Freitag, 31. März 2023

Mehr Brote verkauft dank süddeutschen Einkaufstouristen

Die Schweiz ist traditionellerweise kein Selbstversorger mit Brotgetreide. Das ist schon seit Jahrhunderten so. Die Binnenproduktion deckt den Bedarf nicht. Ohne Import explodieren die Brotpreise. Dann droht Aufruhr. Das war und ist jeder nicht auf Revolution erpichten und somit völlig lebensmüden Obrigkeit sonnenklar. Zumal, wenn sie – wie in den Kantonen der Eidgenossenschaft – nicht über ein schlagkräftiges stehendes Söldnerheer verfügt.

Die Zürcher Regierung hat daher (wie in WeiachBlog Nr. 1000 beschrieben) bereits kurz nach der Reformation staatliche Lagerhäuser betrieben, dank denen die gröbsten Preisausschläge bei Missernten zumindest etwas abgefedert werden konnten. Ausgangs des 18. Jahrhunderts gab es sogar Höchstpreisgrenzen, oberhalb derer staatlich interveniert und die Brot- und Mehlpreise für die nachweislich Bedürftigen gedeckelt wurden.

Soll man Importabgaben erheben? Und wie hoch dürfen sie sein?

Importzölle auf das Grundnahrungsmittel Brot (bzw. die dafür nötigen Getreide) sind daher eine heikle Angelegenheit. Und man sollte sie nicht zu hoch ansetzen. Auch wenn man damit allenfalls die einheimische Getreideproduktion ankurbeln kann. Gedanken zum Thema machte sich die «Neue Zürcher-Zeitung» (damals mit Bindestrich geschrieben) im Sommer 1890 in einem dreiteiligen Artikel. Darin werden die im Grenzgebiet auftretenden Preisdifferenzen zwischen dem Badischen (d.h. zum Deutschen Reich gehörendem Gebiet) und der Schweiz detailliert dokumentiert.

Aus unserer lokalhistorischen Sicht interessant sind die Angaben zu Kaiserstuhl, denn die dortigen Preise dürften sich nicht wesentlich von denen unterschieden haben, die auch von den Weiacher Bäckereien für ihre Brote verlangt wurden.

In Deutschland war's teurer!

«Auf dem badischen Ufer gegenüber von Kaiserstuhl waren in der zweiten Hälfte des Monats Dezember 1889 die Mehlpreise 2 1/2 bis 3 Mark für 100 Kilo höher als auf unserem Ufer.»

Dasselbe konnte man auch beim fertig gebackenen Brot feststellen: «Am 23. Dezember 1889 kosteten», so listete die NZZ auf, «2 Kilo Mittelbrod» (laut Idiotikon 5, 972 eine Art Halbweissbrot) in Kaiserstuhl 65 Rp. In der badischen Nachbarschaft hingegen umgerechnet 72.5 Rp. Einsparpotential für deutsche Kunden immerhin 10 %!

«2 Kilo Schwarzbrod» war in Kaiserstuhl für 55 Rp. zu haben. Ennet dem Rhein im Badischen musste man dafür umgerechnet 62.5 Rp. hinlegen. Die Hohentengener zahlten also im Städtchen für Ruchbrot sogar 12 % weniger.

Da lohnte sich der Gang am Hl. Nepomuk vorbei über die damals noch holzgedeckte Brücke. Denn bei der Rückkehr galt am deutschen Zoll beim Schloss Rötteln eine Freigrenze von 3 Kilo Brot pro Person und Tag. (NZZ, 16. Juni 1890)

Wir leben brottechnisch immer noch im Paradies

Was würde ein solcher 2-Kilo-Laib von 1889 in heutigen Preisen kosten? Nun, der wäre wirklich teuer. Laut dem Historischen Lohnindex (HLI) von swistoval.ch wären das in Kaiserstuhl 27 Franken für das Ruchbrot (im Badischen umgerechnet 30.85). Und 32 Franken für das Halbweissbrot (im Badischen umgerechnet 35.80)!

Da können wir uns wahrlich nicht beklagen über die heute zu bezahlenden Brotpreise. Selbst im März 2023 nicht. Bei der Migros kosten 2 Kilo Ruchbrot IP SUISSE aktuell weniger als 5 Franken. In einer gewerblichen Bäckerei zahlte man laut statista.com 2018 rund 10 Franken für 2 Kilo Ruchbrot. Für 2 Kilo einer Roggenmischung müssen allerdings laut Google aktuell rund 17 Franken hingeblättert werden.

Quellen und Literatur

Dienstag, 21. März 2023

Out of Kaiserstuhl. Zum Untergang der Credit Suisse

Da steht er nun, verloren, den Hauptbahnhof im Rücken. Die ETH ennet der Limmat am Berg droben, sie ist noch da, ein kleiner Trost. Aber dort, wohin seine Statue den Blick richtet, entlang der Bahnhofstrasse zum Paradeplatz, da klafft seit einigen Stunden eine Lücke. Der prestigiöse Hauptsitz der Credit Suisse mag noch vorhanden sein. Zu besichtigen ist nur noch eine institutionelle Ruine. Oder sollte man eher sagen: eine seelenentkernte Hülle?

Der Zürcher Freisinn ist am Ende

Alfred Eschers Kind, die Schweizerische Kreditanstalt, 1856 von ihm massgeblich mitinitiiert, ist tot. An jahrelanger angelsächsisch-amerikanischer Banking-Verwahrlosung zugrunde gegangen. Jämmerlich verreckt, weil Managernieten, Finanzmarktaufsicht, Nationalbank, Bundesrat und Parlament es in organisierter Verantwortungslosigkeit seit 2008 versäumt haben, ihre Krankheit adäquat zu bekämpfen. Es versäumt haben, unseren Finanzplatz gegen die Schikanierung durch fremde Regulatoren zu schützen.

Die Pleite der Credit Suisse weist weit über die rein finanztechnische Dimension hinaus, so weltfinanzsystemerschütternd sie auch sein mag. An ihrer Beerdigung läutet auch die Totenglocke für den Zürcher Freisinn. Auch dieser wurde massgeblich von Alfred Escher (1819-1882) geformt und angeführt. 

Diese Wirtschaftsfreisinnigen waren federführend bei der staatsstreichartigen Einführung des Bundesstaates im Herbst 1848. Den haben sie den Verlierern des Sonderbundskrieges von 1847 aufgezwungen. Ohne diesen Bundesstaat hätte der beispiellose wirtschaftliche Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht in dieser Form stattgefunden. Wenn überhaupt, dann viel langsamer. 

Das politische System des Princeps Escher war im Kanton Zürich bereits mit der neuen Verfassung von 1869 Geschichte (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 55). Jetzt ist auch das wirtschaftliche «System Escher» definitiv erledigt. Will heissen: Der alte Zürcher Freisinn ist final entzaubert und nicht einmal mehr ein Hologramm seiner selbst. Die paar Repräsentanten, wie Walter B. Kielholz, die noch in der realen Welt herumgeistern, sind aus der Zeit gefallen.

