Samstag, 11. Juni 2022

Karussellbesitzer in Weiach verhaftet. Ein Sittlichkeitsverbrecher?

In den Roaring Twenties war der Kanton Zürich noch in mancher Hinsicht ein eigenständigeres Staatsgebilde als heute. Da gab es zum Beispiel noch ein kantonales Strafrecht. Und der Kanton konnte einen Kantonsverweis aussprechen (was heute nicht mehr möglich ist). Der traf Personen, die auf Kantonsgebiet straffällig geworden waren (vgl. WeiachBlog Nr. 1627), aber auch abgeschobene Sozialfälle (vgl. WeiachBlog Nr. 1628). 

Damals gab es auch noch Zeitungen, die drei (!) Ausgaben pro Tag produzierten, darunter die NZZ. Wenn wir in einer dieser Ausgaben blättern, die in drei Tagen ihren 100sten Geburtstag feiern können, dann finden wir in der Rubrik Unglücksfälle und Verbrechen auch «Kantonalzürcherische Polizeinachrichten vom 10. Juni.» Also von gestern vor 100 Jahren:

«Verhaftet wurden: In Oerlikon ein Buchbinder aus dem Kanton Uri, der aus dem zürcherischen Kantonsgebiet ausgewiesen ist; am Zürichberg wegen öffentlicher Vornahme unsittlicher Handlungen ein Färber aus dem Kanton St. Gallen; in Zürich eine ältere Spetterin aus dem Luzerner Seetal wegen Diebstahls eines Portemonnaies mit wertvollem Inhalt; ein Gärtner aus dem Unterlande wegen Diebstahls von Kleidern sowie wegen eines Bargelddiebstahls; in Weiach ein Karusselbesitzer aus dem Thurgau wegen Sittlichkeitsverbrechens.»

Immerhin wird hier schon so etwas wie eine Unschuldsvermutung gewahrt. Die Namen werden nicht genannt, was auch richtig ist, denn verhaftet heisst noch nicht verurteilt. Das ist nicht Sache der Polizei, sondern obliegt den Gerichten. 

Und so ist auch der in Weiach – wohl vom hier zwischen 1919 und 1925 stationierten Polizeisoldaten Friedrich Keller – verhaftete mutmassliche Sittenstrolch aus dem Thurgau nur mit seinem Beruf verewigt. 

Hätten Sie übrigens gewusst, was eine Spetterin ist? Diesen Begriff hatte die 1940 geborene Mutter des hier Schreibenden noch im aktiven Wortschatz. Sie spettete auch als Primarlehrerin ab und zu – und blieb dabei ihrer Profession treu. Die Erklärung findet man im Schweizerdeutschen Wörterbuch, dem sogenannten Idiotikon (Bd. 10, Sp. 600):

Spetten bedeutet ursprünglich u.a. «fremde Pferde vorspannen oder Vorspann nehmen» und in einem davon abgeleiteten Sinne: Jemandem «helfen, Unterstützung, Vorschub leisten». Eine Spetterin ist also eine (temporär eingestellte) weibliche Aushilfskraft, die sonst nicht zur Belegschaft gehört.

Quelle

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