Vor einer Woche war auf WeiachBlog die Aufforderung zur Rückführung eines Vaganten in seine Heimatgemeinde Thema. Heutzutage kommt so etwas nicht mehr vor. Denn das Abschieben an den Bürgerort ist seit bald einem Vierteljahrhundert verboten. Warum, erörtert dieser Beitrag.
Bettlerproblem lässt Bürgerort-Prinzip entstehen
Katharina Simon-Muscheid erklärt im Artikel Armut (Stand: 02/08/2010) im Historischen Lexikon der Schweiz, wie Finanzierungsprobleme unsere Vorfahren erfinderisch machten:
«Die Obrigkeiten suchten zur Entlastung des Armensäckels den Kreis der Unterstützungsberechtigten einzugrenzen. Um zu verhindern, dass arme Hintersassen das Bürgerrecht erwarben, das sie zum Bezug der Armenunterstützung berechtigte, machten Obrigkeiten und Dorfgemeinden den Erwerb von Bürgerrecht und Gerechtigkeiten (Nutzungsrechte) vom Nachweis eines Minimalvermögens bzw. einem Einzugsgeld abhängig. Durch Heiratsverbote für Paare, die nicht über die notwendigen materiellen Grundlagen verfügten, sollte die Reproduktion der A. verhindert werden. Fremde Bettlerinnen und Bettler wurden in "Bettelfuhren" an ihren Heimatort zurückgeschafft, der gemäss einem Tagsatzungsbeschluss von 1551 verpflichtet war, für sie aufzukommen.»
Ab dem 16. Jh. setzte sich daher in der Armenfürsorge zunehmend das Heimatprinzip durch. Nur wer Bürger einer Gemeinde war hatte Anteil an den Nutzungsrechten der Gemeinde, allen übrigen (ob aus dem Kanton, der übrigen Eidgenossenschaft oder sonstwoher) fehlte das Recht auf Armenunterstützung in ihrer Wohngemeinde völlig (vgl. auch den Artikel Heimatlose im Historischen Lexikon der Schweiz). Ausserdem galt, dass wer aus seiner Heimat wegzog Gefahr lief, diese Nutzungsrechte zu verlieren. Deshalb verliessen die Leute zwar ihren Heimatort um auswärts ihren Lebensunterhalt zu verdienen, kehrten aber immer wieder zurück. In den Bevölkerungsstatistiken nannten die Pfarrer diesen Zustand «aussert der Gmeind».
Wirtschaftlicher Aufschwung verlangt Mobilität
Nachdem die Mobilität im Zuge der von der Bundesverfassung garantierten Niederlassungsfreiheit (heute: Art. 24 BV) stark zugenommen hatte, wurde das Bürgerort-Prinzip je länger je weniger handhabbar. Vor allem Land-Gemeinden aus denen man mangels gewerblich-industrieller Alternativen abwandern musste, um ein Auskommen zu finden, wurden von in Not Geratenen mit Hilfsgesuchen eingedeckt.
Vor bald 25 Jahren regelte die Schweiz dieses zunehmend als anachronistisch empfundene Prinzip neu.
Das «Bundesgesetz vom 24. Juni 1977 über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG)» bestimmt in Art. 1 Abs. 1, welcher Kanton für die Unterstützung eines Bedürftigen, der sich in der Schweiz aufhält, zuständig ist. Es gilt das Wohnsitzprinzip, der Bürgerort zählt nicht mehr. Art. 4 ZUG sagt auch klar was unter «Wohnsitz» zu verstehen ist:
«1 Der Bedürftige hat seinen Wohnsitz nach diesem Gesetz (Unterstützungswohnsitz) in dem Kanton, in dem er sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Dieser Kanton wird als Wohnkanton bezeichnet.
2 Die polizeiliche Anmeldung, für Ausländer die Ausstellung einer Anwesenheitsbewilligung, gilt als Wohnsitzbegründung, wenn nicht nachgewiesen ist, dass der Aufenthalt schon früher oder erst später begonnen hat oder nur vorübergehender Natur ist.»
Abschieben ist verboten
Nun könnten sparsame Gemeindebehörden auf die Idee kommen, ihre Sozialfälle mehr oder weniger aus der Gemeinde zu ekeln (im Thurgau wurde das offenbar auch tatsächlich versucht). Dem schiebt aber das Gesetz einen Riegel. Art. 10 Abs. 1 ZUG (Verbot der Abschiebung) lautet:
«1 Die Behörden dürfen einen Bedürftigen nicht veranlassen, aus dem Wohnkanton wegzuziehen, auch nicht durch Umzugsunterstützungen oder andere Begünstigungen, wenn dies nicht in seinem Interesse liegt.
2 Bei Widerhandlungen gegen dieses Verbot bleibt der Unterstützungswohnsitz des Bedürftigen am bisherigen Wohnort so lange bestehen, als er ihn ohne den behördlichen Einfluss voraussichtlich nicht verlassen hätte, längstens aber während fünf Jahren.»
Es kann nun natürlich in kleineren Gemeinden mit leerer Kasse und nach wie vor vorhandener «sozialer Kontrolle» trotzdem vorkommen, dass ein Sozialfall sich dadurch und/oder wegen als herablassend empfundener Behandlung auf der Gemeindeverwaltung veranlasst sieht, in eine anonymere Umgebung (d.h. eine Stadt oder städtische Agglomeration) zu zügeln. Weshalb er dann auch mit gutem Grund sagen kann, dies liege in seinem Interesse. Diesem Trend wirkt entgegen, dass nun auch Städte auf der Suche nach finanzieller Entlastung vermehrt mit detektivischer Akribie daran gehen, ihre Sozialfälle zu durchleuchten.
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