Quo vadis Alfred? Quo vadis Confoederatio Helvetica?

Eigentlich könnte man die Escher-Statue nun entfernen – was ja auch einige Linke aufgrund von (tatsächlichen oder vermeintlichen?) Kolonialismus-Verstrickungen der Familie Escher vom Glas fordern. Nur wohin mit ihr? Am konsequentesten wäre eine Verbannung dorthin, wo die Escher ursprünglich herkommen. In die kleine, auf Dreiecksgrundriss in sich ruhende Ministadt Kaiserstuhl am Rhein, deren erste Jahrzehnte (1255-1400) eng mit der Geschichte der wirtschaftlich und politisch schon im Spätmittelalter erfolgreichen Familie Escher verbunden sind.

Dieser Ort hat einen Symbolcharakter eigener Art. Seit dem 1. Januar 2022 ist die Stadt Kaiserstuhl nämlich kraft Volksentscheid ihrer Einwohner jeder Eigenständigkeit beraubt. Fortan wird sie aus der Ferne regiert. Wer www.kaiserstuhl.ch ansurft, landet auf der Website von Zurzach. Kaiserstuhl? Das ist nur noch eine historische Kulisse ohne kommunales Rückgrat.

Vielleicht sollte man Alfreds Statue doch besser nicht dorthin verfrachten, um das Menetekel SKA nicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung für den Kredit der Schweiz werden zu lassen. 

Auf einer höheren territorialen Ebene ist nämlich nicht nur die SKA, sondern auch Alfred Eschers Projekt Schweiz, mitsamt seiner Neutralität, seiner weltanschaulichen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strahlkraft – nach Meinung der Anführer des Welthegemons und obgenannter Freisinniger, die in seinem Fahrwasser mitschwimmen – ein Auslaufmodell. Nur noch überlebensfähig, wenn es die Eigenständigkeit verliert und die direktdemokratischen Rechte entkernt. Vor allem aber den Artikel 94 des Militärstrafgesetzbuchs ersatzlos streicht (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 29) und endlich im Gleichschritt unter blaugelben Fahnen mitmarschiert.

Warten wir also noch ab. Wenn unsere Eidgenossenschaft abgedankt hat und nicht nur wirtschaftlich von der City of London und der Wallstreet aus gelenkt, sondern auch politisch zu 100 % von Brüssel regiert wird (und wir dank «Good Governance» wieder beim absolutistischen Feudalismus und seiner euphemistisch als «gute Policey» bezeichneten Regierungspraxis angekommen sind), dann...

Ja, dann ist es noch früh genug, ihm in der alten fürstbischöflich-konstanzischen Heimat seine letzte Ruhestätte zu geben. Eine Bahnhaltestelle gibt's vor den Stadttoren seit 1995 nun auch. Dort hätte Alfred wenigstens noch den Blick auf das 1876 eröffnete Werk eines seiner frühverstorbenen Kinder, eine Strecke der Schweizerischen Nordostbahn (1853-1901).

Mittwoch, 15. März 2023

Patent Alfred Griesser. Zugstrange für Zugtiergeschirre

Nein, nicht Patent Ochsner. Es geht hier zwar auch um etwas, was zum Einführungszeitpunkt im Alltag präsent war. Und Ja, Sie haben richtig gelesen: «Strange». Nicht «Stange». Das zusätzliche «r» macht den Unterschied – gerade bei dieser Erfindung.

Der Eintrag zum Patent von Alfred Griesser aus Weiach unter der Signatur: StAZH PAT 2, 124 a, Nr. 104692 hat von den Erfassern des Zürcher Staatsarchivs zwar einen sonst formell wohl korrekten Eintrag im Online-Katalog erhalten. Aber Enthusiasten des Pferdefahrsports waren offensichtlich nicht unter ihnen. Sonst wäre die «Strange» nicht zur «Stange» geworden. Dieses Hilfsmittel ist nämlich auch Rösselern der Gegenwart wohlbekannt.

Durchs weltliche Kloster des Albert Einstein geprüft

Die heute vor 100 Jahren beim Eidgenössischen Amt für Geistiges Eigentum, dem heutigen staatlichen Institut gleichen Namens, dem IGE, eingereichten Unterlagen sind zwar nicht durch Hände und Kopf des Albert Einstein gegangen. Der wohl berühmteste Mitarbeiter der Bundesverwaltung und des IGE war zu diesem Zeitpunkt längst Nobelpreisträger. Für seine wissenschaftlich bahnbrechenden Überlegungen, die er ausserhalb der Arbeitszeit zu Papier gebracht hatte. 

Einstein hat die Arbeit als «technischer Experte 3. Klasse» bei der er Erfindungen auf ihre Patentierbarkeit prüfen musste, dennoch sehr geschätzt. Laut Website des IGE hat er die Institution so charakterisiert: «das weltliche Kloster, wo ich meine schönsten Gedanken ausgebrütet habe». Da kann jedes andere Schweizer Bundesamt einpacken.

Strassen mit vielen Schlaglöchern? Griesser schafft Abhilfe!

Doch Scherz beiseite und zurück in die landwirtschafliche Welt des Alfred Griesser. Ihm ging es in seiner Innovation um die Verbesserung der Leistung der Zugtiere. Je coupierter eine Wiese, je holpriger ein Wald- oder Feldweg, desto eher bleibt ein Wagen in diesen Unebenheiten hängen. Und das resultiert in unangenehmen Schläge auf die Zugeinrichtung, was die Zugtiere alles andere als schont.

An diesem Punkt setzt Griessers Erfindung an, eingereicht durch seinen Vertreter J.H. Hoerni in Zürich (mutmasslich der Patentanwalt), wie man im Digitalisat der Patentschrift beim Europäischen Patentamt auf espacenet nachlesen kann:

«Gegenstand vorliegender Erfindung ist eine Zugstrange für Zugtiergeschirre, die einen in der Zugrichtung federnden Teil aufweist.»

Nach der technischen Erläuterung werden die Vorteile erläutert:

«Die Wirkungsweise der erwähnten Zugstrange ist folgende:

Tritt beim Fahren infolge eines Hindernisses, zum Beispiel einer Erhöhung im Fahrweg, ein Widerstand auf, der plötzlich einen stärkeren als den normalen Zug bedingt, so muß dieser stärkere Zug dank der Anordnung des federnden Teils der Zugstrange von den Zugtieren nicht plötzlich, sondern nach und nach ausgeübt werden, bis der durch das Hindernis verursachte Widerstand überwunden ist, indem die Feder zuerst gespannt und nach Überwindung des Hindernisses entspannt wird.

Der Vorteil der gezeichneten und beschriebenen Zugstrange liegt darin, daß bei ihrer Verwendung sowohl Zugtiere, wie Fahrzeuge geschont werden.

