Mittwoch, 20. November 2024

Si tacuisses... Vorlauter Gemeindepräsident

Manchmal ist es besser zu schweigen und gegenüber seinem Hofjournalisten kein Statement abzugeben. Denn hättest Du geschwiegen (so die Bedeutung des lateinischen Titelbeginns) wärst Du zwar nicht Philosoph geblieben (wie das geflügelte Wort im Original weitergeht), aber zumindest ein souveränerer Präsident, besserer Teamspieler und ausgefuchsterer künftiger Verhandler. 

Was ist vorgefallen? Gestern hat die Nagra unter erheblichen Begleitgeräuschen und Rascheln im Zeitungswald das sogenannte Rahmenbewilligungsgesuch für das Tiefenlager Nördlich Lägern beim Bundesrat eingereicht.

Die einen halten sich bedeckt... 

Astrit Abazi, seines Zeichens Journalist des Zürcher Unterländer, hat dazu am letzten Samstag in der Online-Ausgabe, am Montag auch in Print-Form einen Beitrag veröffentlicht mit dem Titel «Mögliches Referendum gegen das Tiefenlager spaltet die Region». Und fasst die Angelegenheit im Untertitel so zusammen: «Der Entscheid, wo das Lager für radioaktive Abfälle hinkommt, soll vors Volk. Das fordern Kritikerinnen und Kritiker. Die Standortgemeinden sehen es anders.» 

Liest man dann den Beitrag, dann sieht das allerdings so aus: Der Stadler Gemeindepräsident Schaltegger äussert sich zur Referendumsfrage nur indirekt und betont, der Gemeinderat werde die «spezifischen Interessen von Stadel» vertreten sowie «zeitnah und transparent» informieren. Abazi weiter: «Auch der Glattfelder Gemeindepräsident Marco Dindo möchte sich nicht dazu äussern.» 

Bei den politischen Exponenten unserer Nachbarn kann man da also nicht sagen, was sie denken. Ganz anders bei unserem eigenen Häuptling. 

... die andern fallen mit der Tür ins Haus

«Weiachs Gemeindepräsident Stefan Arnold wiederum macht klar: «Nein, die Gemeinde Weiach unterstützt kein Referendum.» Die politischen Behörden seien seit Jahren intensiv in den Prozess um das geologische Tiefenlager involviert worden. «Diese jahrelange, sachlich-kritische Auseinandersetzung mit allen relevanten Parteien und Organisationen basiert auf einer soliden Vertrauensbasis. Es gibt ein hohes Vertrauen in die bis heute involvierten Institutionen und in die unabhängige Prüfbehörde, welche den Prozess überwacht», sagt Arnold. [WeiachBlog: Er meint wohl das ENSI, eine Bundesstelle] 

Dass Gegner des Projekts ein Referendum ergreifen würden, sei klar gewesen, sagt Arnold. «Gleichzeitig möchten wir darauf hinweisen, dass viele der Gegner grundsätzlich Bedenken gegenüber dem Konzept eines Tiefenlagers haben, ohne bisher konkrete und konstruktive Alternativvorschläge zu unterbreiten.» Das erschwert es, den Diskurs auf eine sachliche und lösungsorientierte Ebene zu bringen. Arnold betont ausserdem, dass erst jetzt überhaupt die Prüfung und die Machbarkelt eines Tiefenlagers am besagten Standort beginnen. «Es wäre wohl viel seriöser, den langjährigen Prüf- und politischen Prozess abzuwarten», sagt er. «Denn – Stand heute – ist der Standort Nördlich Lägern lediglich ein Standortvorschlag.»»

Kommentar WeiachBlog 

Angesichts dieses Zitatefüllhorns weiss der Kommentator kaum, wo er anfangen soll... 

O-Ton Abazi: «Die Standortgemeinden sehen es anders».

Wirklich? Herr Abazi, ist Monsieur Arnold der Mediensprecher der Tiefenlager-Gemeindepräsidentenkonferenz GlaStaWei? Vielleicht sind ja Schaltegger und Dindo ganz anderer Meinung.

Oder ist Weiach allein massgebend? Genauer gesagt: nur der Weiacher Gemeinderat? Wir wissen ja nicht einmal, ob es sich bei dieser Auffassung um einen Gemeinderatsbeschluss, oder zumindest einen begründeten Konsens der Gemeinderäte und -innen handelt. Oder ob das nur die Privatmeinung des Herrn Präsidenten ist.

Was ist der Wille des Volkes?

O-Ton Arnold 1: «Nein, die Gemeinde Weiach unterstützt kein Referendum.»

La commune, c'est moi? Hat der Präsident je einmal Anstalten gemacht, herauszufinden, wie die Weiacher in ihrer Gesamtheit darüber denken? Und da geht es nicht nur um die Stimmberechtigten.

Ein solches Stimmungsbild wäre für ihn als – selbsternannten? – Verhandlungsführer in der Entschädigungsfrage dann doch von grosser Bedeutung. Läge eine repräsentative Meinungsumfrage vor, dann ist es egal, ob sie zugunsten der Nagra oder gegen das Projekt ausfällt. In den Verhandlungen mit der Atomlobby kann man das so oder so in klingende Münze umsetzen. Sind die Leute mehrheitlich positiv, dann braucht es Finanzspritzen, damit das so bleibt. Sind sie negativ eingestellt, dann kann man darauf pochen, dass man den Ortsansässigen zumindest mit möglichst viel Geld den Schneid abkauft.

Wo läge das Problem, wenn die Stimmung so ist, wie vor der ersten NAGRA-Bohrung, als die Gemeindeversammlung am 17. September 1980 mit 104 gegen 2 Stimmen konsultativ gegen das Vorhaben war? Auch dann ist es nur eine Frage des Verhandlungsgeschicks, die Haut der Weycher so teuer wie möglich zu verkaufen. Denn wenn die Atomlobby eines nicht brauchen kann, dann sind es unschöne Bilder, die in die Stuben von Herrn und Frau Schweizer flimmern. Bilder mit einer ihr ablehnend gegenüberstehenden Lokalbevölkerung, die auf die Barrikaden geht. Ob dann Mistgabeln und Traktoren mit von der Partie sind oder nicht.

Ungelegte Eier, aber vorsorglich kräftig gackern? 

O-Ton Arnold 2: «Es wäre wohl viel seriöser, den langjährigen Prüf- und politischen Prozess abzuwarten. Denn – Stand heute – ist der Standort Nördlich Lägern lediglich ein Standortvorschlag.»
 
Richtig. Das wäre es. Und erst in ca. sechs Jahren werden wir wissen, wie ein allfälliges Referendum ausfällt. Es kann ja durchaus sein, dass bei den Hiesigen bis dahin aus Passivität offene Ablehnung wird. Oder die Technologieschiene sich in eine andere Richtung entwickelt hat, daran arbeiten ja u.a. die Chinesen mit Hochdruck (Stichwort: Vierte Generation and beyond). Wenn aus Abfällen begehrte Rohstoffe werden, dann redet von Verlochen kein Mensch mehr. 

