Dienstag, 14. Februar 2023

Eine «römische» Siedlung am Heidenbuck?

Dass die zeitliche Zuordnung «römisch» im Titel dieses Beitrags in Anführungszeichen gesetzt und erst noch mit einem Fragezeichen versehen ist, hat seinen guten Grund. 

Am Beispiel dieses historischen Weiacher Flurnamens lässt sich nämlich sehr gut aufzeigen, wie aus einer vorsichtigen Zuordnung durch einen allgemein anerkannten und als Koryphäe vergangener Zeiten auf den Sockel gestellten Gelehrten eine sozusagen unumstössliche «Wahrheit» werden kann.

Von Keller kolportiertes Gerücht...

In den Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft (MAGZ Bd. XV, Heft 3, Zürich 1864) findet sich der Beitrag «Statistik der Römischen Ansiedelungen in der Ostschweiz», verfasst von Ferdinand Keller (1800-1881), der auch weitere Weiacher Fundstellen beschrieben und eingeordnet hat, u.a. die Erdwallanlagen auf dem Ebnet und dem Wörndel (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 76).

Dabei handelt es sich, so Keller, um eine «Aufzählung der bis zum Jahr 1864 bekannt gewordenen römischen Ansiedelungen in der östlichen Schweiz» (in der Inhaltsübersicht spezifiziert er sie als «Statistik der militärischen Bauten, der Ortschaften und Landhäuser (Villen)»). 

Weiter macht er auf S. 63 in Fussnote 1 auch gleich eine wichtige Einschränkung zu dieser Aufzählung: «Wir müssen hier nochmals in Erinnerung bringen, dass in diesem Verzeichnisse nur diejenigen römischen oder gallorömischen Ansiedelungen aufgeführt sind, die sich durch Reste gemauerter Wohnungen kund geben.» Der Begriff gemauerter ist im Original gesperrt gesetzt. Allfällige Reste von Bauten, die aus weniger dauerhaften Materialien erstellt wurden (also z.B. grosse Feldlager in Holzkonstruktion oder Landarbeiterhäuser) sind somit - wiewohl ebenfalls aus der römischen Epoche - nicht aufgeführt.

Solche Titel spuren die Gedanken vor. Und man kann schon von Glück reden, wenn der Aspekt gallorömisch dabei nicht untergeht. Denn letztere Kulturhinterlassenschaften können auch noch viele Jahrzehnte nach dem eigentlichen Ende der Macht des Imperium Romanum über unsere Gegend entstanden sein, insbesondere im 5. und 6. Jahrhundert.

Der uns interessierende Eintrag zu unserer Gemeinde findet sich auf S. 117:

«Weiach. Der sogenannte »Heidenbuck« auf der Ebene zwischen diesem Dorfe und dem Rhein soll römisches Gemäuer enthalten.»

Es handelt sich also, wie die vorsichtige Formulierung erahnen lässt, um eine reine Vermutung. Man muss auch annehmen, dass Keller selber (oder ein von ihm Beauftragter) den Fundort nicht näher untersucht hat, obwohl ihm die ungefähre Ortslage durchaus bekannt gewesen sein dürfte.

...wird bei Heierli zu einer Gewissheit

Der ebenso umtriebige Forscher Jakob Heierli (1853-1912), wie Keller im Vorstand der Antiquarischen Gesellschaft Zürich, vertritt rund vier Jahrzehnte später eine andere Auffassung, wie man in seinem Artikel Über das römische Grenzwehr-System am Schweizer-Rhein sieht. Da heisst es nämlich (S. 35/36):

«In Kaiserstuhl sind überhaupt keine römischen Funde gemacht worden, [Fn-35-2] dagegen im „Heidenbuck" bei der Lebern in Weiach.[Fn-36-1] Sollte da vielleicht die in Kaiserstuhl gesuchte Zwischenstation gelegen haben?» (Jb. Geogr.-Ethnogr Ges. Zch, Bd. 5, 1904-1905)

Heierli diskutiert hier, ob an der Stelle des sog. «Römerturms» einer der Wachttürme entlang des spätrömischen Donau-Iller-Rhein-Limes gestanden habe, stellt fest, dass das dort heute zu beobachtende ährenförmige Mauerwerk auch frühmittelalterlich sein könne und kommt folgerichtig zur (nach heutigem Forschungsstand zu verneinenden) Frage, ob der Turm den Namen wirklich zu Recht trage. [Die angegebene Fussnote 2 auf S. 35 verweist auf: Heierli, Archäol. Karte des Kts. Aargau in Argovia XXVII., p. 52.]