Patentanspruch:

Zugstrange für Zugtiergeschirre, dadurch gekennzeichnet, daß dieselbe einen in der Zugrichtung federnden Teil aufweist.»

Technische Zeichnungen, heute für jedermann zum Nachbau

Wer will, kann die Zugstrange Patent Griesser heute selber nachbauen. Denn der Patentschutz ist längst abgelaufen: «Auf beiliegender Zeichnung ist ein Ausführungsbeispiel des Erfindungsgegenstandes dargestellt, und zwar zeigt: Fig. 1 eine teilweise Vorderansicht dieses an eine Zugwage anhängten Ausführungsbeispiels, Fig. 2 eine Draufsicht im Längsschnitt dazu, und Fig. 3 ein Schaubild.»

[Veröffentlicht am 24. Juni 2023 um 07:07 MESZ]

Montag, 6. März 2023

Dorflinde zum Freiheitsbaum umdeklariert?

Freiheitsbäume! Zu diesen Zeichen der (vermeintlich neu gewonnenen) Freiheit nach den Vorstellungen französischer Revolutionäre ist schon viel Druckerschwärze verbraucht worden. 

Ist es wirklich aus Frankreich stammende Symbolpolitik, solche Bäume aufzustellen? Oder haben die Franzosen das auch von anderswo übernommen? 

Der Titel dieses Beitrags könnte auch lauten: «Wann ist ein Freiheitsbaum ein Freiheitsbaum?» -- Muss man den erst fällen, weitgehend oder ganz entasten und ihn dann im Dorf aufstellen, so wie einen Maibaum? Wie kommt es zur Sitte, die eigene Dorflinde als Freiheitsbaum zu bezeichnen? Muss es zwingend ein Baum sein? Ist ein Baum der Eidgenossenschaft überhaupt angemessen? Nachstehend sei ein kleiner, anekdotischer Überblick zu diesen Fragen gegeben.

Danach gehen wir dann noch dem Thema nach, was die Süniker Franzosenlinde mit einer allfälligen Weiacher Freiheitslinde verbunden haben könnte.

Exported from British Colonial America

Bekanntlich sind die USA ein paar Jahre älter als die französische Revolution. Ihren eigenen Aufstand haben sie als anfangs noch britische Untertanen gegen königliche Beamte durchgezogen, u.a. mit dem Slogan «No taxation without representation». 

An einer Steuer hatte sich der ganze Unmut denn auch entzündet. Ab dem Frühling 1765 mussten die Kolonialbeamten ein neues Gesetz, den Stamp Act, durchsetzen. Darin war festgelegt, dass alle Gesetzesdokumente, Genehmigungen, Handelsverträge, Zeitungen, Pamphlete und sogar Spielkarten in den amerikanischen Kolonien neu mit einem Steuerstempel versehen werden mussten. Tönt harmlos, der König braucht halt Geld. Einige Kolonisten betrachteten das neue Gesetz aber als Zensur, als einen Angriff auf die Publikations- und Informationsfreiheit.

Am 14. August 1765 versammelte sich unter einer grossen Ulme bei Boston, Massachusetts, eine Gruppe, die sich Söhne der Freiheit nannte und demonstrierte dort gegen den Stempelerlass. Höhepunkt des Protestes war die symbolische Hängung von zwei Puppen, die Steuereintreiber darstellen sollten. Von da weg wurde dieser Baum als Liberty Tree bezeichnet, was der Kolonialverwaltung und den zur Krone loyalen Siedlern gar nicht gefiel. 

Der Konflikt schaukelte sich auf, in vielen weiteren Städten quer durch die 13 Kolonien wurden ebenfalls Bäume zu Liberty Trees ernannt. Diese dienten vermehrt als per-äxgüsi-Treffpunkte, weil die Polizeibehörden zwar Versammlungen der Protestler zu verhindern trachteten, aber gegen zufällig unter einem Baum abhängende Personen schlechter durchgreifen konnten. 1773 fand die berüchtigte Boston Tea Party statt, bei der als Indianer verkleidete Kolonisten Teeladungen ins Hafenbecken warfen. Der Bostoner Freiheitsbaum wurde 1775 schliesslich durch Loyalisten gefällt, was natürlich erst recht nicht zur Deeskalation führte. And the rest is history.

Parallelimport über unbekannte Wege

Bekannterweise gab es auch von der Schweiz aus vielfältige Verbindungen über den Atlantik in diese britischen Kolonien. Und auch wenn die Regierungen eidgenössischer Kantone ihren Untertanen das Auswandern dorthin im 18. Jahrhundert unter Strafe verboten hatten (so in den 1730ern die Zürcher), das Investieren in Unternehmungen, die von dort Waren bezogen und damit Handel betrieben, lag ihnen fern. Kurz: die Umstände und Protestformen dieser Kolonistenaufstände dürften über Nachrichtenkanäle auch hierzulande bekanntgeworden sein. 

Was die beiden Zürcher Paul Usteri (zeichnend als «Doktor Usteri»; Dr. der Naturwissenschaften) und Hans Conrad Escher (zeichnend als «Escher im Grabenhof»; der spätere «von der Linth») betrifft, so zeigt sich in der Ausgabe vom 6. März 1798 ihrer Zeitschrift Der schweizerische Republikaner, dass das Thema symbolpolitisch zwar primär von Frankreich ausgeht. Aber ihre Idee des Freiheitsbaumes scheint mir im Kern eine durchaus amerikanische zu sein, wenn auch auf schweizerische Gegebenheiten adaptiert:

Freyheitszeichen. 

«Freyheitsbäume und Cocarden sind in so fern ausserwesentliche Dinge, wenn sie nur bildliche Zeichen der Freyheit seyn sollen. — Wenn sie aber Parteyzeichen werden, so sind sie höchst gefährlich, weil Freyheit und Gleichheit keine Partey, sondern allgemein herrschender Wille seyn soll. Man muß das erstere so bald möglich verhüten; entweder sollte von höchster Instanz von der Landesversammlung, das Aufrichten der Freyheitsbäume und das Tragen der Cocarden verbotten oder aber authorisirt werden. Der größere Theil des Landes setzt einen Werth darauf, warum soll man es verbieten wenn es auch wirklich wegen der gespannten Stimmung geschehen könnte, warum nicht lieber es authorisiren um sonst so leicht entstehendes Unglück zu verhüten; Cocarden sowohl als Freyheitsbäume bewilligen, oder sogar befehlen, um, nicht dadurch wenn die Sache bloß frey gestellt würde, jn den Fall zu kommen, daß das tragen oder nicht tragen der Cocarden wieder zum Parteyzeichen werden konnte. 

Ich würde am liebsten in den Dörfern, wo die schönen alten Linden stehen, diese zu Freyheitsbäumen wählen; sie sind ehrwürdig durch Ihr Alter, sie haben auch Wurzeln, und unsere Voreltern machten sie schon zum Sitz traulicher Unterhaltung, ich würde sie auf keine Weise verstümmeln, es wäre schade, aber eine blecherne Tafel daran fest machen, mit folgender oder einer andern Aufschrift 

Freyheit und Gleichheit 
Die Rechte des Menschen sind wiedergegeben.
Den 5. Hornung 1798.