Da fragt man sich erst recht, wieso der Herr Präsident bei dieser Ausgangslage überhaupt nur schon von einer Verhandlungsführung mit den Atömlern zu träumen begonnen hat. 

Das geneigte Publikum darf sich seinen Reim darauf selber machen.

Quelle
  • Abazi, A.: Mögliches Referendum gegen das Tiefenlager spaltet die Region. In: Zürcher Unterländer, 18. November 2024, S. 3.

Dienstag, 19. November 2024

Gemeinderat gesteht: Schuldenobergrenze bleibt ein Luftschloss

«Im aktuellen Plan werden die finanzpolitischen Ziele mehrheitlich erreicht. Mit dem Infrastrukturneubau kann die Verschuldung allerdings während mehrerer Jahre nicht bei den gewünschten 5'000 Franken je Einwohner begrenzt werden. Dies ist dem Gemeinderat bewusst – als langfristiges Ziel wird die Obergrenze dennoch beibehalten.

Der Gemeinderat hat den Finanzplan 2024-2028 genehmigt. Dieser wird der Gemeindeversammlung vom 5. Dezember 2024 zur Kenntnisnahme vorgelegt.» (MGW, November 2024, S. 6)

Wie hoch sie denn nun wirklich sein wird, das verschweigt der Gemeinderat in seiner Berichterstattung im Mitteilungsblatt. Wird es bei den 9000 Franken liegen, von denen in früheren Finanzplänen die Rede ist (vgl. WeiachBlog Nr. 2000)? Wir wissen es nicht, denn der neue Finanzplan 2024-2028 ist immer noch nicht veröffentlicht.

Nur der Beleuchtende Bericht ist Pflicht

Muss der Gemeinderat aber auch nicht. Laut dem Gemeindegesetz (§ 19 Abs. 2 GG-ZH) hat der Gemeindevorstand lediglich den Beleuchtenden Bericht zum Budget spätestens zwei Wochen vor der Gemeindeversammlung den Stimmberechtigten zur Verfügung zu stellen, d.h. im Fall der Gemeinde Weiach auf der Gemeindewebsite aufschalten oder im Gemeindehaus auflegen zu lassen. Als Randnotiz sei erwähnt: Immerhin steht in besagtem Gesetzesartikel auch, dass die Gemeinde verpflichtet ist, den Beleuchtenden Bericht jedem Stimmberechtigten auf dessen Verlangen kostenlos zuzustellen.

Doch zurück zur Hauptsache: In welche Richtung sich das Weltfinanzsystem bei einem nicht unwahrscheinlichen Zusammenbruch der US-Überschuldungswirtschaft entwickeln wird, wissen wir nicht. Ein Zusammenbruch liegt durchaus im Rahmen des Möglichen. Der in früheren Zeiten normalerweise übliche Zins belief sich auf 5 % vom aufgenommenen Kapital. Bei den 20 Millionen CHF Schulden (9000 CHF x 2200 Einwohner) wären das nur schon für den Schuldendienst 1 Mio. Franken pro Jahr, entsprechend mind. 25 Steuerprozenten. 

Wie man das neben allen anderen Ausgaben künftig stemmen will, wenn die Kiesentschädigungen wegbrechen (und das werden sie mit Sicherheit) und falls die Tiefenlagermillionen ausbleiben, auf die man die Stimmberechtigten in verantwortungsloser Manier hoffen lässt (vgl. Beleuchtender Bericht zu Zukunft8187), darüber schweigt der Finanzvorstand lieber. Und versucht stattdessen, Kritiker seines Hazardspiels durch öffentliche Herabsetzung zum Schweigen zu bringen.


Freitag, 25. Oktober 2024

Margareta Kurz-Meierhofer: Stille Schafferin an der Heimatfront

Die im Ersten Weltkrieg geborene Generation wurde auch gleich im nächsten Weltkrieg zum Opfer. Das galt besonders für junge Frauen aus dem ländlich-bäuerlichen Umfeld. Pflichterfüllung stand über Selbstverwirklichung. Auch Sekundarschulabschlüsse, im nachstehend geschilderten Fall an der Bezirksschule Kaiserstuhl, halfen da wenig, wie dieser heute vor 50 Jahren publizierte Nachruf aus dem Thurgau zeigt:

«Klingenberg. Margareta Kurz-Meierhofer †. Margareta Kurz wurde 1915 in Weiach im Kanton Zürich geboren. Dort wuchs sie im Kreise ihrer sechs Geschwister auf, besuchte die Primar- und Bezirksschule und half daneben fleissig auf dem elterlichen Gehöft. Nach der Schulzeit trat sie in die Haushaltschule Wülflingen ein, nahm danach manche Stellen in Privathäusern an und half daneben weiterhin ihren Eltern. 1939 vermählte sie sich mit Hans Kurz. Bald danach brach der Krieg aus, und ihr Gatte musste einrücken. Sie selbst besorgte allein den Landwirtschaftsbetrieb im Klingenberg. Ihrer Ehe entsprossen 6 Kinder, vier Knaben und 2 Mädchen, denen sie eine treubesorgte Mutter war. Oft und gerne empfing sie Besuch. Manch einem von Sorgen Niedergedrückten konnte sie helfen. Das Geheimnis ihrer stillen Seelsorgetätigkeit bestand im geduldigen Zuhören und Mitfühlen. Wenn es die Zeit erlaubte, griff sie gerne zu einem guten Buch; ihre Lieblingsdichter waren die beiden Sänger des Bauerntums, Gotthelf und Huggenberger. Während einiger Zeit erteilte Margareta Kurz auch Sonntagsschule in Müllheim. 1966 musste sich die Verstorbene erstmals einer schweren Operation unterziehen. Später verschlimmerte sich ihr Gesundheitszustand wieder, und seit Mitte Januar dieses Jahres durfte sie nicht mehr aufstehen. Am 1. Oktober konnte sie ihr Leben im Kreise ihrer Angehörigen in ihrem Heim beschliessen. Wer sie gekannt hat, wird ihr ein ehrendes Andenken bewahren.»

Aus welchem Zweig der zahlreichen Meierhofer sie stammt, ist WeiachBlog bislang nicht bekannt, das wissen vielleicht noch einige Alteingesessene.

Klar ist aber, dass die allzu früh Verstorbene einst eine Schülerin des Weiacher Lehrers Walter Zollinger war. Der führte ab 1919 die 4. bis 8. Klasse und hatte damit bspw. im Schuljahr 1922 insgesamt 70 (!) Schülerinnen und Schüler zu betreuen. Wohlverstanden: in EINEM Schulzimmer des Alten Schulhauses...

Wer weiss, vielleicht hat Margareta den Bauerndichter Alfred Huggenberger (1867-1960) ja dank Zollinger kennengelernt, der ihn in seinen Schriften zitiert (vgl. WeiachBlog Nr. 741). Oder dank der Jugend- und Volksbibliothek Weiach. Die wurde 1862 explizit zum Zweck der Vermittlung guter Bücher eröffnet.

