gar veranlasst gesehen, «in einzelnen, besonders anstößigen Fällen gegen die Besteller solcher Waaren für ihre Frauen in Winterthur und Frauenfeld vorzugehen; die Untersuchung führte aber nicht zu förmlichen Anklagen.»
Sassafras und Tausendgüldenkraut
Aus medizin- und kulturhistorischer Sicht interessant ist, was Tierarzt Meier seinen menschlichen Patienten zu verordnen pflegte. Die NZZ bringt das erstaunlicherweise in aller Ausführlichkeit: «Gegen Brustleiden Franzosenholz, Sassafras und Bittersüß; Tisanenholz gegen Geschlechtskrankheiten; als Abführmittel gab er Glaubersalz und Salpeter; Frauen verordnete er gegen gewisse Leiden Turmentibwurzel und Tausendgüldenkraut. Daß er sehr häufig um Abtreibmittel angegangen werde, gab der Angeklagte zu, aber er will nie solchen Begehren entsprochen, die Leute entweder rund abgewiesen oder, „um sie los zu werden“, ihnen unschädliche Mittel gegeben haben. Auch Frau Fisler habe mehrere Mal und stürmisch Abtreibungsmittel verlangt, unter der Drohung, sonst werde sie sich das Leben nehmen u.s.w. Aber auch ihr, so behauptete er schon in der Voruntersuchung, habe er nur unschädliche Mittel gegeben: Sandelholz, Süßholz, Bittersüß, Fenchel, Calmiswurzel, Sassafras, Argemoniankraut, Tausendgüldenkraut, Lindenblüthen und Glaubersalz.»
Dass diese Mittel allesamt ungefährlich seien, konnte Meier vor Gericht zwar nicht bekräftigen, wies aber dennoch jede Schuld von sich:
«Der Angeklagte Meyer, ein robuster breitschultriger Greis mit starkem grauem Haar und Backenbart, gibt zu, daß er seit 55 Jahren „Menschen und Vieh praktizirt habe“, „wenn es gefährlich war, wies ich die Patienten zum Menschenarzt“. Mit Abtreiben habe er sich nie abgegeben. Die inkriminirten Briefe habe er nie gelesen, nur seine Haushälterin, die Regula, die den Leuten aber auch nichts gegeben habe. Frau Fisler habe Mittel „gegen den andern Stand“ verlangt, aber nichts als unschädliche Mittel, später einmal Mutterkorn erhalten; er habe sie gewarnt.»
Allzu erdrückende Indizien
Da auch der Bezirksarzt sich vor Gericht überzeugt zeigte, dass «die Frucht der Frau Fisler abgetrieben worden» sei, nützte auch der Einwand des Verteidigers, der «Beweis des Causalzusammenhanges zwischen den von dem Angeklagten verabreichten Mitteln und der Frühgeburt der Frau Fisler» sei nicht gegeben, nichts mehr: Barbara Fisler wurde zu 5 Monaten, Konrad Peter zu 9 Monaten und der Wunderdoktor zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt.
Die vollständige Berichterstattung können Sie auf e-newspaperarchives.ch nachlesen, siehe die Links in den Quellen.
Quellen
- Neue Zürcher Zeitung, Nummer 553, 31. Oktober 1874 Ausgabe 02.
- Neue Zürcher Zeitung, Nummer 555, 2. November 1874.
[Veröffentlicht am 12. November 2024 um 23:45 MEZ]
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