Ein Hiesiger, der die Regierungsgeschäfte des Zürcher Staates in legislativer oder hoher exekutiver Position beeinflusst? Über Jahrhunderte völlig undenkbar. Bis zum Ende des Ancien Régime.
Das Jahr 1798 darf wohl als eines der turbulentesten der Schweizer Geschichte gelten. Als Startpunkt für die sehr konfliktreichen Jahre der Helvetik (1798-1803), der Mediation unter Napoleon (1803-1813), der Restauration (ab 1814) bis hin zum Bundesstaat von 1848, mit dem das Land seine neue Mitte zu finden begann.
Entsprechend war das auch im Zürcher Gebiet nicht anders. Die Machtverhältnisse und Befugnisse von Legislative, Exekutive und Judikative wurden in diesen Zeiten mehrmals neu ausgemarcht.
Doch blenden wir ein wenig zurück: «Ich halte es nicht für möglich, dass ihr Euch lange vor der Krankheit Frankreichs bewahren könnt, wenn wir nicht selbst gesunden oder ein Arzt uns dazu verhilft.» Diese Zeilen schrieb im Jahre 1790, kurz nach der Französischen Revolution, ein Informant der bernischen Regierung aus Paris (vgl. Messmer 2018).
Breite Unzufriedenheit, ja revolutionäre Grundstimmung auf der Landschaft
Weder das eine noch das andere konnte in der Folge bewerkstelligt werden, wie wir heute wissen. Im Kommentar zu einem grossen Übersichtswerk (Sämtliche Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi 1764-1804) findet man folgende Erläuterungen zu dem, was nach wenigen Jahren dann tatsächlich eintrat:
«Seit 1797 hatten sich in den schweizerischen Untertanengebieten Bewegungen entwickelt, welche nach dem Vorbild der Französischen Revolution Gleichheit anstrebten. Erfolgreich waren im Winter 1797/98 die Bewegungen im Unterwallis, Schaffhausen, Basel sowie in der bernisch besetzten Waadt. Die Erfolge motivierten auch Untertanen in anderen Gebieten der Alten Eidgenossenschaft, so auch die Landleute in Zürich, die der Stadt mit militärischem Umsturz drohten.
Als Bürger galten nur jene Einwohner der Stadt Zürich, die in einer Zunft organisiert waren. Alle anderen Einwohner des Kantons hatten keine vergleichbaren politischen Rechte. Nach der französischen Revolution waren immer wieder Stimmen auf der Landschaft laut geworden, wonach diese einseitigen Privilegien nicht legitimierbar seien. Gegen diese richteten sich die zornigen Proteste zu Beginn des Jahres 1798.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 344)
Unter diesen Revoluzzern fanden sich insbesondere diejenigen Kreise, die sich an der heutigen Goldküste für Reformen eingesetzt hatten, deren untertänige Bitten um Gehör bei den Mächtigen von diesen jedoch mit militärischem Eingreifen und juristisch härtesten Massnahmen beantwortet wurde. Diesen Fehler von 1795 beim von der Regierung durch ihr unbedachtes Handeln vom Zaun gebrochenen Stäfnerhandel hatten die Seebuebe noch nicht vergessen.
Es setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass die Obrigkeit altverbriefte Rechte der Landschaft nicht wieder in Kraft setzen wollte. Und damit wuchs die Überzeugung, dass auf die althergebrachten, seit dem Spätmittelalter schriftlich überlieferten Übereinkünfte zwischen Herrschaft und Beherrschten kein Verlass mehr sei und man daher eine neue Form von Legitimität finden müsse.
Am Zürcher Rhein war es zwar vordergründig ruhig, aber auch in den Köpfen einiger Weycher dürften die französischen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Und diese Ideen waren nicht mehr auszurotten.