Quelle

[Veröffentlicht am 13. November 2024 um 00:43 MEZ]

Donnerstag, 24. Oktober 2024

Tierarzt lieferte «Waare für das Mädchen». 6 Monate Gefängnis!

Liebe, Verzweiflung, Krankheit, Tod und Verbrechen. Der perfekte Mix für eine saftige Geschichte in der Zeitung. Ein Fall wie geschaffen für einen Gerichtsberichterstatter.

Heute vor 150 Jahren begann im zürcherischen Pfäffikon ein Schwurgerichtsprozess, über den auch in der Neuen Zürcher Zeitung ausführlich berichtet wurde. WeiachBlog bringt hier Auszüge:

«Auf der Anklagebank erscheinen

1) Die seit 1870 verwittwete Frau Barbara Fisler, geborne Peier von Berg [am Irchel], geboren 1834, deren Ehemann beim Schlitten verunglückt ist, Mutter von 2 Kindern;

2) Konrad Peter von Berg, bis zum Beginn des gegenwärtigen Prozesses Gemeindammann [d.h. der Betreibungsbeamte] in Berg, verheirathet, Vater von 2 Kindern, unter der Anklage der Abtreibung durch innere und äußere Mittel;

3) Jakob Meier von Dättlikon, Thierarzt in Hüntwangen, geboren 1798, Wittwer, angeklagt, Räthe, Anweisungen und Mittel zu dieser Abtreibung gegeben und dadurch dieses gleichen Vergehens sich schuldig gemacht zu haben.»

In Weyach die Ausbildung zum Tierarzt begonnen

Letzterer soll uns hier besonders interessieren, denn er gab, da als einziger von den dreien nicht geständig, die eigentliche Veranlassung für diesen Prozess:

«Am Ende des vorigen Jahrhunderts, der Sohn eines Thierarztes, in Dättlikon geboren, kam der Angeklagte, 20 Jahre alt, zu Thierarzt Willi in Weiach und nach Verfluß eines Jahres in die Thierarzneischule in Zürich, wo er 1/2 Jahre verblieb. Nachdem er im Examen durchgefallen war, bildete er sich praktisch aus bei einem Thierarzt in Flaach, erstand dann das Examen und ließ sich selbständig nieder in Dättlikon.»

In den Jahren 1818 und 1819 war der junge Meier also Tierarztlehrling in Weyach. Wie er sich bei uns gehalten hat, ist in der NZZ nicht weiter dokumentiert, darüber finden sich eventuell noch Angaben in alten Weiacher Protokollen, beispielsweise denen des Stillstandes (Kirchenpflege und kommunale Sittenaufsicht).

Wahrlich kein unbeschriebenes Blatt

Dass ich das hier so explizit erwähne, kommt nicht von ungefähr, denn im Verlauf seines Lebens geriet Meier immer wieder mit seinen Zeitgenossen, den Obrigkeiten und den Gesetzen ins Gehege und wurde überdies gar verbeiständet.

So wurde vor Gericht ausgeführt, der Angeklagte habe zwar in Hüntwangen einen guten Ruf, sei aber in seiner alten Heimat Dättlikon (nördlich der Töss, zwischen Embrach und Neftenbach), wo er bis 1869 wohnte, wegen «Beschimpfung, Körperverletzung, falscher Zeugnisse, Ehebruchs und sehr oft wegen Verfehlung gegen das Medizinalgesetz bestraft worden. Vor 5 Jahren stand er in Untersuchung wegen Abtreibung, die Untersuchung wurde sistirt, der Angeklagte aber wegen wiederholter Pfuscherei mit Fr. 150 Buße belegt. 1857 wurde er wegen Verschwendung bevogtet

Da gab es also eine ganze Reihe von Warnsignalen und sogar bereits ein einschlägiges, wenn auch eingestelltes Strafverfahren, was natürlich aufhorchen lässt.

Der Gerichtsreporter zitiert den Staatsanwalt, der den Meier in seinem Schlussplädoyer als «gewerbsmäßigen Abtreiber» und «alten Sünder» bezeichnete, «dem seine Haushälterin treulich sekundire».

Viele Hilfesuchende landeten bei diesem Alternativpraktiker

Wobei ihm seine Lebenspartnerin in Hüntwangen geholfen hat, machte der Ankläger allen Anwesenden deutlich. Barbara Fisler war nämlich kurz nach dem Unfalltod ihres Mannes im Spätjahr 1870 mit dem seit kurzem getrennt lebenden Gemeindeammann zusammengekommen. Der habe sie darauf wie ein Sperber bewacht vor lauter Eifersucht und sie dann – weil immer noch verheiratet und damit als Ehebrecher strafbar – gezwungen, das Kind, das sie seit Dezember 1873 von ihm erwartete, abzutreiben. Hier kommt nun wieder Tierarzt Meier ins Spiel. In den Worten des NZZ-Journalisten:

«Der Angeklagte ist weithin bekannt als „Doktor Meier“ und er erfreut sich einer ganz ausgezeichneten Praxis, nicht bloß als Thierarzt, sondern vorzugsweise als Arzt gegen menschliche Gebrechen aller Art. Er beschaut „das Wasser“ der Patienten, erkennt daraus den Grund ihrer Leiden und receptirt, obwohl er eine geradezu gräuliche Orthographie schreibt, wie ein Professor. Als Frau Fisler ihn das erste Mal aufsuchte, traf sie ungefähr 25 Personen in seiner Wohnung, die auf den „Herrn Doktor“ warteten. Sie brachte das Wasser ihres unpäßlichen Knaben mit, der Doktor untersuchte dasselbe, fand, der Knabe leide am Herz und gab der Mutter Thee für ihn, später auch Tropfen. Gleichzeitig trug sie ihr persönliches Anliegen vor.»

Schwunghafter Handel mit Heilmitteln

Bei einer Hausdurchsuchung seien bei ihm «geradezu massenhaft [...] Briefe Hülfesuchender aus dem Kanton Zürich, Schaffhausen, Thurgau, Aargau; ja bis in's aufgeklärte deutsche Reich hinein» gefunden worden.» So habe unter anderen «eine Mutter von 14 Kindern» den «Doktor» angefleht, ihr «eine Mixtur gegen einen Krebs im Unterleib» zu geben, eine andere Frau wollte ein Mittel gegen «eine Geschwulst am Hals, die der Hausarzt nicht heilen kann; ein Gemeinderathschreiber will ein Mittel gegen Bangigkeit, ein Waisengerichtsschreiber ein solches gegen Lungenschwindsucht; gegen Magenleiden und Flechten, gegen Blasenleiden, Kopfschmerzen». Und so weiter. Ein wahrer Wunderdoktor also, der sich überdies als sehr guter Kunde diverser Apotheken erwies und seinerseits «Händlern ganze Kisten voll Güldenbalsam» lieferte.

Besonders begehrt: Mittel für danach...