Gleich anschliessend erklärt derselbe Heierli, es gebe römische Bauwerkreste am Weiacher Heidenbuck, wohl in der Hoffnung, dort den fehlenden Wachtturmstandort verorten zu können. 

Wenn wir annehmen, dass er hier lediglich auf Kellers oben zitierte Stelle aus dessen Statistik Bezug nimmt, dann schnitzert Heierli gewaltig.

Dass Heierli sich tatsächlich auf Keller bezieht, zeigt sich an der Fussnote 1 auf S. 36: Mitteilungen der Antiq. Gesellsch. Zürich XV 3, p. 117 [vgl. Zitat oben] und Heierli, Archäol. Karte des Kts. Zürich, p. 38

Da war wohl der Wunsch Vater des Gedankens, denn zumindest der WeiachBlog-Autor hat bisher keinen einzigen Hinweis auf Ausgrabungen Heierlis in der Ebene nördlich des Dorfkerns gefunden.

Verdachtsfläche auf Fundstellenkarte

Woher hat Heierli diese Gewissheit? Das wird klar, wenn wir die von Ferdinand Keller bereits 1862 herausgegebene Archäologische Karte des Kantons Zürich analysieren:


Das rote Ringlein zwischen dem S und dem T des Schriftzugs KAISERSTUHL auf Weiacher Gemeindegebiet ist die Signatur für eine Ansiedlung. Und da es kein Kommentarheft zu dieser Karte gibt, wird halt eben nicht deutlich, dass es sich lediglich um eine Art Verdachtsfläche handelt, wie Keller in seiner Statistik 1864 indirekt zu verstehen gibt.

Heierli hat drei Jahrzehnte später selber eine Karte unter demselben Titel veröffentlicht (herausgegeben 1894 von der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich im kantonalen Lehrmittelverlag):

Violett dargestellt sind römische Fundstellen, rot vorrömische Fundorte. Die Ansiedlung im Heidenbuck nördlich Weiach (hier nordöstlich des Ortskerns dargestellt) wird mit der entsprechenden Signatur konzentrischer Kreise angezeigt und im Register (einem Beiheft) auf S. 38 erwähnt. Und zwar ohne jeden Hinweis auf den Verdachtsflächenstatus.

Proliferation in die Sekundärliteratur...

Selbstverständlich werden solche Karten (und die Listen in den dazugehörenden Erläuterungen) fortan für bare Münze genommen, zumal da Heierli ca. zehn Jahre nach Erscheinen der Karte auch noch nachdoppelt (s. Zitat 1904/05) und das Keller'sche caveat (von 1864) schlicht weglässt.

In der Sekundärliteratur sind daher ab diesem Zeitpunkt jedes Fragezeichen und jeder Zweifel wie weggewischt: 

