Dienstag, 9. November 2021

Diebischer Bäckergeselle an der Luppenstrasse

Das Haus zum Weinberg an der Luppenstrasse 8 war einst ein multifunktionales Gebäude. Es stammt gemäss Gebäudeversicherung des Kantons Zürich aus dem Jahre 1845 und diente gleichzeitig als Bäckerei und Speisewirtschaft (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 101) und natürlich als Wohnhaus. 

In den ersten Jahren war es offenbar eher eine Wirtschaft mit angeschlossener Backstube. Frisches Brot als Kundenmagnet. Das kennen wir heute bei den meisten grossen Ladenketten; auch der VOLG Weiach hat so eine Aufbackstation. Die Kunden kaufen offenbar einfach mehr, wenn sie frisches Brot riechen. Erst in späteren Jahren wurde aus der Luppenstrasse 8 eine reine Bäckerei ohne Restaurationsbetrieb.

Vor bald 150 Jahren berichtete die NZZ unter der Rubrik Kriminalgerichtliche Urtheile über einen Fall, der am 25. November 1875 verhandelt wurde und sich in genau diesem Gebäude abgespielt hat:

«Albert Kuster; [...] von Eschenbach, Kantons St. Gallen, 22 Jahre alt, lediger Bäckerselle [sic!], war vom November 1874 bis 19. Oktober 1875 in Arbeit bei Bäckermeister H. Grießer in Weiach. Derselbe pflegte seine Tageslösung jeden Abend im Kasten seines Schlafzimmers zu versorgen. Im Frühjahr wurde er gefährlich krank, der Knecht wachte öfter bei ihm. Nach seiner Wiederherstellung vermißte er öfter Geld aus seiner Kasse. Längere Zeit war ihm und seiner Frau diese Erscheinung unerklärlich. Als die Verluste nicht aufhörten, war es klar, daß der Dieb im Hause sein müsse und daß es kein anderer sein könne als der Knecht. An einem schönen Morgen fehlte neben anderem Geld wieder eine St. Galler Banknote von fünfzig Franken und ein preußischer Thaler. Es wurde eine Durchsuchung der Effekten des Knechts vorgenommen und siehe, man fand bei ihm, der einen Wochenlohn von Fr. 9 hatte, an Gold, Silber und Papier eine Summe von Fr. 572.65, darunter eine St. Galler Banknote von Fr. 50 und einen preußischen Thaler. Umsonst suchte der Dieb zu leugnen; vergeblich war sein Versuch, einen falschen Zeugen für die Rechtmäßigkeit des Geldbesitzes in Zürich zu gewinnen. Außerdem wurden ganz unverhältnißmäßige Ausgaben in Wirthshäusern und für Kleider gegen den Angeklagten erwiesen. Der Bestohlene schätzt die Summe der an ihm verübten Entwendungen auf mindestens Fr. 1000-1200 und er bleibt bestimmt dabei, der untreue Knecht müsse mit einem nachgemachten Schlüssel oder Dietrich den Kasten geöffnet und so das Geld gestohlen haben, während dieser, der sich endlich zu eingeschränkten Geständnissen bequemte, behauptete, der Kastenschlüssel sei öfter gesteckt oder im Ofen gelegen und er habe mit diesem ächten Schlüssel den Kasten geöffnet, aber mehr nicht als im Ganzen ca. Fr. 400 entwendet. Die Anklage lautet auf ausgezeichneten Diebstahl im Betrag über Fr. 500 und der Angeklagte erklärte sich schuldig. Das Gericht verurtheilte ihn zu einer Arbeitshausstrafe von 2 Jahren (ab 3 Wochen) und zum Ersatz im Ganzen von Fr. 800.»

Kein nationales Banknotenmonopol

Wie man sieht, hat man dem Bäckermeister Griesser seitens der Staatsanwaltschaft und des Gerichts die behauptete Deliktsumme (und wohl auch den vermuteten Einsatz eines Dietrichs) nicht so ganz abgenommen. Da fehlte es möglicherweise nicht zuletzt an der Nachvollziehbarkeit der Geschäftsbuchhaltung. 

500 Franken sind aber auch dann noch eine ziemlich hohe Summe. Umgerechnet nach dem Historischen Lohnindex (HLI) von Swistoval wären das rund 26'000 Franken von 2009.  Und der Wochenlohn des Bäckergesellen wäre nach demselben Index mit ca. 475 Franken zu bewerten.

Interessant ist auch die Vielfalt an Zahlungsmitteln, die da in der Kasse eines ländlichen Gewerbebetriebs landete. Damals gab es noch kein nationales Banknotenmonopol. Die Schweizerische Nationalbank SNB wurde nämlich erst 1905 gegründet (die Federal Reserve in den USA sogar erst 1913), womit die Schweiz eines der letzten Industrieländer war, die diesen Schritt getan hat (vgl. e-HLS-Artikel).

Schnelles Strafverfolgungssystem

Besonders bemerkenswert: die ultraschnellen Abläufe der Strafverfolgungsbehörden. Von der Arbeitshaus-Strafe wurden 3 Wochen abgerechnet. Das wäre also die schon erstandene Untersuchungshaft. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Kuster nicht die gesamte Haftzeit angerechnet wurde und von einer Verhaftung am letzten Tag des Arbeitsverhältnisses (19. Oktober 1875) ausgeht, d.h. rund 5 Wochen bis zur Hauptverhandlung, ist das immer noch sehr schnell. Im Vergleich dazu muss man unsere heutigen Verfahren fast als die einer Schneckenjustiz bezeichnen. Selbst bei einem Strafbefehlverfahren vergeht meist mehr Zeit.

Quelle und Literatur

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