«Zahlreich sind die Briefe um „die bekannte Waare für das Mädchen“ oder gar „für meine Frau“ und es sind diese Briefe theilweise mit ganz besonderen Artigkeiten ausgestellt. Der eine „ist der Kenntnisse des Herrn Doktors in der medizinischen Fakultät gewiß“, der andere fleht den „hochgeehrtesten Herrn Doktor“ um Zusendung weiterer stärkerer Mittel an, und zwar „auf mein Gewissen, nicht auf Ihr Gewissen, da ich eine Wittwe von 2 Kindern bin, während der Vater 5 Kinder hat“, und man bekommt durch den Einblick in diesen Theil der Praxis des „Herrn Doktor“ eigenthümliche Begriffe von der Sittlichkeit des Volkes.» Den letzten Satzteil würde man heute wohl als journalistische Einordnung bezeichnen.

Die Untersuchungsbehörden hätten sich gar veranlasst gesehen, «in einzelnen, besonders anstößigen Fällen gegen die Besteller solcher Waaren für ihre Frauen in Winterthur und Frauenfeld vorzugehen; die Untersuchung führte aber nicht zu förmlichen Anklagen

Sassafras und Tausendgüldenkraut

Aus medizin- und kulturhistorischer Sicht interessant ist, was Tierarzt Meier seinen menschlichen Patienten zu verordnen pflegte. Die NZZ bringt das erstaunlicherweise in aller Ausführlichkeit: «Gegen Brustleiden Franzosenholz, Sassafras und Bittersüß; Tisanenholz gegen Geschlechtskrankheiten; als Abführmittel gab er Glaubersalz und Salpeter; Frauen verordnete er gegen gewisse Leiden Turmentibwurzel und Tausendgüldenkraut. Daß er sehr häufig um Abtreibmittel angegangen werde, gab der Angeklagte zu, aber er will nie solchen Begehren entsprochen, die Leute entweder rund abgewiesen oder, „um sie los zu werden“, ihnen unschädliche Mittel gegeben haben. Auch Frau Fisler habe mehrere Mal und stürmisch Abtreibungsmittel verlangt, unter der Drohung, sonst werde sie sich das Leben nehmen u.s.w. Aber auch ihr, so behauptete er schon in der Voruntersuchung, habe er nur unschädliche Mittel gegeben: Sandelholz, Süßholz, Bittersüß, Fenchel, Calmiswurzel, Sassafras, Argemoniankraut, Tausendgüldenkraut, Lindenblüthen und Glaubersalz.»

Dass diese Mittel allesamt ungefährlich seien, konnte Meier vor Gericht zwar nicht bekräftigen, wies aber dennoch jede Schuld von sich:

«Der Angeklagte Meyer, ein robuster breitschultriger Greis mit starkem grauem Haar und Backenbart, gibt zu, daß er seit 55 Jahren „Menschen und Vieh praktizirt habe“, „wenn es gefährlich war, wies ich die Patienten zum Menschenarzt“. Mit Abtreiben habe er sich nie abgegeben. Die inkriminirten Briefe habe er nie gelesen, nur seine Haushälterin, die Regula, die den Leuten aber auch nichts gegeben habe. Frau Fisler habe Mittel „gegen den andern Stand“ verlangt, aber nichts als unschädliche Mittel, später einmal Mutterkorn erhalten; er habe sie gewarnt.»

Allzu erdrückende Indizien

Da auch der Bezirksarzt sich vor Gericht überzeugt zeigte, dass «die Frucht der Frau Fisler abgetrieben worden» sei, nützte auch der Einwand des Verteidigers, der «Beweis des Causalzusammenhanges zwischen den von dem Angeklagten verabreichten Mitteln und der Frühgeburt der Frau Fisler» sei nicht gegeben, nichts mehr: Barbara Fisler wurde zu 5 Monaten, Konrad Peter zu 9 Monaten und der Wunderdoktor zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt.

Die vollständige Berichterstattung können Sie auf e-newspaperarchives.ch nachlesen, siehe die Links in den Quellen.

Quellen

[Veröffentlicht am 12. November 2024 um 23:45 MEZ]

Mittwoch, 23. Oktober 2024

Wenn der Präsident des Ehegerichts Deine Hochzeit bewilligt

Im Zusammenhang mit dem sog. Krieghof gibt es dieses Jahr nicht nur ein 250-Jahr-Ereignis, dessen gedacht werden sollte, sondern ebenso ein 300-jähriges. Auch in diesem Fall handelt es sich um den Hochzeitstag eines Baumgartners im Krieg.

Die älteste erhalten gebliebene und uns bekannte Erwähnung «der Bomgartern vnd Krieghof zue Wiach» datiert auf 1635 (vgl. WeiachBlog Nr. 2097; dort auch die Jahre 1672 und 1774).

Der Weiacher Pfarrer machte nur die Buchhaltung ...

Unter dem heutigen Datum vor 300 Jahren notierte der Weiacher Pfarrer im Ehebuch die Trauung von Jakob Baumgartner mit Anna Meierhofer, beide aus unserer Gemeinde, und zum Bräutigam die Erläuterung: «Jacob Baumgartners Schneiders im Krieg».

Speziell an dieser Hochzeit ist, dass es unter demselben Datum auch einen Eintrag in einem Ehebuch in der Stadt Zürich gibt. Und zwar mit dem Vermerk «perm. Ampl. Praeside Cons. Matrim.». Heisst: Mit Genehmigung durch den Vorsitzenden des Ehegerichts. Diese Behörde war die oberste Instanz des Zürcher Stadtstaates in familien- und unterhaltsrechtlichen Angelegenheiten. 

... die Kasualie wurde in der Stadt vollzogen

Angesichts des Doppeleintrags und insbesondere des Bewilligungsvermerks darf angenommen werden, dass die kirchliche Zeremonie in einer der Zürcher Stadtkirchen stattfand.

Was genau vorgelegen hat, dass der Präsident des Ehegerichts sein Plazet geben musste? Dazu wäre in den Akten des Ehegerichts nachzusehen. Vielleicht steht dort etwas Sachdienliches. 

Am wahrscheinlichsten ist ein näherer Verwandtschaftsgrad, als er in der Gesetzgebung vorgesehen war. Die Zürcher Regierung wollte damit der Inzucht vorbeugen, eine Gefahr, die beim sog. «Heiraten über den Miststock» regelmässig drohte. Diese Praxis bestand nicht zuletzt wegen der fiskalischen Hürden beim Umzug von Frauengut selbst zwischen zürcherischen Land- und Obervogteien (vgl. WeiachBlog Nr. 2079).

Quellen und Literatur

  • Baumgartner, Jakob, getraut mit Meierhofer, Anna, 1724.10.23. Signatur: StAZH E III 136.1, EDB 658.
  • Baumgartner, Jakob, Weiach, getraut mit Meierhofer, Anna, Weiach, 1724.10.23. Signaturen: StAZH TAI 1.740 (Teil 1); StadtAZH VIII.C.6., EDB 1795.
  • Brandenberger, U.: Eine Frau aus dem falschen Nachbarort kam teuer zu stehen. WeiachBlog Nr. 2079, 12. April 2024.
  • Brandenberger, U. «Im Chrieg». Zu den Ursprüngen eines Weiacher Siedlungsnamens. WeiachBlog Nr. 2097, 10. Mai 2024. 