Die gesetzliche Ordnung allein wird sie erhalten. Nur Religion und Tugend kann uns dabey schützen. Wo noch keine Linden stehen, würde ich deren zwei pflanzen zwischen beyde eine einfache steinerne Säule mit obiger Inschrift. Die Wurzeln und Zweige der beyden Linden würden sich einst vereinigen und ein daurendes Symbol der Vereinigung der Stadt und des Landes bleiben.»

Das Bemühen um die Vermeidung der mit Händen zu greifenden politisch-weltanschaulichen Spaltung quer durch die Bevölkerungsschichten hindurch und der Kittungsversuch durch Verknüpfung mit traditional-lokalen Elementen der dörflichen Ordnung ist deutlich zu spüren. 

Die Dorflinden zu Freiheitsbäumen umzuwidmen ist Ausdruck dieses Bestrebens um Einigkeit. Denn damals war noch allgemein bekannt, dass unter solchen Lindenbäumen im Sommer oft auch Recht gesprochen wurde. Die Linde im Zentrum eines Dorfes hatte also durchaus eine ordnungspolitische Funktion. Und sei es primär in der Erinnerung an mittelalterliche Rechte der Landschaft, an die man dort durchaus anzuknüpfen gewillt gewesen wäre, wenn die Obrigkeit sie wieder uneingeschränkt gewährt hätte.

Karl Müller-Friedberg: Freiheitsbäume unschweizerisch

Am 20. März 1798 brachte dieselbe Zeitschrift einen Text von Karl Müller v. Friedberg, einem katholischen Glarner aus gehobenem Hause, der als letzter Landvogt das Toggenburg regiert hat. Er gehörte zur Zeit der Helvetischen Republik zu den Befürwortern der neuen zentralstaatlichen Ordnung (sog. Unitarier; im Gegensatz zu den Föderalisten, die den Einheitsstaat ablehnten):

Unter der Rubrik «Flugschriften» druckten Usteri und Escher «Mein letztes Vermächtniß an das edle Volk im Toggenburg» ab. Darin kritisiert er die fremde Sitte des Freiheitsbaums und wünscht sich eine Art «Freiheitsfelsen»:

«An die Stelle euerer Freyheitsbäume, die nicht schweizerischen Ursprungs sind, möchte ich Felsensteine wünschen, mit der Zahl des Jahrs und der einfachen Aufschrift: «Eintracht erhaltet uns frey.» Denn diese Lehre vorzüglich muß in allen Herzen fortgepflanzt werden.»

Ode an einen wieder verschwundenen «Freiheitsstiel»

Bei einigen Zeitgenossen Usteris, Eschers und Müllers war die Begeisterung über diese Freiheitssymbolik nie vorhanden. Anderen, die anfangs etwas für revolutionäre Ideen übrig hatten, wurden im Verlauf des Jahres 1798 die Augen geöffnet. 

Jedenfalls empfanden etliche Stadtzürcher den Freiheitsbaum auf dem Münsterhof, der von einem sog. Tellenhut aus Blech gekrönt war, als entsetzlich sinnentleertes Symbol. Und als besagter Baum in einer Nacht anfangs November von unbekannter Hand gefällt worden war, da soll das folgende Gedicht entstanden sein (Pestalozzi Revolutionspoesie 1882):

«Adieu! mein kahler Freiheitsstiel!
Zur Zeit, da mancher Bürger fiel,
Da fielst auch du mit Pomp und Pracht
In einer dunklen Regennacht.

Spitaler waren's, die dich pflanzten,
Spitaler, die einst um dich tanzten,
Spitalern warst Du Schild und Stab
Spitaler trugen dich zu Grab.

Leb' wohl und fahr' in süßer Ruh
Mit deinem Stamm dem Feuer zu.
»

Fussnote-2: «Die Insassen des damaligen Spitals waren zum Theil unbemittelte blödsinnige Leute, die zu öffentlichen Dienstleistungen benutzt wurden und wahrscheinlich auch den gefallenen Baum entfernen mußten. Die Anspielung ist stark genug, um ohne weitern Commentar verstanden zu werden.»

1798 mag das so gewesen sein. Glücklicherweise war dies bereits 1882 nicht mehr der Fall, sonst würde sich uns Heutigen der schwarze Humor hinter diesen Spottverslein erst recht nicht erschliessen.

Rückschau nach 100 Jahren

Prof. Viktor Toblers Beitrag «Die Freiheitsbäume vor hundert Jahren» von 1899 urteilt neutraler, wenn auch nicht positiv über die bäumige Zeit:

«Die französische Revolution hatte als sichtbares Zeichen der «Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit» den Freiheitsbaum erklärt. Unter ihm sollte die Aera der Freiheit durch den Bruderkuß besiegelt werden. Ueberall, wohin die siegreichen französischen Heere drangen, wurden solche Freiheitszeichen errichtet. Diese sogenannten Befreier verlangten deren Aufstellung, als Beweis der Zustimmung des Volkes zu den Grundsätzen der Revolution. Letztere waren in der Schweiz schon weit verbreitet; im Waadtland, am Zürchersee, im Toggenburg und vielen andern Gegenden wurden sie als Freudenbotschaft aufgenommen, als Beginn der Erlösung aus unerträglichem Drucke. Der Ruf nach Freiheit und Gleichheit drang durch die Lande und fand begeisterten Wiederhall in den Unterthanenländern und bei den zahlreichen bisher Unterdrückten. Offen und im Geheimen wurden die Umsturzbestrebungen vom französischen Geschäftsträger Mengaud und den überaus rührigen Patrioten unterstützt. Schon vor dem Einmarsche der Franzosen wurden Freiheitsbäume errichtet, so am 4. Januar 1798 im Waadtland, am 14. Januar in Liestal, am 1. Februar in Aarau. Das stolze Bern fiel am 5. März. Schon am 9. März wurde dort, vor dem Rathause, im Beisein einer ungeheuern Menschenmenge, bei Glockengeläute und Kanonendonner und Entfaltung großen militärischen Pompes, ein riesiger Freiheitsbaum gepflanzt. Der französische General Brune und alt Seckelmeister Frisching hielten dabei Ansprachen an das Volk. In weniger als vierzehn Tagen nach dem Falle Berns wurden in der Schweiz über 7000 Freiheitsbäume gepflanzt, in Zürich der erste am 13. März. Einige Gemeinden pflanzten Tannen von ungeheurer Größe und Höhe, teils mit der Rinde, teils geschält und bemalt. An vielen Orten sah man natürlich gewachsene, schlanke, hohe Bäume an Straßen, zu Freiheitsbäumen geweiht. Diesen hatte man die überflüssigen Aeste abgeschnitten und nur die grüne Spitze übrig gelassen. Jeder Baum trug als Bekrönung die aus Wolle oder Blech verfertigte Jakobinermütze. Fahnen in den helvetischen Farben, rot-gelb-grün und zahlreiche farbige Bänder umflatterten ihn. Die Aufstellung der Bäume wurde meistens von den Obrigkeiten angeordnet und war von Feierlichkeiten und Reden begleitet. Militärmusik spielte am Platze und eine bunte Menge tanzte, die Marseillaise und «ça ira» singend. In Aarau tanzten vornehme Frauen, alle mit Nationalbändern geziert, mit fränkischen, schweizerischen und deutschen Patrioten um den Baum. Eine Dame machte sich besonders bemerkbar, sie trug weiße Kleider und hatte einen Säbel umgegürtet. 