Das Ende des Ancien Régime und die Rolle des Stäfner Convent
Das war einigen der einsichtigeren Angehörigen der Führungsschicht sehr wohl bewusst. Zu mehr als ein paar huldvollen Gnadenakten war die Regierung (mit dem letzten Bürgermeister Hans Heinrich Kilchsperger) unter dem Druck der beharrenden Kräfte allerdings nicht bereit. Und damit völlig aus der Zeit gefallen. Selbst mit ein paar Reförmchen hätte man die jahrzehntelang unter dem Deckel behaltenen inneren Konflikte nicht mehr bereinigen können:
«Am 29. Januar 1798 verkündete der Bürgermeister eine Amnestie für die Zürcher Landschaft. «Nicht nur gänzliche Amnestie müssen wir geben, sondern zu gleicher Zeit auch Freiheit des Handels, der Handwerke und Studierfreiheit» (David von Wyss, zit. in: Böning 1998, S. 122). Es zeigte sich aber schon bald, dass die Landbevölkerung gegenüber der Regierung skeptisch blieb. Es herrschte die Meinung vor, dass die Sache der Landschaft nur unter dem Schutze Frankreichs verwirklicht werden könne.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 347 [zit. Lit.: Holger Böning: Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Zürich 1998])
Dafür sorgten auch französische Agenten, die im Hintergrund das Terrain für die Machtübernahme vorbereiteten, indem sie diese trügerischen Hoffnungen bestärkten und damit dafür sorgten, dass grosse Teile der Bevölkerung über die wahren Absichten und Aufträge der französischen Helvetien-Armee nicht im Bild waren. Der Widerstandswille war im Zürcher Gebiet (anders als bei den Bernern) jedenfalls nahe dem Nullpunkt.
«In der Folge demissionierte die Regierung (5. Februar 1798) und es bildeten sich Ausschüsse der Landgemeinden, die sich zum Stäfner Convent zusammenschlossen.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 347)
Das Ancien Régime war damit aber noch nicht am Ende, es wurde eine neue Regierung zusammengestellt. Diese wurde vom Stäfner Convent, der die revolutionär gestimmten Kräfte insbesondere vom Zürichsee umfasste, genauso bekämpft.
Die moderateren Kräfte in diesen Regionen hatten es nicht leicht, auch wenn sie in die sogenannte Landes-Commission gewählt worden waren. Die war aus Abgeordneten aus allen Regionen zusammengesetzt und sollte über das weitere Vorgehen beraten:
«Die Landeskommission [...] war am 12. Februar erstmals zusammengetreten, wobei nur von den stadttreuen Landbezirken Abgeordnete erschienen. Am 18. Februar fand die Wahl der Deputierten statt, die am 21. erstmals zusammentraten und damit die neue Nationalversammlung in Zürich eröffneten. Damit waren die Spannungen aber noch nicht beseitigt. Das revolutionäre Comité forderte den Rücktritt der Regierung, da sie sich gegen die Neuorganisation der politischen Ordnung gewehrt habe, während die Stadt sich uneinsichtig zeigte. Ein Aufmarsch von 10’000 Mann brachte die Stadt aber zum Einlenken.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 349)
Regierungsgewalt geht doch an die Landeskommission
«Die Zusammenarbeit mit der Stadtregierung erwies sich als schwierig, am 21. Februar waren aber alle Hindernisse beseitigt und die Landeskommission konnte einberufen werden. Doch der Bürgerkrieg war dadurch noch nicht verhindert und es kam in der Folge zu mehreren kritischen Situationen zwischen den Abgeordneten der Landschaft und jenen der Stadt. Am 13. März dankte die provisorische Regierung ab, auf dem Münsterplatz in Zürich wurde ein Freiheitsbaum errichtet. Die Landeskommission erhielt zwei Tage später die Regierungsgewalt, die Truppen zogen sich in ihre Gemeinden zurück. Die Krise war überstanden.» (Briefe an Pestalozzi, Bd. 1, S. 347)
Allerdings nicht für lange. Schon einen Monat später war wieder alles anders. Denn Mitte April zog die Landeskommission den Schwanz ein und Ende April übernahmen die Franzosen die Macht. Für jeden Einwohner offen sichtbar.