Mini-Serie «Im Chrieg. Ein Weycher Flurname», Teil 5

Dienstag, 22. Oktober 2024

Nächtliche Übung auf Gegenseitigkeit mitten im Dorf, 1943

In den Jahren vor dem Fall der Berliner Mauer anfangs November 1989 gab es hierzulande noch viele Militärmanöver, in denen die Planer ganze Grossverbände mit mehreren tausend Wehrmännern (Brigaden, Divisionen, etc.) aufeinanderprallen liessen. 

Überall ratterten zu jeder Tages- und Nachtzeit die Panzerketten, hinter gefühlt jeder zweiten Scheune lugte ein Gewehrlauf hervor. Und die Zivilschutzanlage Hofwies (unter dem Pausenplatz) war regelmässig mit Truppeneinquartierungen belegt. Zur Freude der Schulkinder (Biscuits, Biscuits!!) und zum Entsetzen einiger Lehrkräfte (Wachtdienst mit Kampfmunition).

Auch im Zweiten Weltkrieg gab es Übungen, die allerdings in viel kleinerem Massstab durchgeführt wurden. Eine, die im Sommer 1943 mitten im Weiacher Ortskern Angriff und Verteidigung im überbauten Gebiet trainierte, ist in gleich zwei Kompanie-Tagebüchern dokumentiert: Dem der Grenzfüsilierkompanie V/269, stationiert in Kaiserstuhl und dem der Gz Füs Kp II/269, abkommandiert nach Weiach. 

Mondhelle Nacht erschwerte das Anpirschen

Es sind Einträge, in denen dicht an dicht Weiacher Örtlichkeiten und Namen von Weiacher Wehrmännern Erwähnung finden.

Unter dem Samstag, 14. August 1943 findet man bei der fünften Kompanie den folgenden Vermerk:

«0015 Beginn der Nachtübung gegen die II. Kp. Abmarsch gruppenweise nach Saxenholz. Auftrag der Kp.: Strassenkreuz mit den Zündstellen in W. in Besitz nehmen. Kampf-Idee: 9 Patrouillen arbeiten sich an die Zündstellen heran, (sternförmig) um dieselben um 0415 in Besitz zu nehmen. 0415 erfolgt Scheinangriff, unmittelbar darauf der Hauptangriff. Die helle Nacht erschwert dem Angreifer das Heranarbeiten an den Feind. Die II. Kp hat sich igelförmig zur Verteidigung eingerichtet.» (Tagebuch Gz Füs Kp V/269, Dok_8, S. 14/15)

Man sieht hier, dass auch die Hauptachsen in und durch Weiach mit Sperren versehen und als Sprengobjekte definiert waren, befestigt und mit Mineuren besetzt, die sie jederzeit in die Luft jagen konnten, um den Feind (in der Realität: die Wehrmacht Hitlerdeutschlands) in seinem Angriffsschwung zu bremsen. Es ging darum, zu überprüfen, ob man die Bewachung dieser Sperre im Handstreich überwältigen könne.

Der Ablauf aus Sicht des Angreifers

Ebenfalls in den Unterlagen der aus Kaiserstuhl vorrückenden Truppe ist eine Zusammenstellung der erfolgten Meldungen von 8 der 9 Patrouillen erhalten, samt Abgangszeitpunkt auf der Meldung und dem Zeitpunkt des Eintreffens beim Kompaniekommandanten, übermittelt offenbar durch Meldeläufer:

Tagebuch Gz Füs Kp V/269; Dokument-Fortsetzung_0000009, S. 59 

Ziel war die zentrale Schlüsselposition, die Zündstellen, die sich ungefähr dort befunden haben, wo heute die Chälenstrasse und die Büelstrasse von der Stadlerstrasse abgehen.

Meldungen von der Nacht - Uebung vom 14.8.43.

[geordnet nach Zeitpunkt der Meldungserstellung]

«0220 Gruppe Schenkel Hans: ist ca. 200 m Ostl. von Kirche Weiach in Ausgangsstellung. Vom [supponierten] Feinde nichts bemerkt.

0230 Gruppe Kpl. Piller: über Höhberg [Höbrig] nach Säge Weiach gelangt, vom Feinde nichts bemerkt.

0250 Gruppe Wm. Zollinger: bei der Trotte Weiach [gemeint: heutige Trottenstr. 7] vom Feinde nichts bemerkt.

0250 Gruppe Bersinger: Gruppe von Süden gegen Kunsum Weiach vorgestossen bis 30 m vom Objekt bei Meierhofer entfernt. Hinter Konsum auf Feind gestossen. Eine Signaleinrichtung zerstört.

0300 Gruppe Kpl. Lips: hat den Stacheldraht Ausgang Oestl. Weiach überschritten und ist bis Neuhof Weiach vorgestossen. Vom Feinde nichts bemerkt.

0300 Gruppe Meierhofer Ar. von Bunker Weiach-Ost[:] Barrikade nicht besetzt. Gruppe rückt weiter vor in Richtung Gemeindehaus. Kein Feind bemerkt.

0310 Gruppe Kpl. Schumacher meldet von Osten her über Fastnachtfluh-(unterer Rand) angeschlichen. Stosse weiter Richtung Zündstelle Weiach vor. Vom Feinde nichts bemerkt.

0310 Gruppe Wm. Gut: meldet südl. der Strasse (zwischen) Weiach-Bachs zwischen Schulhaus und Kunsum [sic!] Weiach vorgestossen.  3 Mann ca. 40 m von der Zündstelle entfernt.»

Vier oder gar fünf der Patrouillen hatten einen Gruppenführer, der in Weiach ansässig gewesen sein dürfte. Bei Wachtmeister Zollinger (jawoll, es handelt sich um den hiesigen Dorfschullehrer und späteren Chronisten) wissen wir das mit Sicherheit. Und bei den Soldaten Meierhofer Arnold und Bersinger dürfen wir es mit fast ebenso hoher Wahrscheinlichkeit annehmen. Zollinger war mitten in der Nacht nur wenige Meter von seinem Wohnhaus am Müliweg 4 entfernt. 

Allein schon die Koordination zwischen den fünf Gruppen, die sich östlich des Dorfkerns durch die nächtliche Landschaft vorgearbeitet haben, dürfte alles andere als einfach gewesen sein. Man konnte ja nicht per Funkgerät oder gar Mobiltelefon kommunizieren.

Die Gruppe von Wachtmeister Gut muss sich südlich der Chälenstrasse über die Hofwiese zwischen Altem Schulhaus und dem VOLG-Gebäude bewegt haben.