Ein Dekret vom Januar 1801 erklärte, daß in einer Gemeinde nur ein Freiheitsbaum nötig sei; es sollen daher schadhaft gewordene nicht wieder ersetzt, einer aber immer gut unterhalten werden. Von den fünf in Bern vorhandenen wurden dann alle entfernt bis auf einen, der beim Waisenhause stand. Mit dem Sturze der helvetischen Regierung verschwanden auch die letzten dieser Erinnerungen an eine für die Schweiz so traurige Zeit. 

Unser Bild führt uns nach St. Gallen und zeigt uns das vor 30 Jahren abgebrochene Marktthor, beim Rathaus. Dort wurde am 6. Mai 1798 der Freiheitsbaum aufgerichtet, wobei auch die vorher der Konstitution so abgeneigten Bürger und Landleute ihm, unter dem Drucke der französischen Besetzung, ihre Huldigung darbringen mußten.» (Tobler 1899)

Erster Freiheitsbaum in Stäfa

Zum 150-jährigen Jubiläum dieser helvetischen Freiheitsbaumeuphorie hat Hermann Schulthess in der Zeitschrift Am häuslichen Herd einen Beitrag veröffentlicht. Er erwähnt sowohl die Theorie, dass die Freiheitsbäume von den Maibäumen abzuleiten seien, wie die einleitend besprochene, dass die einen amerikanischen Ursprung hätten. 

Den ersten Freiheitsbaum auf Gebiet der heutigen Schweiz datiert Schulthess auf den Mai 1795. Er sei in Stäfa errichtet worden, samt Jakobinerhut, was mit eine Erklärung für die heftige Reaktion seitens der Zürcher Obrigkeit sein könnte. Denn klarer konnte man Umsturzpläne nicht zum Ausdruck bringen, als gerade mit einer phrygischen Mütze.

Die sogenannte Freiheitslinde von Sünikon

«Die markante Freiheitslinde von Sünikon (Gemeinde Steinmaur), die beim Einmarsch der Franzosen im Jahre 1798 gepflanzt wurde und heute noch erhalten ist, [...]». So beginnt ein kurzer Artikel mit Bild (s. unten) in der NZZ vom 23. August 1984. Diese Vorstellung war und ist denn auch weitherum im Zürcher Unterland in den Köpfen verankert. Das hier ist die Franzosenlinde. Punkt. Publizierte abweichende Ansichten habe ich bisher keine gefunden.

Dass dieser Umstand derart felsenfest feststeht, ist auch den historischen Aufzeichnungen geschuldet Laut Nadja Schneider, Präsidentin der Historischen Gesellschaft Steinmaur, sei dort die Rede von mehreren Linden und dass man am 29. April 1798 eine neue gesetzt habe.


Wie man dem 2021 festgesetzten Inventar der Denkmalschutzobjekte von überkommunaler Bedeutung des Kantons Zürich entnimmt, existiert das Original leider nicht mehr: «Die Platzmitte [Verzweigung Regensbergerstrasse-Lindenstrasse; Anm. WeiachBlog] wird von der 1798 anlässlich des Einmarsches der Franzosen gepflanzten Freiheitslinde eingenommen. 1999 knickte die Linde während des Sturms "Lothar" ab und es musste ein neuer Baum gesetzt werden

Dem Süniker Fritz Müller (88), ehemaliger Landwirt und Förster von Steinmaur war dieser Baum viele Jahre treuer Begleiter. Er schwärmt im Gespräch mit dem WeiachBlog-Autor geradezu von ihm. So sei er vor ca. 70 Jahren noch so dicht belaubt gewesen, dass man darunter auch nach einer Stunde heftigen Regens nicht nass geworden sei. In seinen letzten Jahren habe er aber sehr stark gelitten. Müller erwähnt baumchirurgische Massnahmen, die auch im NZZ-Artikel von 1984 angesprochen werden.

Nach der durch Lothar erzwungenen Fällung, so Müller, habe man den Stamm nicht jahrringmässig ausgezählt, da man aufgrund der chronikalischen Überlieferung überzeugt war, es müsse sich bei ebendiesem Baum um die Süniker Freiheitslinde mit somit ca. 205 bis 210 Altersjahren handeln.

Man sieht hier die Macht der dörflichen Überlieferung. Sie war (und ist) in Sünikon sozusagen unhinterfragbar. Sicher ist das aber keineswegs, wenn man sich den weiter oben zitierten Vorschlag von Usteri und Escher aus dem Frühjahr 1798 vergegenwärtigt. Vielleicht war der Lothar zum Opfer gefallene Baum ja insgeheim viel älter.

Zollinger auf der Suche nach einer Weiacher Freiheitslinde

Und damit kommen wir nun zum Schluss auf die eingangs erwähnten Linden von Weiach. Walter Zollinger hat diese Geschichte von der 1798 gepflanzten Süniker Freiheitslinde selbstverständlich gekannt. Für ihn war deshalb implizit klar, dass eine solche Freiheitslinde nur eine neu gepflanzte sein könne. Nachstehend die Passage aus seinem blauen Chronik-Büchlein im vollen Wortlaut:

«Vielerorts wurden die auch im Bülacher Distrikt einmarschierenden französischen Soldaten anfänglich freudig begrüsst. Betrachtete man sie doch eben als Bringer längst ersehnter Freiheiten und als Befreier aus der lästigen obrigkeitlichen Abhängigkeit. Freiheitsbäume wurden da und dort errichtet und freudig umtanzt oder gar junge Linden gesetzt, als Erinnerungszeichen der «bessern, neuen Zeit». Ob dies auch bei uns der Fall war, kann nicht mit Gewissheit festgestellt werden. Auf keinen Fall kann dies etwa die heute noch stehende alte und recht brüchig gewordene Linde gegenüber dem «Sternen» sein; denn diese stammt nach Angaben verlässlicher Dorfbewohner erst aus den 1830er Jahren. Ebenfalls soll, nach Aussage ältester Gemeindebürger, einst eine Linde gegenüber der alten Post (an der alten Zürcherstrasse) gestanden haben. Dies macht den Namen der Gastwirtschaft «Zur Linde» verständlich. Und in zwei Urkunden (und zwar aus den Jahren 1565 und 1601) ist auch ein Heini Meyerhofer als Aussteller eines Zinsbriefes genannt, «wonnhafft zu Wyach... von seinem huss und hofstatt am Lindenplatz sampt dem spicher, krut- und bombgarten aneinander gelegen ... stosset anderhalb an Curat Meierhoffer. » Und bei einem, allerdings viel später erfolgten Brandfall, ist auch ein Konrad Meierhofer bei der Post (wohl ein Nachkomme des obigen Curat) erwähnt, so dass daraus geschlossen werden dürfte, dass der obgenannte Lindenplatz wirklich in der Nähe der alten Post gelegen haben muss. Da er aber schon 1565 bestand, kann auch diese Linde keinesfalls eine Freiheitslinde von 1798/99 sein.» (Zollinger, Chronik Weiach, 1. Aufl. 1972 - S. 43-44)