Die Sicht des Fachhistorikers
Im Historischen Lexikon der Schweiz stellt Martin Illi die Entwicklung etwas anders dar als die Kommentatoren der Briefe an Pestalozzi, insbesondere was die Zahl der Aufständischen betrifft, die in die Stadt eingezogen sind. Auch über den Tag des Rücktritts des Kleinen Rats, d.h. der alten Regierung (12. oder 13. März, gemäss Abkommen von Küsnacht vom 10. März) gibt es unterschiedliche Angaben:
«Der Einmarsch der französischen Truppen (Franzoseneinfall) in die Waadt im Januar 1798 stärkte die spätestens seit dem Stäfnerhandel fassbare revolutionäre Stimmung in der ländlichen Oberschicht vor allem in den Gemeinden am See, im Knonaueramt und im Zürcher Oberland. In der Erklärung vom 5. Februar 1798 anerkannten der Kleine und Grosse Rat die Freiheit und Gleichheit zwischen Stadt und Landschaft. Gleichzeitig setzte der Kleine Rat eine Landesversammlung ein, die sich aus 36 Abgeordneten aus der Stadt und 128 vom Land zusammensetzte. Die Deputierten trafen sich am 21. Februar in Zürich. Bereits am dritten Sitzungstag brach ein Streit aus; die revolutionären Komitees in der Zürichseegegend mobilisierten daraufhin etwa 1000 Männer, die am 12. März mit Stecken bewaffnet in die Limmatstadt einzogen. Weil noch am selben Tag der Kleine Rat zugunsten der Landesversammlung abdankte, beruhigte sich die Lage wieder. Bereits am 14. April stellte die Landesversammlung ihre Tätigkeit ein. Am 27. April besetzten französische Truppen Zürich.»
Als Vertreter des Neuamts in der Landeskommission
Doch jetzt zu diesem Weiacher in hoher Position, der im Titel angekündigt ist.
Im 18. Jahrhundert war die Stelle des Weiacher Untervogts (mit weitergehenden Kompetenzen als ein heutiger Gemeindepräsident) über weite Strecken durch Angehörige der wohlhabenden Müller-Dynastie der Bersinger besetzt. Der letzte Untervogt in dieser Abfolge war offenbar derart angesehen innerhalb der Obervogtei Neuamt, dass er als Abgeordneter in die obengenannte Landeskommission gewählt wurde.
Die stramm regierungstreue Zürcher Zeitung (heutige NZZ) hat sich lange überlegt, ob sie sich zu den revolutionären Umwälzungen äussern solle. In der Nummer vom 24. Februar tut sie das dann auch und zwar mit durchaus bemerkenswerter Offenheit (vgl. WeiachBlog Nr. 1901 für den vollen Wortlaut). In derselben Nummer wird auch begonnen, die Liste der Abgeordneten, das «Verzeichnis der Landes-Commission» abzudrucken (NZZ vom 24. Februar 1798, S. 2-3).
In der darauffolgenden Ausgabe, der Zürcher Zeitung vom 28. Februar 1798, folgen - nach den Abgeordneten aus dem Knonauer Amt, dem Amt Wädenswil, dem Vertreter des Gebietes Sax (heutiges St. Galler Rheintal), der Obervogteien Altstetten (Zürich-Altstetten) und Regenstorf, sowie Bülach - auch die beiden Deputierten des Neuamts: «Hr. Untervogt Joh. Jakob Bersinger von Weyach, Hr. Lieut. Schmid von Stadel.»
Mit absoluter Mehrheit zum Beisitzer der Regierung gewählt
Aus diesen am 18. Februar gewählten Abgeordneten wurden insgesamt 24 ausgewählt, die die Regierung als Beisitzer unterstützen sollten. Sie waren als eine Art Ausschuss gedacht, der so etwas wie einen Kleinen Rat bilden sollte.
Die Zeitschrift Der Schweizerische Republikaner veröffentlichte am 6. März 1798 das Wahlprotokoll der Landeskommission:
Die Wahlen fielen folgendermaaßen aus:
1. Schultheiß Salomon Hegner von Winterthur. einhellig.
2. Adjutant Jakob Wunderli von Meilen, einhell.
3. Wachtmeister Jakob Büel von Stein, einhellig. [...]»
Diese drei zuerst und mit offensichtlichem Mehr oder tatsächlich einstimmig gewählten Vertreter gehören durchwegs den nach der Stadt mächtigsten Zentren und Gebieten an: Winterthur, Goldküste, Stein am Rhein (das länger zu Zürich gehört hat, als es bisher zu Schaffhausen gehört).
Am Ende des Sitzungstages erscheint in einer Vierer-Liste von Vorgeschlagenen für den Sitz 17 von 24 Beisitzern erstmals ein Neuämtler: «Ulrich Bersinger von Weyach, 41 Stimmen.». Nur Landrichter Schellenberg von Wyßlingen (Weisslingen) erhält mit 65 Stimmen mehr Zuspruch.
Am heutigen Datum vor 225 Jahren, dem 1. März 1798, wurde er dafür dann in der 7. Sitzung mit 103 (!) Stimmen sehr ehrenvoll auf den 18. Platz gewählt. Die beiden Konkurrenten erhielten lediglich 25 bzw. 32 Stimmen. Nachdem alle 24 Beisitzer gewählt waren, mussten diese bereits in ihren ersten Einsatz und dem «Rat der 200» zuhören [unklar, welches Gremium damit gemeint ist].
Ist Ulrich gleich Johann Jakob?
Stellt sich nur noch die Frage: Ist das derselbe Bersinger? Antwort: Ja, ziemlich sicher.
Aufgrund des Umstandes, dass die ersten drei als Beisitzer Gewählten (Hegner, Wunderli, Büel; s. oben) bereits in die Landeskommission Gewählte sind und dies stichprobenartig auch bei weiteren Kandidaten festgestellt werden kann, ist es fast sicher, dass es sich hier um einen Fehler im Protokoll, bei der Übermittlung oder gar in der Druckerei handelt.
Die theoretisch noch denkbare Variante, dass ausgerechnet ein anderer Bersinger aus Weyach in dieses Beisitzeramt gewählt wird - und das bei grosser Auswahl aus dem Rest des Staates und eingedenks der einleitenden Bemerkung, die auch der Republikaner abdruckt - ist dann doch zu abwegig, um nicht verworfen zu werden.
Quellen und Literatur
- «Sechste Sitzung, den 28. Febr. und «Siebende Sitzung, den 1. Merz». In: Der schweizerische Republikaner, Band 1 (1798), S. 27, Siebentes Stück. Zürich, Dienstags den 6. Merz 1798.
- Horlacher, R.; Tröhler, D. (Hrsg.): Sämtliche Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi. Kritische Ausgabe. 6 Bde. De Gruyter/Verlag NZZ, Berlin/Zürich, 2009-2015. Hier: Band 1 (2009), 1764-1804 - S. 344, 347, 349.
- Illi, M.: Der Zürcher Staat im 19. und 20. Jahrhundert. Verfassungsentwicklung und politische Geschichte seit 1798. Helvetik, Mediation und Restauration. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Artikel Zürich (Kanton), Kapitel 4.1.1, Stand 24. August 2017.
- Messmer, K.: «Dieses ist keine gewöhnliche Revolution». In: Blog Schweizerisches Nationalmuseum, 4. September 2018 (Aktualisiert am 1. September 2020).
[Veröffentlicht am 21. Juni 2023 um 19:55 MESZ]
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