Die Sicht des Verteidigers der Zündstellen in Weiach

Die Gz Füs Kp II/269 hatte es bei dieser Bataillonsübung einfacher. Sie mussten nur einen möglichst undurchdringlichen Stützpunkt organisieren. Hier der Eintrag zum 14. August aus Sicht der zweiten Kompanie:


Nach zwei Stunden hatte man den Stützpunkt verteidigungsbereit organisiert. Von 2 Uhr nachts an hiess es in den Stellungen warten und beobachten. Nicht allzu schwierig, wenn man die Helle der Nacht berücksichtigt. Das Tagebuch des Verteidigers schliesst mit den Worten:

«0400 erfolgte der Hauptangriff des Feindes, welcher aber durch die hermetische Verdrahtung des Stützpunkts [mit Stacheldraht] nicht eindringen konnte. ca. 04.30 Uebung abgebrochen.»

Quellen

  • Tagebuch Gz. Füs. Kp. II/269, Bd. 6, 1943. Signatur: CH-BAR E5790#1000/948#1872*
  • Tagebuch Gz. Füs. Kp. V/269, Dok 8 u. 9, 1943. Signatur: CH-BAR E5790#1000/948#1875*.

Montag, 21. Oktober 2024

Blitz schlägt in die SBB-Fahrleitung zwischen Zweidlen und Weiach

Heute vor 50 Jahren, wie dieses Jahr einem Montag, fegte ein heftiges Gewitter über unsere Gegend. Es verursachte den Ausfall sowohl der Linie KoblenzEglisau, wie der Strecke SchaffhausenEglisau. Die  Reparaturdienste der SBB mussten im Rafzerfeld und auf Weiacher Gebiet fast gleichzeitig eingreifen. 

Die Schweizerische Depeschenagentur SDA verfasste dazu eine Meldung, die über den Ticker lief und wohl in etlichen Zeitungen abgedruckt wurde: 

Gestörter Bahnverkehr

«Gewitter verursacht SBB-Fahrleitungsstörungen sda. Ein heftiges Gewitter in der Gegend des Rafzerfeldes verursachte am Montag [21.10.74] zwei Fahrleitungsstörungen. Um 13.42 Uhr stürzte eine Übertragungsleitung der NOK bei Rafz auf die SBB-Fahrleitung. Die Strecke Hüntwangen–Lottstetten war infolge des dauernden Kurzschlusses bis 15 Uhr gesperrt, so dass zwei Schnellzüge über Winterthur umgeleitet werden mussten. Der Zürich um 13.21 Uhr verlassende Schnellzug nach Schaffhausen wurde kurz nach Bülach angehalten und über Embrach–Winterthur–Andelfingen geführt. Er wurde dabei um mehr als eineinhalb Stunden verspätet. Der zweite Schnellzug erlitt 16 Minuten und einige Personenzüge 10 bis 15 Minuten Verspätung. Fast zur gleichen Zeit schlug der Blitz in die Fahrleitung zwischen Zweidlen und Weiach, was ebenfalls dauernden Kurzschluss verursachte. Bis zur Behebung dieser Störung wurden die Züge in Weiach und Eglisau gewendet, für das Zwischenstück Autobusse eingesetzt.» (Thuner Tagblatt, 23. Oktober 1974)

Quelle 

Sonntag, 20. Oktober 2024

Wenn Gevatter Tod einen Künstler aus dem Spiel nimmt

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein kunstsinniger Verein unsere Gemeinde zum Tagungsort seiner Generalversammlung erkürt und im Anschluss daran auch noch zu einem öffentlichen Vortrag einlädt. 

Der Freundeskreis Ruth von Fischer hat am heutigen Sonntag einen dieser seltenen Momente organisiert (vgl. Mitteilungsblatt Weiach, August 2024, S. 15). 

Wer um 14 Uhr den Weg in die Weiacher Pfarrscheune gefunden hat, wurde nicht enttäuscht. Die Künstlerin Ruth von Fischer (1911-2009) hat ihre gestaltende Handschrift gleich bei zwei Farbtupfern hinterlassen, die in der Weiacher Kirche Akzente setzen: dem Teppich um den Taufstein von 1970 und den Chorfenstern von 1981. 

Zwei seltene Stücke in unserer Kirche

Beide Objekte sind seltene Stücke im Werkkaleidoskop ihrer Erschafferin. Denn Ruth von Fischer ist eher für Wandteppiche bekannt, die in verschiedenen Gemeinden von freiwilligen Helferinnen in tausenden von Arbeitsstunden nach ihren Entwürfen geschaffen wurden. Ihre Bodenteppiche muss man schon fast mit der Lupe suchen. 

Auch Glasarbeiten gehören zu den Solitären in ihrem Schaffen, wie der Vortrag von Organisator und Vereinsmitglied Dominik Heeb eindrücklich aufgezeigt hat: Es gibt von ihr nur zwei Werke aus Glas. Den Erstling, eine Darstellung von Mutter mit Kind (selbstverständlich mit sakralem Anklang) hat sie für den Architekten Paul Hintermann geschaffen. Er ist im Privatbesitz seiner Nachkommen. Ihr zweites glasmalerisches Werk ist gleichzeitig das einzige öffentlich zugängliche. Und: es leuchtet in Weiach!

Wieso zwei Glasmaler?

Dass es überhaupt dazu gekommen ist, muss man wohl als seltsame Fügung des Schicksals bezeichnen. Wie kommt der WeiachBlog-Autor darauf? Nun, als ich vor bald fünf Jahren die Artikeltrilogie zur Entstehung der Chorfenster verfasst habe (erschienen vom 20. bis 22. Dezember 2019), da ging mein quellenkritischer Blick eindeutig zu wenig in die Tiefe. Die bei der Gostelistiftung aufbewahrten Unterlagen im Werkdossier Weiach erschienen derart umfangreich, dass die Personalie Willy Kaufmann völlig unter den Tisch gefallen ist.

Ich habe damals geschrieben: «Vorarbeiten für diese Fenster begannen allerdings bereits in den 70er-Jahren». Willy Kaufmann, wiewohl selber Glasmaler, wurde von mir faktisch als eine Art Sachverständiger interpretiert, den man im Vorfeld angefragt hat. 

War ein Heimspiel geplant?

Auf die naheliegende Idee, dass dieser im nahen Rümikon (der ehemaligen westlichen Nachbargemeinde von Fisibach) wohnhafte Künstler der eigentliche, von der Kirchgenossenschaft Kaiserstuhl-Fisibach ursprünglich Beauftragte gewesen sein könnte, bin ich nicht gekommen.

Wie gesagt: Quellenkritik! In WeiachBlog Nr. 1446 ist das Memorandum des Architekten Paul Hintermann, datiert 23.3.1978, betreffend eine Unterredung mit Willy Kaufmann am 16.3.1978 im vollen Wortlaut wiedergegeben.

Ich hätte die Frage stellen müssen, wieso man doch recht konkrete gestalterische Absprachen vornimmt und ihnen dann keine Taten folgen. Ich hätte weiter fragen müssen, wie diese seltsame Bruchlinie einer drei Jahre dauernden Lücke (März 1978 bis April 1981 = Beginn der Arbeiten Ruth von Fischers) zustande gekommen ist. Eine simple Recherche nach dem Künstler Willy Kaufmann hätte genügt für einen kompletten Sichtwechsel...