Auch in Weiach hat man es (soweit der WeiachBlog-Autor die Überlieferung kennt) versäumt, die Jahrringe des auf der Sternenkreuzung gefällten Lindenbaumes auszuzählen. Damit hätte man dessen Alter zweifelsfrei bestimmen und die Angabe, er stamme erst aus den 1830ern, überprüfen können.

Dass es im alten Dorfzentrum an der Strassenspange aus Alte Post-Strasse, Oberdorfstrasse und Winkelstrasse mindestens einen markanten Lindenbaum gegeben haben muss, wird durch kolorierte Plänchen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigt (vgl. ZBZ GS PAS 547). Dieser Baum dürfte also aus dem frühen 18. Jahrhundert stammen oder noch älter gewesen sein.

Und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Weiacher in Anlehnung an die Vorschläge aus dem schweizerischen Republikaner diesen Baum zum amtlich befohlenen Freiheitsbaum umgewidmet haben. Dann muss man auch nicht immer wieder einen Stamm aus dem Wald holen, ihn entasten, entrinden und aufstellen lassen. Plakette an der Dorflinde befestigen und fertig. Usteri und Escher als Absender dieser Idee waren ja nicht der Konterrevolution verdächtig.

Der Baum als grünes Symbol der Hoffnung

Eines ist aber klar: die Leute interessieren sich für das Wohl und Wehe eines solchen Baumes. Zumal dann, wenn er mit Symbolkraft aufgeladen ist, wie man einer Kurznotiz in der Züricherischen Freitagszeitung, Nummer 43 vom 22. Oktober 1875 (notabene unter der Rubrik «Frankreich») entnehmen kann:

«Die Freiheitslinde von 1830 vor dem königl. Palast in Brüssel ist im Absterben. Ganz Belgien (!) sehe darin eine böse Vorbedeutung. Wir sind doch noch nicht über das Buschnegerthum hinaus.»

Was für eine böse Bemerkung. Angesichts der Geschichte dieser Region kann man den Belgiern solche Befürchtungen nicht ankreiden. Ihr Land samt Königswürde ist ja eben erst 1830 aus der Taufe gehoben worden. Der Zusammenhalt von Flandern und Wallonien ist keineswegs unverbrüchlich und das Königshaus deshalb von ziemlicher emotionaler Bedeutung. Der Baum ist Ausdruck dieser Gefühle.

Quellen und Literatur

  • Freyheitszeichen. In: Der schweizerische Republikaner. Siebentes Stück. Zürich, Dienstags den 6. Merz 1798 - S. 27-28.
  • Müller-Friedberg, K.: Mein letztes Vermächtniß an das edle Volk im Toggenburg. In: Der schweizerische Republikaner. Zwölftes Stück. Zürich, Dienstag den 20. Merz 1798 - S. 48.
  • Pestalozzi, F.O.: Ein zürcherischer Beitrag zur schweizerischen Revolutionspoesie. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1882. Neue Folge, Bd. 5 (1882) - S. 251.
  • Tobler, V.: Die Freiheitsbäume vor hundert Jahren. In: Die Schweiz. Schweizerische illustrierte Zeitschrift. Band 3 (1899) - S. 559.
  • Schulthess, H.: Freiheitsbäume. In: Am häuslichen Herd. Schweizerische Illustrierte Halbmonatsschrift. 51. Jg. Zürich, 1. August 1948 - S. 407-409.
  • Neue «Infrastruktur» für die Freiheitslinde in Sünikon. In: Neue Zürcher Zeitung, Nummer 195, 23. August 1984 - S. 46.
  • Telefongespräche vom 3. März 2023 mit Nadja Schneider, Präsidentin Historische Gesellschaft Steinmaur, sowie Fritz Müller (88), Sünikon, ehemaliger Landwirt und Förster von Steinmaur.

[Veröffentlicht am 23. Juni 2023 um 10:24 MESZ]

Mittwoch, 1. März 2023

Ein Weyacher als Beisitzer der provisorischen Kantonsregierung

Ein Hiesiger, der die Regierungsgeschäfte des Zürcher Staates in legislativer oder hoher exekutiver Position beeinflusst? Über Jahrhunderte völlig undenkbar. Bis zum Ende des Ancien Régime.

Das Jahr 1798 darf wohl als eines der turbulentesten der Schweizer Geschichte gelten. Als Startpunkt für die sehr konfliktreichen Jahre der Helvetik (1798-1803), der Mediation unter Napoleon (1803-1813), der Restauration (ab 1814) bis hin zum Bundesstaat von 1848, mit dem das Land seine neue Mitte zu finden begann.

Entsprechend war das auch im Zürcher Gebiet nicht anders. Die Machtverhältnisse und Befugnisse von Legislative, Exekutive und Judikative wurden in diesen Zeiten mehrmals neu ausgemarcht.

Doch blenden wir ein wenig zurück: «Ich halte es nicht für möglich, dass ihr Euch lange vor der Krankheit Frankreichs bewahren könnt, wenn wir nicht selbst gesunden oder ein Arzt uns dazu verhilft.» Diese Zeilen schrieb im Jahre 1790, kurz nach der Französischen Revolution, ein Informant der bernischen Regierung aus Paris (vgl. Messmer 2018).

Breite Unzufriedenheit, ja revolutionäre Grundstimmung auf der Landschaft

Weder das eine noch das andere konnte in der Folge bewerkstelligt werden, wie wir heute wissen. Im Kommentar zu einem grossen Übersichtswerk (Sämtliche Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi 1764-1804) findet man folgende Erläuterungen zu dem, was nach wenigen Jahren dann tatsächlich eintrat:

«Seit 1797 hatten sich in den schweizerischen Untertanengebieten Bewegungen entwickelt, welche nach dem Vorbild der Französischen Revolution Gleichheit anstrebten. Erfolgreich waren im Winter  1797/98 die Bewegungen im Unterwallis, Schaffhausen, Basel sowie in der bernisch besetzten Waadt. Die Erfolge motivierten auch Untertanen in anderen Gebieten der Alten Eidgenossenschaft, so auch die Landleute in Zürich, die der Stadt mit militärischem Umsturz drohten.

