Samstag, 6. November 2021

Lebensüberdruss wird vermuthet

Freitod oder (negativer konnotiert, da als Verbrechen hingestellt) Suizid ist ein heikles Thema. Eines, das in Religion, Ethik und Moral seit langem kontrovers und doch häufig mit Schlagseite diskutiert wird. Und auch heute ist der Konsens der, dass die Gesellschaft alles tun müsse, um eine solche Tat (wieder so ein negatives Wort) zu verhindern. Freier Wille, so argumentieren einige, könne in diesem Bereich gar nicht vorhanden sein. Wenn jemand das tue, dann sei er a priori behandlungsbedürftig. Ja, der Freitod wird gar als aggressiver Akt gegenüber Dritten (v.a. Angehörigen) interpretiert. 

Diese Vorbemerkung ist unerlässlich, weil in der heutigen Medienlandschaft der Tod ganz allgemein nur verschämt thematisiert wird. Da heute allgemein angenommen wird, es gebe einen Werther-Effekt und um diesen zu vermeiden, wird auch bei Bahnunternehmen höchstens von einem «Personenunfall» gesprochen. Und da sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass darunter die zerstückelte irdische Hülle eines Menschen zu verstehen ist, wird nicht einmal mehr dieser Begriff verwendet, sondern nur eine Betriebsstörung gemeldet.

Vor 150 Jahren war das noch ganz anders. Da wurden Tatwaffe, mutmassliche Veranlassung und sogar der Name offen kommuniziert, wie es sonst auch bei jeder anderen Meldung der Fall ist: Wer hat wann, wo, was mit welchen Mitteln und welchem Effekt getan. So beispielsweise in der NZZ vom 9. September 1871:

«Selbstmorde. * Den 4. September erschoß sich in Weiach hinter seinem elterlichen Hause Joh. Rüedlinger von dort, 39 Jahre alt. Der Unglückliche war vor zwei Jahren erblindet und es wird vermuthet, derselbe sei aus Lebensüberdruß zu dieser That geschritten. Letzten Montag hat sich in Neuenburg bei Wülflingen ein Mann im Alter von 53 Jahren, Vater von sieben Kindern in seiner Kammer durch Erhängen das Leben genommen.»

Auch diese Art von Berichterstattung lässt dem Menschen seine Würde. Jedenfalls eher als wenn nur von einer Betriebsstörung die Rede ist. Alles eine Frage der Interpretation.

Quelle

[Veröffentlicht am 7. November 2021 um 00:02 MEZ]

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