Gott hatte andere Pläne

Dominik Heeb hat den Job gemacht, den ich damals versäumt habe und hat den Weg gewiesen: Willy Kaufmann ist kurz nach diesem Arbeitstreffen mit Architekt Hintermann am 15. Juni 1978 im 58. Altersjahr verstorben! 

Die Evang.-ref. Kirchgenossenschaft Kaiserstuhl-Fisibach, die wohl nicht zuletzt dank seiner in der Rümiker St. Anna-Kapelle zu findenden Glasfenster auf ihn gestossen ist, wurde damit jäh gestoppt. Und hätte Architekt Hintermann nicht Ruth von Fischer sozusagen dazu überredet, den Auftrag anzunehmen, dann wäre womöglich aus dem Mäzenatenimpuls aus dem Aargau nichts mehr geworden.

Was wäre gewesen, wenn...

Wer sich den Stil Willy Kaufmanns ansieht  – er hat (im Gegensatz zu Ruth von Fischer) über mehrere Jahrzehnte hinweg viele verschiedene Glasfenster in sakralen wie weltlichen Gebäuden geschaffen –, der kann sich leicht ausmalen, wie völlig anders die Weiacher Fenster heute daherkommen würden, wäre Gevatter Tod nicht auf den Plan getreten.

Jedenfalls besteht nun einiger Forschungsbedarf. Einerseits im Nachlass Willy Kaufmanns. Vielleicht sind dort ja noch Notizen und Entwürfe erhalten geblieben, die seine Seite der 1978 angestossenen Arbeiten reflektieren. Und andererseits in den Beschlussprotokollen der Evang.-ref. Kirchenpflege Weiach sowie des Vorstandes der Kirchgenossenschaft Kaiserstuhl-Fisibach aus den Jahren 1977 bis 1981. 

Wieder einmal heisst es: Affaire à suivre!

[Veröffentlicht am 22. Oktober 2024 um 00:15 MESZ]

Samstag, 19. Oktober 2024

Weiacher Warenzoll nur während Zurzacher Messe geöffnet

Am heutigen Datum vor 200 Jahren befasste sich die Zürcher Kantonsregierung erneut mit einem Streit, der aus Zürcher Sicht primär eine unzulässige Ungleichbehandlung zwischen verschiedenen Reussübergängen darstellte, aus Aargauer Sicht jedoch legitim erschien, da er das höherstehende souveräne Recht eines Staates betreffe, selber bestimmen zu dürfen, über welche Grenzübergänge zollpflichtiger Warenumschlag abgewickelt werden kann.

Die Schweiz, ein Bündel souveräner Kleinstaaten

Man sieht an diesem Beispiel deutlich, wie stark die damals über den Bundesvertrag von 1815 nur lose miteinander verknüpften Kantone sich als eigenständige Staaten verstanden haben, auch und gerade in der Fiskalpolitik.

Die Aargauer Regierung stellte sich jedenfalls auf den Standpunkt, wenn ihre Zürcher Kollegen sich herausnähmen, Zollabfertigung nur an bestimmten Übergängen zulassen zu wollen, dass ihnen dann dieselbe Befugnis ebenfalls zustehen müsse. Der entsprechende Ausschnitt aus dem ziemlich umfangreichen Material liest sich wie folgt:

«[...] und daß, was die Fähre zu Ottenbach betrifft, die Aargauische Regierung einerseits, aus gleichen Gründen, warum auch in hiesigem Kanton der Gebrauch der von Kaiserstuhl über Weyach führenden Straße außer den Zurzacher-Meßen verboten sey, weil auf derselben die von hiesiger Regierung angeordneten Zollstätten und Weggeldbüreaux abgefahren werden können, die dortseitige Befugniß behauptet, den Gebrauch von Nebenwegen und Fähren zu untersagen, auf welchen die geordneten Geleitsstätten ausgewichen werden, [...]» (StAZH MM 1.88 RRB 1824/0656)

Temporäre Zollabfertigung an Messetagen

Es ging also darum, zu verhindern, dass die regulären Kontrollposten der Zolleinnehmer und Strassengebühren-Inkassostellen umfahren wurden. Neu war das nicht, es war nach der Zeit des helvetischen Einheitsstaates (1798-1803) lediglich die Rückkehr zu einem System, wie man es in der Alten Eidgenossenschaft über Jahrhunderte praktiziert hatte. 

Die Zürcher haben die Strasse zwischen Kaiserstuhl und Weyach für den grenzüberschreitenden Warenverkehr gesperrt. Einzig an den Tagen, wo in Zurzach die traditionelle grosse Warenmesse stattfand, befand es die Zürcher Regierung offenbar für angemessen, an der Grenze einen temporären Zollabfertigungsposten zu betreiben.

Eine wirtschaftliche Katastrophe

Sonst war offensichtlich nur kleiner Grenzverkehr erlaubt, was den wirtschaftlichen Austausch zwischen dem Studenland und unserer Gemeinde doch ziemlich massiv beeinträchtigt haben dürfte. Unter dieser Abschottung litten vor allem auch die Kaiserstuhler, die nach dem Abbrennen ihrer Rheinbrücke während des Zweiten Koalitionskriegs 1799 während Jahren auf einen Ersatz warten mussten und in dieser Situation wohl nicht zuletzt auch der Zürcher Zollpolitik wegen wirtschaftlich einen massiven Niedergang erlebt haben.

Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass der Weyacher Ziegelhütten-Betreiber (auf dem Näpferhüsli-Areal bei der Kirche) anfangs der 1820er-Jahre mehrere Häuser im Städtchen auf Abbruch gekauft hat, um mit dem Baumaterial seine Kalkproduktion befeuern zu können. Stellt sich trotzdem die Frage, wie das wohl mit dem Verzollen dieses Abbruchmaterials gehandhabt wurde. (Lutz 1822, vgl. Quellen unten)

Vor dem Bau der Stadlerstrasse (RVS 566)

Bemerkenswert ist diese praktisch durchgehende Sperre vor allem, wenn man bedenkt, dass die Verbindung Kaiserstuhl–Weyach–Zürich (im Weiacher Ortskern via Büelstrasse, Oberdorfstrasse, Alte Post-Strasse, Bergstrasse) damals die wichtigere Strasse war als die heutige Hauptstrasse Nr. 7 Richtung Osten (Weyach–Glattfelden–Wagenbreche–Winterthur).

