Haben Sie sich je gefragt, warum man sagt, jemand sei in Verruf geraten? Dieses kleine Inserätchen diene zur Erläuterung:
«Warnung. Heinrich Meierhofer hat sich schon seit drei Wochen von mir entfernt; ich warne hiermit Jedermann, ihm Etwas anzuvertrauen, indem ich Schulden, die er auf meinen Namen machen würde, nicht bezahle. Weiach, den 20. Mai 1858. Hs. Heinrich Meierhofer.» (Züricherische Freitagszeitung, Nr. 21, 21. Mai 1858, S. 3)
Nun steht hier in der sog. Bürkli-Zeitung zwar nichts über das Verhältnis des Verrufenen zum Verrufenden (Vater und Sohn?). Und es gab zu diesem Zeitpunkt in Weiach wohl nicht nur einen Heinrich Meierhofer.
Die Freitagszeitung im Telegrammstil...
Dass aber der gleiche Name wenige Monate später in der Gerichtsberichterstattung sowohl der Freitagszeitung wie der NZZ auftaucht, könnte dann doch auf dieselbe Person hindeuten. Die Freitagszeitung berichtete im Telegrammstil. Das Wichtigste in Kürze:
«Zürich. — Geschwornengericht. (23. April.) Präsident: Hr. Ullmer, Richter: HH. BGerichtSschr. Ochsner und Bezirksrichter Güller von Regensberg. Geschworne: HH. Wäffler-Egli (Obmann), Brändli von Wädenschweil, Frei von Glattfelden, Hinnen von Rümlang, Meister von Dachsen, Escher, Kreisr., von Zürich, Baumann von Horgen, Denzler von Nänikon, Frei von Hard-Regenstorf, Wenziger von Stadel, Pfenninger von Seen, Prunder im Feld-Meilen. [...]
Hch. Meierhofer, Schuster von Weiach, wegen Nothzucht zu 5 Jahren Zuchthaus. Noch scheußlichere Fälle übergehen wir.» (Zürcherische Freitagszeitung, 27. April 1860, S. 2)
... die NZZ in fast epischer Breite
Wer wissen wollte, was es mit diesen scheusslicheren Fällen auf sich hatte, der musste die NZZ kaufen. Der Neuen Zürcher Zeitung (die alte Dame zählte rund 80 Lenze) darf man bescheinigen, dass sie damals zumindest in einem Punkt die Konkurrenz locker abtrocknete. Ihre Prozessberichterstattung ist so lebensnah formuliert, dass sie auch einen heutigen Leser noch zu packen vermag. Das gilt insbesondere für die Berichte aus dem Schwurgerichtssaal.
Das Schwurgericht trat laut Gesetz zweimal jährlich zusammen und bestand (wie man oben sieht) aus drei Richtern und zwölf Geschworenen. Den Sitzungen im April 1860 widmete die NZZ jeweils unterhalb des Feuilletons (!) reichlich Platz, meist schon auf Seite 1. Die Schilderungen der Fälle umfassen acht aufeinanderfolgende Ausgaben vom 24. April (Nr. 115) bis 1. Mai (Nr. 122).
Besonders ein Monsterprozess, in dem es u.a. um gestohlene Seidenstoffe, Hehlerei und Gefängnisausbrüche ging und in den mehr als ein halbes Dutzend Angeklagte verwickelt waren, nimmt breiten Raum ein. Kein Wunder, dauerte das Verfahren doch mehrere Tage und endete der Prozess mit einmal 15 und einmal 10 Jahren Kettenstrafe, einer verschärften Form der Zuchthausstrafe. Diese Sanktion, die das kantonale Strafgesetzbuch von 1835 noch vorsah, wurde mit Art. 5 der Kantonsverfassung von 1869 abgeschafft, die Kettensträflinge zu normalen Zuchthausinsassen.
Als ziemlich ausschweifend beleumdet
Was hat der Berichterstatter in der NZZ zu unserem «Weiacher Fall» zu sagen?
