Da steht er nun, verloren, den Hauptbahnhof im Rücken. Die ETH ennet der Limmat am Berg droben, sie ist noch da, ein kleiner Trost. Aber dort, wohin seine Statue den Blick richtet, entlang der Bahnhofstrasse zum Paradeplatz, da klafft seit einigen Stunden eine Lücke. Der prestigiöse Hauptsitz der Credit Suisse mag noch vorhanden sein. Zu besichtigen ist nur noch eine institutionelle Ruine. Oder sollte man eher sagen: eine seelenentkernte Hülle?
Der Zürcher Freisinn ist am Ende
Alfred Eschers Kind, die Schweizerische Kreditanstalt, 1856 von ihm massgeblich mitinitiiert, ist tot. An jahrelanger angelsächsisch-amerikanischer Banking-Verwahrlosung zugrunde gegangen. Jämmerlich verreckt, weil Managernieten, Finanzmarktaufsicht, Nationalbank, Bundesrat und Parlament es in organisierter Verantwortungslosigkeit seit 2008 versäumt haben, ihre Krankheit adäquat zu bekämpfen. Es versäumt haben, unseren Finanzplatz gegen die Schikanierung durch fremde Regulatoren zu schützen.
Die Pleite der Credit Suisse weist weit über die rein finanztechnische Dimension hinaus, so weltfinanzsystemerschütternd sie auch sein mag. An ihrer Beerdigung läutet auch die Totenglocke für den Zürcher Freisinn. Auch dieser wurde massgeblich von Alfred Escher (1819-1882) geformt und angeführt.
Diese Wirtschaftsfreisinnigen waren federführend bei der staatsstreichartigen Einführung des Bundesstaates im Herbst 1848. Den haben sie den Verlierern des Sonderbundskrieges von 1847 aufgezwungen. Ohne diesen Bundesstaat hätte der beispiellose wirtschaftliche Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht in dieser Form stattgefunden. Wenn überhaupt, dann viel langsamer.
Das politische System des Princeps Escher war im Kanton Zürich bereits mit der neuen Verfassung von 1869 Geschichte (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 55). Jetzt ist auch das wirtschaftliche «System Escher» definitiv erledigt. Will heissen: Der alte Zürcher Freisinn ist final entzaubert und nicht einmal mehr ein Hologramm seiner selbst. Die paar Repräsentanten, wie Walter B. Kielholz, die noch in der realen Welt herumgeistern, sind aus der Zeit gefallen.
Quo vadis Alfred? Quo vadis Confoederatio Helvetica?
Eigentlich könnte man die Escher-Statue nun entfernen – was ja auch einige Linke aufgrund von (tatsächlichen oder vermeintlichen?) Kolonialismus-Verstrickungen der Familie Escher vom Glas fordern. Nur wohin mit ihr? Am konsequentesten wäre eine Verbannung dorthin, wo die Escher ursprünglich herkommen. In die kleine, auf Dreiecksgrundriss in sich ruhende Ministadt Kaiserstuhl am Rhein, deren erste Jahrzehnte (1255-1400) eng mit der Geschichte der wirtschaftlich und politisch schon im Spätmittelalter erfolgreichen Familie Escher verbunden sind.
Dieser Ort hat einen Symbolcharakter eigener Art. Seit dem 1. Januar 2022 ist die Stadt Kaiserstuhl nämlich kraft Volksentscheid ihrer Einwohner jeder Eigenständigkeit beraubt. Fortan wird sie aus der Ferne regiert. Wer www.kaiserstuhl.ch ansurft, landet auf der Website von Zurzach. Kaiserstuhl? Das ist nur noch eine historische Kulisse ohne kommunales Rückgrat.
Vielleicht sollte man Alfreds Statue doch besser nicht dorthin verfrachten, um das Menetekel SKA nicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung für den Kredit der Schweiz werden zu lassen.
Auf einer höheren territorialen Ebene ist nämlich nicht nur die SKA, sondern auch Alfred Eschers Projekt Schweiz, mitsamt seiner Neutralität, seiner weltanschaulichen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strahlkraft – nach Meinung der Anführer des Welthegemons und obgenannter Freisinniger, die in seinem Fahrwasser mitschwimmen – ein Auslaufmodell. Nur noch überlebensfähig, wenn es die Eigenständigkeit verliert und die direktdemokratischen Rechte entkernt. Vor allem aber den Artikel 94 des Militärstrafgesetzbuchs ersatzlos streicht (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 29) und endlich im Gleichschritt unter blaugelben Fahnen mitmarschiert.
Warten wir also noch ab. Wenn unsere Eidgenossenschaft abgedankt hat und nicht nur wirtschaftlich von der City of London und der Wallstreet aus gelenkt, sondern auch politisch zu 100 % von Brüssel regiert wird (und wir dank «Good Governance» wieder beim absolutistischen Feudalismus und seiner euphemistisch als «gute Policey» bezeichneten Regierungspraxis angekommen sind), dann...
Ja, dann ist es noch früh genug, ihm in der alten fürstbischöflich-konstanzischen Heimat seine letzte Ruhestätte zu geben. Eine Bahnhaltestelle gibt's vor den Stadttoren seit 1995 nun auch. Dort hätte Alfred wenigstens noch den Blick auf das 1876 eröffnete Werk eines seiner frühverstorbenen Kinder, eine Strecke der Schweizerischen Nordostbahn (1853-1901).
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