Quellen

  • Nachträge und Berichtigungen zu «Geographisch-statistisches Handlexikon der Schweiz für Reisende und Geschäftsmänner: enthaltend vollständige Beschreibungen der XXII Kantone, deren Bezirke, Kreise und Aemter, so wie aller Städte, Flecken, Dörfer, Weiler, Schlösser und Klöster, auch aller Berge, Thäler, Wälder, Seen, Flüsse und Heilquellen, in alphabetischer Ordnung. Nebst einem Wegweiser durch die Eidsgenossenschaft sammt Nachrichten für Reisende über Postenlauf, Geldeswerth und Gasthöfe. Im Vereine mit Vaterlandsfreunden herausgegeben von Markus Lutz, Pfarrer in Läufelfingen im Kanton Basel. Aarau 1822. Bei Heinrich Remigius Sauerländer» – S. 58.
  • Protokoll der Zürcher Kantonsregierung vom 20. Juli 1824: Antwort L[öblichen] Standes Aargau auf die hiesige [d.h. zürcherische] Beschwerde über Retorsionsstrafen von den Behörden zu Mury, und über Benachtheiligung des Fahrs zu Ottenbach zu Gunsten desjenigen zu Rottenschweil. Signatur: StAZH MM 1.88 RRB 1824/0656.
  • Protokoll der Zürcher Kantonsregierung vom 19. Oktober 1824: Gutachten des Staatsraths wegen der Aargauischen Beeinträchtigung der Fähre zu Ottenbach, und des unstatthaften Geleitsbezugs zu Rottenschwyl. Antwort an Lbl. Stand Aargau. Weisung an das L. Oberamt Knonau. Signatur: StAZH MM 1.89 RRB 1824/0885.

Freitag, 18. Oktober 2024

Die Wappenkarte «Weiach» der Antiquarischen Gesellschaft

Es ist ziemlich genau ein Jahrhundert her, seit die Antiquarische Gesellschaft in Zürich Ende 1924 auf Anregung des Staatsarchivs eine Gemeindewappenkommission bestellt hat. In jedem Bezirk wurde dann ein Kommissionsmitglied tätig, um vor Ort zusammen mit lokalen Gewährsleuten auf die Suche nach sachdienlichen Informationen zu gehen. 

Für den Bezirk Dielsdorf war dies Dr. h.c. Heinrich Hedinger und für Weiach der Dorfschullehrer und spätere Ortschronist Walter Zollinger. Das Resultat der Nachforschungen vor Ort wurde mit den aus Archivalien im Staatsarchiv gewonnenen Informationen kombiniert und die Kommission machte dann dem jeweiligen Gemeindevorstand einen Vorschlag. 

Genehmigt 28. November 1931, gedruckt 1932

Zwischen Sommer und Herbst 1931 fiel der Entscheid in der Wappenkommission (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 85, S. 312ff). Den für Weiach auf 12. November 1931 datierten Vorschlag hat unser Gemeinderat am 28. November 1931 offiziell genehmigt. 

Die Karte zeigt das Wappen nicht nur grafisch, sondern beschreibt es auch in verbaler Form, der sogenannten Blasonierung, die sämtliche offiziell verbindlichen Elemente festhält:

«Von Silber und Blau schräggeteilt mit achtstrahligem Stern in gewechselten Farben.»

Weiter nennt die Karte auch einige ausgewählte historische Eckdaten: «Weiach. Der Stern im Zürcher Schild geht wohl auf die alte Taverne zum "Sternen" zurück. Weiach kam 1424 mit der Grafschaft Kyburg an Zürich und gehörte seit 1442 zur Obervogtei Neuamt. 1591 wurde das Dorf zur Pfarrei erhoben.»

Ornamentiert wird das Ganze mit zwei Eichhörnchen als faktischen Schildhaltern und diversen Vögeln im gleichen Farbton wie die Tannenzweige samt Zapfen.

Huhn-und-Ei-Frage ist ungeklärt

Zur Herkunft des Sterns ist anzumerken, dass nach wie vor offen ist, ob sich dieses Dorfzeichen auf den ehaften, obrigkeitlich konzessionierten Gasthof vererbt hat, oder es (wie auf der Karte insinuiert) gerade umgekehrt gewesen ist, der Stern also ein obrigkeitliches Symbol war, das zuerst vom Gasthof geführt wurde und danach von der Gemeinde übernommen wurde.

Heinrich Hedinger liess dies bereits 1936 in einem Artikel im «Wehnthaler» offen. Die Weiacher hätten, so schreibt er, «als Abzeichen» den Stern gewählt, «sei es als bloße Verzierung oder im Zusammenhang mit der alten Taverne zum "Sternen"». 1971 übernahm er dann allerdings die Auffassung der Wappenkarte (vgl. WeiachBlog Nr. 800). 

Der Autor dieser Zeilen war 2010 noch gegenteiliger Auffassung, hat aber 2020 in zwei Artikeln herausgearbeitet, dass es auch anders sein könnte (vgl. WeiachBlog Nr. 1481 und 1482).

Der Zeichner war ein städtischer Beamter

Bei dieser Wappenkarte handelt es sich um die Nummer 144 aus der 29. Serie der «Zürcher Gemeindewappen». Ziegler erwähnt in seinem erst viele Jahre später (1977) in den Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich erschienenen Wappenbuch, diese Postkarten-Sätze seien in den Jahren 1926-1936 erschienen (was zumindest für letztere Jahrzahl durch die Graphische Sammlung der Zentralbibliothek Zürich mit einem Fragezeichen versehen wird). Die Serie 29 erschien frühestens im Dezember 1931, wahrscheinlich im Jahre 1932. 

Gezeichnet wurden die Wappen von Robert Brutschy, einem Beamten des Stadtarchivs Zürich. Die hölzernen Druckstöcke wurden bei Rudolf Fretz-Bryner in Zollikon erstellt und der Druck der Karten erfolgte bei Müller, Werder & Co. in Zürich (Ziegler, 1977 – S. 17).

Quelle und Literatur
  • Wappenkarte Weiach. Ansichtskarte. Strichklischee; 14 x 9,3 cm. Herausgegeben durch die Antiquarische Gesellschaft in Zürich. Zürich 1932. Scan des Exemplars der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: Wappen Zürich I, 34 ac
  • Hedinger, H.: Die Gemeinde-Wappen im Bezirk Dielsdorf. In: Der Wehnthaler, 7. u. 10. Februar 1936. (Vgl. Auszug in WeiachBlog Nr. 313)
  • Ziegler, P.: Die Gemeindewappen des Kantons Zürich. Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Bd. 49. 142. Neujahrsblatt. Zürich 1977 – S. 17 (Einleitung) u. 106 (Wappen Weiach).
  • Brandenberger, U.: 75 Jahre offiziell anerkanntes Wappen. Wie unsere Gemeinde zu ihren Erkennungszeichen kam (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) Nr. 85. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Dezember 2006 – S. 14-21 (vgl. S. 314 der Gesamtausgabe).  
  • Brandenberger, U.: Heinrich Hedingers «Gemeinde-Wappen im Bezirk Dielsdorf». WeiachBlog Nr. 313, 13. November 2006.
  • Brandenberger, U.: Woher kommt der Stern im Weiacher Wappen? WeiachBlog Nr. 800, 21. März 2010.
  • Brandenberger, U.: Woher kommt der Weiacher Stern? Hat er Schaffhauser Wurzeln? WeiachBlog Nr. 1481, 9. März 2020.  
  • Brandenberger, U.: Geht der Weiacher Stern auf die Familie Escher zurück? WeiachBlog Nr. 1482, 11. März 2020.