  • So in einem der Standardwerke unseres Landes, dem Geographischen Lexikon der Schweiz (GLS, Bd. 6, S. 592, Neuenburg 1910): «Römische Ansiedelung im «Heidenbuck».»
  • Daraus abgeleitet diskutiert Guntram Saladin (1887-1958), ein bedeutender Namenkundler, in den Freiburger Geschichtsblättern (Bd. 27 (1923), S. 28) die als gallorömisch gedeuteten -acum-Ortsnamen mit folgenden Worten:
    «In der Nähe der Strasse von Zurzach nach Juliomagus-Schleitheim treffen wir ein Küssnach. Rheinaufwärts gelangen wir nach Weiach [Fn-4], eine Stunde südostwärts nach Windlach [Fn-5], [...]»
    Fn-4: «Das Geograph. Lexikon nennt Funde aus der Bronze- u. Eisenzeit und einen röm. Wachtturm.»
    Fn-5: «Das Geograph. Lexikon erwähnt eine römische Ansiedelung auf dem Heidenbuck.»
    Bei der Fussnote 5 hat sich Saladin verhauen, indem er den Heidenbuck nachweislich falsch Windlach zuweist. Die entsprechende Seite im GLS zeigt, dass es sich wie bei Fn-4 um Weiach handelt.
  • Auch ein weiteres Standardwerk, das Historisch-biographische Lexikon der Schweiz (HBLS) sprang 1934 auf denselben Zug auf: «Römische Ansiedelung am "Heidenbuck"».
  • Woraus sich die entsprechenden Formulierungen in Hermann Fietz' Kunstdenkmäler des Kantons Zürich (Bd. II, S. 143, Basel 1943) sowie Ernst Maurers Die Kirche zu Weiach (S. 6, Weiach 1965) quasi automatisch ergeben.

... und das Fundstellen-Normblatt der Kantonsarchäologie

Fazit: eine sauberere Trennung zwischen bloss vermuteten und tatsächlich bestätigten Fundorten wäre hier enorm hilfreich gewesen. Dank der Keller'schen Kategorienvermischung von 1862 (dieselbe Signatur auf der Karte) bzw. 1864 (Verdachtsflächen in der Statistik und nicht separat behandelt) wird die Legende von römischen Gebäuderesten trotz fehlenden Grabungsunterlagen wohl weiterhin durch die Literatur geistern.

Dafür sorgt schon die (nach Meinung des Autors dieses Beitrags unzulässige) Verschmelzung des Flurnamens Heidenbuck mit der Fundstelle auf Lebern an der östlichen Abbruchkante des Dorfbachgrabens, wie sie im Fundstellen-Normblatt WACH.RZ002 der Kantonsarchäologie Zürich auftaucht. Ob es sich dabei tatsächlich um die Fundamentreste eines spätrömischen Wachtturms handelt, ist ausserdem wesentlich fraglicher als im Fall der Fundamente am Verfluchten Platz im Hardwald (WACH.RZ001).

Quellen und Literatur

  • Keller, F.: Archäologische Karte des Kantons Zürich. Nach den Untersuchungen von Dr. Ferd. Keller. Winterthur 1862. URL: https://doi.org/10.3931/e-rara-27256.
  • Keller, F.: Statistik der Römischen Ansiedelungen in der Ostschweiz. In: Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich (MAGZ), Bd. XV, Heft 3, Zürich 1864 – S. 117.
  • Heierli, J.: Archäologische Karte des Kantons Zürich. [Mit Beiheft: Erklärungen und Register]. Lehrmittelverlag des Kantons Zürich. Zürich 1894. URL: https://doi.org/10.3931/e-rara-20671.
  • Heierli, J.: Über das römische Grenzwehr-System am Schweizer-Rhein. In: Jahresberichte der Geographisch-Ethnographischen Gesellschaft in Zürich. Bd. 5 (1904-1905) – S. 21-70 (hier: S. 35/36).
  • Geographisches Lexikon der Schweiz (GLS). Neuenburg 1910 – Bd. 6, S. 592.
  • Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz (HBLS). Neuenburg 1934 – Bd. 7, S. 454. 
  • Saladin, G.: Zur Siedelungsgeschichte des freiburgischen Sensebezirks. Kapitel 1: Die helvetisch-römische Zeit. Die römische Besiedelung der Schweiz im allgemeinen. In: Freiburger Geschichtsblätter, Bd. 27, 1923 – S. 28.
  • Fietz, H.: Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich. Band II: Die Bezirke Bülach, Dielsdorf, Hinwil, Horgen und Meilen (Kunstdenkmäler der Schweiz, Bd. 15). Basel 1943 – S. 143.
  • Maurer, E.: Die Kirche zu Weiach. Weiach 1965 – S. 6.

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