«Heinrich Meierhofer, von Weiach, 31 Jahre alt, verheirathet, Vater von 4 Kindern, Schuster, als ziemlich ausschweifend beleumdet, ist angeklagt, am 4. März·d. J. [1860!] einem geistesbeschränkten 26jährigen Dienstmädchen in dessen Wohnung Gewalt angethan zu haben. Der Beweis dieser Anklage ruht einzig und allein auf den Angaben der Damnifikatin. Die Geschwornen bejahen die Anklage und Meierhofer wird wegen Nothzucht zu fünfjährigem Zuchthaus verurtheilt.» (Fall 4. In: Neue Zürcher Zeitung, Nummer 116, 25. April 1860, S. 463)
Der Fachbegriff damnifizieren bedeutet: jemandem «Schaden zufügen, ihn benachteiligen». Entsprechend die Bezeichnung der beteiligten Personen: «Damnifikant, der Beschädiger» sowie «Damnifikat, der Beschädigte» (Meyers Konversations-Lexikon 1888, Bd. IV, S. 442) Man muss also schon genau lesen, um dieses entscheidende «n» (vorhanden oder nicht?) zu entdecken.
Offensichtlich ist, dass ein schlechter Leumund bei einem Angeklagten ziemlich heftige Folgen haben kann. Da entfalten dann Aussagen einer geistig behinderten Geschädigten volle Durchschlagskraft. Dass es sich um einen sexuellen Übergriff gehandelt hat, wird aber auch in der NZZ nicht weiter ausgedeutscht.
Auffallend ist, wie wenig Zeit zwischen Tat und Urteil verstrichen ist. Nicht einmal zwei Monate!
Inzest und «naher Versuch der Notzucht»
Nicht nur die Freitagszeitung war bei solchen Dingen wortkarg, selbst der sonst auf den Punkt kommende NZZ-Journalist übte sich in Nummer 117 vom 26. April 1860 bei den beiden folgenden Fällen in Zurückhaltung.
Der Fall 5 betraf einen Landwirt (43), Vater von 7 Kindern, der mit seiner 23-jährigen Tochter, beide bisher unbescholten, intim geworden war. Er wurde zu vier und sie zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Ob das ganze einvernehmlich war oder nicht: Das Urteil war (auch aus heutiger Sicht) knallhart. Allerdings: nach Art. 213 Abs. 1 StGB wird diese Tat auch heute noch als Vergehen eingestuft: «Wer mit einem Blutsverwandten in gerader Linie oder einem voll- oder halbbürtigen Geschwister den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft». Eine Verurteilung hat einen Strafregistereintrag zur Folge.
Zu Fall Nummer 6 gab sich die NZZ besonders zugeknöpft: «Die Details des Prozesses sind nicht der Art, daß sie öffentlich auch nur angedeutet werden könnten». Es sei «ein seltener Fall von Versunkenkeit», was sich da in Hüntwangen abgespielt habe. Was dem 45-jährigen Ehemann genau vorgeworfen wurde, ist nicht klar. Hatte er seine Ehefrau durch einen 24-Jährigen sexuell bedrängen lassen und dabei zugesehen? Die Urteile: Ein Jahr und acht Monate Zuchthaus für die Beihilfe zur Tat bzw. zweieinhalb Jahre Zuchthaus für die Tat selber.
Wenn man diese Strafmasse nun mit denen vergleicht, die auf Nothzucht standen (so nannte man Vergewaltigung damals), also mit § 131 StGB ZH 1835 (Mindeststrafmass: 4 Jahre Zuchthaus), dann wird klar, dass es sich hier nicht um einen Beischlaf gegen den Willen der Frau gehandelt haben kann.
Die Frage ist nur, auf welchen Paragraphen sich die Richter da gestützt haben. Näheres (auch zum Fall des Heinrich Meierhofer) dürfte sich im Protokoll des Schwurgerichts zum Jahr 1860 (StAZH YY 26.8), sowie dem Geschäftsregister des Geschworenengerichts, sog. Prozedurenverzeichnis (StAZH YY 47) finden lassen.
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