Die beiden letzten WeiachBlog-Beiträge handeln von Temperenzlern und Abstinenzbewegungen sowie der dörflichen Sitte der Schnapsbrennerei samt Eigenkonsum. Gegen das Saufen wurden vielfältige Massnahmen ergriffen, sowohl gesetzgeberisch auf Stufe Bund wie durch Kantone und Gemeinden (letztere v.a. über Wirtshausverbote).
Bekanntlich hat man in den USA zwischen 1920 und 1933 sogar landesweit die Herstellung, den Transport und den Verkauf von Alkohol per Verfassungszusatz verboten. Dieser Versuch einer totalen Prohibition war nicht zuletzt auf die dort stark in Erscheinung tretende Temperenz-Bewegung zurückzuführen. Die Verbotsstrategie scheiterte kläglich.
Denn das Ziel, die Kriminalität zu bekämpfen, wurde völlig verfehlt. Gewisse Bereiche der Mafia gelangten durch die sagenhaften Gewinne, die man mit Alkohol machen konnte, erst recht zu Macht und Einfluss (man denke nur an Al Capone). Und selbst die Volksgesundheit verbesserte sich nicht durchgehend, weil vermehrt illegal und teils ohne Fachwissen und Sachverstand Schnaps gebrannt und konsumiert wurde.
Alkoholverbote sind klassische Symptomtherapien. Die dem Missbrauch von gebrannten Wässern zugrundeliegenden Ursachen werden dadurch nicht adressiert. Eine Prohibitions-Strategie mag in der populistischen Politik Punkte bringen, nachhaltig ist sie nicht. Weil zur Prävention von Familientragödien – wie der nachstehend beschriebenen – denkbar ungeeignet.
Was ist da genau passiert?
Dank dem mittlerweile 169 Schweizer Zeitungstitel umfassenden Retrodigitalisierungsprojekt e-npa.ch können wir heutzutage einfacher als früher recherchieren, was zu bestimmten Themen öffentlich gedruckt verbreitet wurde. So auch zum Fall des Alkoholikers Heinrich Aeberle vom April 1881:
«In Weiach hat ein Heinrich Aeberle, nachdem er mit der Frau in Streit gerathen und diese ihm entflohen war, seinen Zorn am eigenen 2 1/2 jährigen Söhnlein ausgelassen, indem er ihm den Wetzstahl in den Bauch stach.» (Der Volksfreund (Chur), 20. April 1881)
«Zürich. Von Weiach (Wehnthal) wird ein gräßliches Verbrechen gemeldet. Der pensionirte und scheints dem Trunke ergeben gewesene Lokomotivführer Eberle (bis vor einiger Zeit viele Jahre in Rorschach wohnhaft), der in Weiach eine Mühle mit Bäckerei und Wirthschaft übernommen hatte, versetzte in einem Anfall von Rausch-Raserei seinem ältesten, etwa 11jährigen Knaben aus zweiter Ehe tödtliche Messerstiche in den Unterleib und suchte auch seine Frau und seine zwei kleinern Kinder zu tödten, die jedoch bis jetzt den erhaltenen Wunden nicht erlegen sind. Der Mörder ist festgenommen und zur Haft gebracht worden.» (Thuner Wochenblatt, Band 44, Nummer 32, 20. April 1881)
Bereits an diesen beiden, bezüglich der Fakten doch sehr unterschiedlichen Beiträgen zeigt sich, dass unterschiedliche Quellen vorgelegen haben müssen. Dasselbe Muster ist nämlich auch in den Folgetagen feststellbar:
«H. Aeberle, Pächter der Mühle in Weiach, ein dem Trunke ergebener Mann, zankte im Rausche mit seiner Frau und stieß dabei in der Wuth seinem 2 1/2 jährigen Knaben den Wetzstahl in den Unterleib. Der Thäter ist verhaftet.» (Zürcherische Freitagszeitung, Nummer 16, 22. April 1881)
Im Stadtzürcher Konkurrenzblatt Neue Zürcher Zeitung fehlt hingegen jede Spur von diesem Fall. Dafür wurde er in der Gallus-Stadt aufgenommen:
«Von Weiach (Wehnthal) wird ein gräßliches Verbrechen gemeldet. Der pensionirte und scheint's dem Trunke ergeben gewesene Lokomotivführer Eberle (bis vor einiger Zeit viele Jahre in Rorschach wohnhaft), der in Weiach eine Mühle mit Bäckerei und Wirthschaft übernommen hatte, versetzte in einem Anfall von Rausch-Raserei seinem ältesten, etwa 11 jährigen Knaben aus zweiter Ehe tödtliche Messerstiche in den Unterleib und suchte auch seine Frau und seine zwei kleinern Kinder zu tödten, die jedoch bis jetzt den erhaltenen Wunden nicht erlegen sind. Der Mörder ist festgenommmen [sic!] und zur Haft gebracht worden.» (Die Ostschweiz, 24. April 1881)
Im Tagblatt der Stadt Biel (Band 19, Nummer 95) vom 23. April 1881 ist derselbe Text wie Tage zuvor im Thuner Wochenblatt abgedruckt.