Als Bürger galten nur jene Einwohner der Stadt Zürich, die in einer Zunft organisiert waren. Alle anderen Einwohner des Kantons hatten keine vergleichbaren politischen Rechte. Nach der französischen Revolution waren immer wieder Stimmen auf der Landschaft laut geworden, wonach diese einseitigen Privilegien nicht legitimierbar seien. Gegen diese richteten sich die zornigen Proteste zu Beginn des Jahres 1798.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 344)

Unter diesen Revoluzzern fanden sich insbesondere diejenigen Kreise, die sich an der heutigen Goldküste für Reformen eingesetzt hatten, deren untertänige Bitten um Gehör bei den Mächtigen von diesen jedoch mit militärischem Eingreifen und juristisch härtesten Massnahmen beantwortet wurde. Diesen Fehler von 1795 beim von der Regierung durch ihr unbedachtes Handeln vom Zaun gebrochenen Stäfnerhandel hatten die Seebuebe noch nicht vergessen. 

Es setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass die Obrigkeit altverbriefte Rechte der Landschaft nicht wieder in Kraft setzen wollte. Und damit wuchs die Überzeugung, dass auf die althergebrachten, seit dem Spätmittelalter schriftlich überlieferten Übereinkünfte zwischen Herrschaft und Beherrschten kein Verlass mehr sei und man daher eine neue Form von Legitimität finden müsse.

Am Zürcher Rhein war es zwar vordergründig ruhig, aber auch in den Köpfen einiger Weycher dürften die französischen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Und diese Ideen waren nicht mehr auszurotten.

Das Ende des Ancien Régime und die Rolle des Stäfner Convent

Das war einigen der einsichtigeren Angehörigen der Führungsschicht sehr wohl bewusst. Zu mehr als ein paar huldvollen Gnadenakten war die Regierung (mit dem letzten Bürgermeister Hans Heinrich Kilchsperger) unter dem Druck der beharrenden Kräfte allerdings nicht bereit. Und damit völlig aus der Zeit gefallen. Selbst mit ein paar Reförmchen hätte man die jahrzehntelang unter dem Deckel behaltenen inneren Konflikte nicht mehr bereinigen können:

«Am 29. Januar 1798 verkündete der Bürgermeister eine Amnestie für die Zürcher Landschaft. «Nicht nur gänzliche Amnestie müssen wir geben, sondern zu gleicher Zeit auch Freiheit des Handels, der Handwerke und Studierfreiheit» (David von Wyss, zit. in: Böning 1998, S. 122). Es zeigte sich aber schon bald, dass die Landbevölkerung gegenüber der Regierung skeptisch blieb. Es herrschte die Meinung vor, dass die Sache der Landschaft nur unter dem Schutze Frankreichs verwirklicht werden könne.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 347 [zit. Lit.: Holger Böning: Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Zürich 1998])

Dafür sorgten auch französische Agenten, die im Hintergrund das Terrain für die Machtübernahme vorbereiteten, indem sie diese trügerischen Hoffnungen bestärkten und damit dafür sorgten, dass grosse Teile der Bevölkerung über die wahren Absichten und Aufträge der französischen Helvetien-Armee nicht im Bild waren. Der Widerstandswille war im Zürcher Gebiet (anders als bei den Bernern) jedenfalls nahe dem Nullpunkt.

«In der Folge demissionierte die Regierung (5. Februar 1798) und es bildeten sich Ausschüsse der Landgemeinden, die sich zum Stäfner Convent zusammenschlossen.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 347)

Das Ancien Régime war damit aber noch nicht am Ende, es wurde eine neue Regierung zusammengestellt. Diese wurde vom Stäfner Convent, der die revolutionär gestimmten Kräfte insbesondere vom Zürichsee umfasste, genauso bekämpft. 

Die moderateren Kräfte in diesen Regionen hatten es nicht leicht, auch wenn sie in die sogenannte Landes-Commission gewählt worden waren. Die war aus Abgeordneten aus allen Regionen zusammengesetzt und sollte über das weitere Vorgehen beraten:

«Die Landeskommission [...] war am 12. Februar erstmals zusammengetreten, wobei nur von den stadttreuen Landbezirken Abgeordnete erschienen. Am 18. Februar fand die Wahl der Deputierten statt, die am 21. erstmals zusammentraten und damit die neue Nationalversammlung in Zürich eröffneten. Damit waren die Spannungen aber noch nicht beseitigt. Das revolutionäre Comité forderte den Rücktritt der Regierung, da sie sich gegen die Neuorganisation der politischen Ordnung gewehrt habe, während die Stadt sich uneinsichtig zeigte. Ein Aufmarsch von 10’000 Mann brachte die Stadt aber zum Einlenken.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 349)

Regierungsgewalt geht doch an die Landeskommission

«Die Zusammenarbeit mit der Stadtregierung erwies sich als schwierig, am 21. Februar waren aber alle Hindernisse beseitigt und die Landeskommission konnte einberufen werden. Doch der Bürgerkrieg war dadurch noch nicht verhindert und es kam in der Folge zu mehreren kritischen Situationen zwischen den Abgeordneten der Landschaft und jenen der Stadt. Am 13. März dankte die provisorische Regierung ab, auf dem Münsterplatz in Zürich wurde ein Freiheitsbaum errichtet. Die Landeskommission erhielt zwei Tage später die Regierungsgewalt, die Truppen zogen sich in ihre Gemeinden zurück. Die Krise war überstanden.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 347)

Allerdings nicht für lange. Schon einen Monat später war wieder alles anders. Denn Mitte April zog die Landeskommission den Schwanz ein und Ende April übernahmen die Franzosen die Macht. Für jeden Einwohner offen sichtbar.

Die Sicht des Fachhistorikers

Im Historischen Lexikon der Schweiz stellt Martin Illi die Entwicklung etwas anders dar als die Kommentatoren der Briefe an Pestalozzi, insbesondere was die Zahl der Aufständischen betrifft, die in die Stadt eingezogen sind. Auch über den Tag des Rücktritts des Kleinen Rats, d.h. der alten Regierung (12. oder 13. März, gemäss Abkommen von Küsnacht vom 10. März) gibt es unterschiedliche Angaben:

«Der Einmarsch der französischen Truppen (Franzoseneinfall) in die Waadt im Januar 1798 stärkte die spätestens seit dem Stäfnerhandel fassbare revolutionäre Stimmung in der ländlichen Oberschicht vor allem in den Gemeinden am See, im Knonaueramt und im Zürcher Oberland. In der Erklärung vom 5. Februar 1798 anerkannten der Kleine und Grosse Rat die Freiheit und Gleichheit zwischen Stadt und Landschaft. Gleichzeitig setzte der Kleine Rat eine Landesversammlung ein, die sich aus 36 Abgeordneten aus der Stadt und 128 vom Land zusammensetzte. Die Deputierten trafen sich am 21. Februar in Zürich. Bereits am dritten Sitzungstag brach ein Streit aus; die revolutionären Komitees in der Zürichseegegend mobilisierten daraufhin etwa 1000 Männer, die am 12. März mit Stecken bewaffnet in die Limmatstadt einzogen. Weil noch am selben Tag der Kleine Rat zugunsten der Landesversammlung abdankte, beruhigte sich die Lage wieder. Bereits am 14. April stellte die Landesversammlung ihre Tätigkeit ein. Am 27. April besetzten französische Truppen Zürich.»

Als Vertreter des Neuamts in der Landeskommission

Doch jetzt zu diesem Weiacher in hoher Position, der im Titel angekündigt ist. 

Im 18. Jahrhundert war die Stelle des Weiacher Untervogts (mit weitergehenden Kompetenzen als ein heutiger Gemeindepräsident) über weite Strecken durch Angehörige der wohlhabenden Müller-Dynastie der Bersinger besetzt. Der letzte Untervogt in dieser Abfolge war offenbar derart angesehen innerhalb der Obervogtei Neuamt, dass er als Abgeordneter in die obengenannte Landeskommission gewählt wurde.

Die stramm regierungstreue Zürcher Zeitung (heutige NZZ) hat sich lange überlegt, ob sie sich zu den revolutionären Umwälzungen äussern solle. In der Nummer vom 24. Februar tut sie das dann auch und zwar mit durchaus bemerkenswerter Offenheit (vgl. WeiachBlog Nr. 1901 für den vollen Wortlaut). In derselben Nummer wird auch begonnen, die Liste der Abgeordneten, das «Verzeichnis der Landes-Commission» abzudrucken (NZZ vom 24. Februar 1798, S. 2-3).

In der darauffolgenden Ausgabe, der Zürcher Zeitung vom 28. Februar 1798, folgen - nach den Abgeordneten aus dem Knonauer Amt, dem Amt Wädenswil, dem Vertreter des Gebietes Sax (heutiges St. Galler Rheintal), der Obervogteien Altstetten (Zürich-Altstetten) und Regenstorf, sowie Bülach - auch die beiden Deputierten des Neuamts: «Hr. Untervogt Joh. Jakob Bersinger von Weyach, Hr. Lieut. Schmid von Stadel.»

Mit absoluter Mehrheit zum Beisitzer der Regierung gewählt

Aus diesen am 18. Februar gewählten Abgeordneten wurden insgesamt 24 ausgewählt, die die Regierung als Beisitzer unterstützen sollten. Sie waren als eine Art Ausschuss gedacht, der so etwas wie einen Kleinen Rat bilden sollte. 

Die Zeitschrift Der Schweizerische Republikaner veröffentlichte am 6. März 1798 das Wahlprotokoll der Landeskommission:


«Die gestern Abends genommnen Beschlüsse und getrofnen Verfügungen der provisorischen Regierung wurden der Landständeversammlung [es muss sich dabei um die Landeskommission handeln] nachrichtlich mitgetheilt, und hierauf die Wahlen der Beysitzer zu der provisorischen Regierung vorgenommen. Hierbey ward ein Verwandtschaftsausstand bis ins dritte Grad, und eine öffentliche Namsung aber heimliches Mehr beobachtet. — 

Die Wahlen fielen folgendermaaßen aus: 

1. Schultheiß Salomon Hegner von Winterthur. einhellig.
2. Adjutant Jakob Wunderli von Meilen, einhell.
3. Wachtmeister Jakob Büel von Stein, einhellig.
[...]»

Diese drei zuerst und mit offensichtlichem Mehr oder tatsächlich einstimmig gewählten Vertreter gehören durchwegs den nach der Stadt mächtigsten Zentren und Gebieten an: Winterthur, Goldküste, Stein am Rhein (das länger zu Zürich gehört hat, als es bisher zu Schaffhausen gehört).

Am Ende des Sitzungstages erscheint in einer Vierer-Liste von Vorgeschlagenen für den Sitz 17 von 24 Beisitzern erstmals ein Neuämtler: «Ulrich Bersinger von Weyach, 41 Stimmen.». Nur Landrichter Schellenberg von Wyßlingen (Weisslingen) erhält mit 65 Stimmen mehr Zuspruch.

Am heutigen Datum vor 225 Jahren, dem 1. März 1798, wurde er dafür dann in der 7. Sitzung mit 103 (!) Stimmen sehr ehrenvoll auf den 18. Platz gewählt. Die beiden Konkurrenten erhielten lediglich 25 bzw. 32 Stimmen. Nachdem alle 24 Beisitzer gewählt waren, mussten diese bereits in ihren ersten Einsatz und dem «Rat der 200» zuhören [unklar, welches Gremium damit gemeint ist].

Ist Ulrich gleich Johann Jakob? 

Stellt sich nur noch die Frage: Ist das derselbe Bersinger?  Antwort: Ja, ziemlich sicher.

Aufgrund des Umstandes, dass die ersten drei als Beisitzer Gewählten (Hegner, Wunderli, Büel; s. oben) bereits in die Landeskommission Gewählte sind und dies stichprobenartig auch bei weiteren Kandidaten festgestellt werden kann, ist es fast sicher, dass es sich hier um einen Fehler im Protokoll, bei der Übermittlung oder gar in der Druckerei handelt. 

Die theoretisch noch denkbare Variante, dass ausgerechnet ein anderer Bersinger aus Weyach in dieses Beisitzeramt gewählt wird - und das bei grosser Auswahl aus dem Rest des Staates und eingedenks der einleitenden Bemerkung, die auch der Republikaner abdruckt - ist dann doch zu abwegig, um nicht verworfen zu werden.

Quellen und Literatur

  • «Sechste Sitzung, den 28. Febr. und «Siebende Sitzung, den 1. Merz». In: Der schweizerische Republikaner, Band 1 (1798), S. 27, Siebentes Stück. Zürich, Dienstags den 6. Merz 1798.
  • Horlacher, R.; Tröhler, D. (Hrsg.): Sämtliche Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi. Kritische Ausgabe. 6 Bde. De Gruyter/Verlag NZZ, Berlin/Zürich, 2009-2015. Hier: Band 1 (2009), 1764-1804 - S. 344, 347, 349.
  • Illi, M.: Der Zürcher Staat im 19. und 20. Jahrhundert. Verfassungsentwicklung und politische Geschichte seit 1798. Helvetik, Mediation und Restauration. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Artikel Zürich (Kanton), Kapitel 4.1.1, Stand 24. August 2017.
  • Messmer, K.: «Dieses ist keine gewöhnliche Revolution». In: Blog Schweizerisches Nationalmuseum, 4. September 2018 (Aktualisiert am 1. September 2020).

[Veröffentlicht am 21. Juni 2023 um 19:55 MESZ]