Interessant an der Meldung, die in Biel, Thun und St. Gallen ins Blatt gerückt wurde, ist, wie Weiach dem «Wehnthal» zugeordnet wird. Das Wehntal steht hier im weiteren Sinne sozusagen als pars pro toto für den gesamten Bezirk Dielsdorf.
Sind Dritte zu Hilfe gekommen?
Schliesslich taucht noch eine dritte Beschreibung der Tat in den Gazetten auf, wieder mit andern Details, insbesondere punkto Alter eines der Opfer und einer Beschreibung des Alkoholkonsums:
«Zürich. In Weiach (Bezirk Dielstorf) hat ein dem Schnapstrunke ergebener Mann, nachdem er wieder eine ganze Maß Schnaps getrunken, seinem 1 1/2 jährigen, ruhig im Bettlein schlafenden Knäblein mit einem Messer den Bauch aufgeschnitten. Das Scheusal wollte auch sein zweites Kind auf diese Art tödten, wurde aber von seiner Frau, die ihn zu Boden werfen konnte, daran verhindert. Wäre der Frau nicht sofort Hülfe gekommen, so hätte er dennoch das Kind und vielleicht auch sie getödtet.» (Zuger Volksblatt, Band 21, Nummer 34, 27. April 1881)
Selbst in rätoromanischer Sprache wurde über diese Tat berichtet. Und die Grundlage ist offensichtlich ein Bericht, wie er auch dem Zuger Volksblatt vorgelegen haben muss:
(Fögl d’Engiadina, Band 24, Nummer 18, 30. April 1881)
Namensvariante Werach
Nicht ganz so einfach zu finden sind fünf Kurzartikel in französischsprachigen Blättern. Denn dort wird durchgängig die Verschreibung von Weiach zu «Werach» verwendet.
So in La Tribune de Genève (Band 3, Nummer 92), der Ausgabe 2 vom 20. April 1881:
«Zurich. —Un crime horrible a été commis à Werach [sic!]. Un ancien mécanicien nommé Eberlé adonné à la boisson et qui tenait une auberge a, dans un accès de folie furieuse, tué à coups de couteau son fils âgé de onze ans, et grièvement blessé sa femme et deux autres enfants plus jeunes. Le coupable a été arrêté.»
Derselbe Text erschien am 22. April in der Zeitung Le Bien public aus Fribourg sowie der in Porrentruy erscheinenden Zeitung Le Jura (Band 31, Nummer 32) und am darauffolgenden Tag, 23. April, in Le Chroniquer Suisse (Eigenbezeichnung: Journal catholique politique et littéraire) aus Fribourg, sowie dem Journal du Jura (Organe des libéraux jurassiens), das in der Seeländer Metropole Biel/Bienne 6x pro Woche publiziert wurde.
Mit Ausnahme der Tribune de Genève, wo «Weraeh» erfasst ist, liegt hier kein Fehler bei der Texterkennung im Verlauf der Digitalisierung vor.
In dieser vierten Version wurde aus der Mühle mit Bäckerei und Wirtschaft eine «auberge», also ein Gasthof mit Fremdenzimmern, was im Falle Weiach nur der «Sternen» sein könnte. Falls aber die Mühle wirklich das Hauptgewerbe war, dann müsste es sich bei dem mutmasslichen Pachtobjekt um die Mühle im Oberdorf (Müliweg 7) handeln.
Im Burghölzli gelandet?
In diesem Fall Heinrich Eberle wären noch die Gerichtsakten im Staatsarchiv auszuwerten. Diese könnten klären, welche der kolportierten Details näher an den Geschehnissen liegen als andere.
Bislang habe ich unter dem Namen des Täters nur einen Katalogeintrag gefunden, der durchaus auf ihn passen könnte, nämlich in den Krankengeschichten der kantonalen Irrenheilanstalt Burghölzli: «Aeberle, Heinrich, m., (geb. 1836), Landwirt, von Erlenbach. Krankheitsform: Delirium alcoholicum.». Die Akte ist auf das Eintrittsjahr 1898 datiert und trägt die Signatur: StAZH Z 100.7149. Ob es sich um eine Drittperson oder den Mühlenpächter handelt, ist zu klären.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen