«Die Abstinenzbewegung (auch Temperenz- oder Temperanzbewegung, von lat. temperantia „Mäßigung“) ist eine soziale Bewegung gegen den Genuss alkoholischer Getränke, die Ende des 19. bis Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt hatte». So hebt der einschlägige Wikipedia-Artikel an und erläutert im weiteren Verlauf auch den weltanschaulichen Hintergrund:
«Temperenzler sahen im totalen Verzicht auf Alkohol einerseits einen Ansatz zur Heilung von Alkoholkranken, andererseits eine sozialreformerische Maßnahme, da sie den Alkoholkonsum als Ausdruck mangelnder Tugendhaftigkeit betrachteten, die sie wiederum für die Ursache des Elends der unteren Klassen hielten. Dadurch stand die Abstinenzbewegung der Sittlichkeitsbewegung nahe, die eine moralische Reform der Gesellschaft anstrebte. Die Abstinenzvereine zeichneten sich deswegen auch durch ein hohes Sendungsbewusstsein gegenüber der Arbeiter- und Bauernschaft aus.
Mitte der 1880er Jahre brachte der Basler Professor Gustav von Bunge sozialhygienische Argumente in die Abstinenzbewegung ein: Durch den Alkoholkonsum werde das menschliche Erbgut geschädigt und dadurch die Volksgesundheit gefährdet. Deshalb forderte Bunge ein Alkoholverbot und Abstinenz für die gesamte Bevölkerung.»
Daraus entstanden ganze Leitfäden für Lehrpersonen, wie 1895 das Temperenz-Handbuch (vgl. die digitalisierte Version in der Sammlung e-Helvetica der Nationalbibliothek: nbdig-47709). Und natürlich an Gesundheitspolitiker und Ärzte gerichtete Abhandlungen, wie die von August Smith mit dem Titel Ueber Temperenz-Anstalten und Volksheilstätten für Nervenkranke. Die für dieselben in Betracht kommenden Erkrankungen und deren Behandlungsweise (2. durchgesehene Auflage, 1899).
Überbordende Hausbrennerei eindämmen
Wenig überraschend, dass sich in diesem Bereich auch in Weiach einiges getan hat: Lehrpersonen, Pfarrer und deren Ehefrauen sowie andere sozial Engagierte (wie der Frauenverein) machten sich im Sinne der Stärkung der Familien für die Abstinenz stark.
Man sieht den sozialreformerischen Ansatz selbst im blauen Büchlein von Zollinger, wo der langjährige Dorfschullehrer schreibt: «Eine weitere Wohltat [nach dem in Bundesbern erlassenen eidg. Fabrikgesetz von 1877] war die Alkoholgesetzgebung von 1885, da sie die überbordende Hausbrennerei nach und nach einzudämmen vermochte.» (1. Aufl. 1972 – S. 49; PDF, 4.53 MB).
Warum es in diesem Punkt gerade in Weiach Probleme geben konnte, das zeigt sich schon allein an den vielen Obstbäumen, die damals den Dorfkern gleichsam in einem Wald verschwinden liessen, Brennapparate waren natürlich auch verfügbar (vgl. WeiachBlog Nr. 1731 über einen 1840 gestohlenen Kupferhafen). Und vom Vorhandensein von Weinbergen, Wirtschaften und sogar Bierbrauereien wollen wir gar nicht erst anfangen.
Das Phänomen Posaunenchor
Die Temperenzbewegung hatte nicht zuletzt auch christlich-religiöse Wurzeln und wurde von diesen Kreisen aktiv gefördert. Das lässt sich an der Marke «Blaues Kreuz» sehr gut illustrieren, die in der Schweiz seit 1877 aktiv ist. Der Gründer Louis-Lucien Rochat, ein Genfer, war Pfarrer einer Freikirche. Schon damals war der Grundsatz: «Evangelium und Abstinenz – mit Jesus und ohne Alkohol» wegleitend.
Am besten fängt man mit der Abstinenz in frühester Jugend an. Und wie holt man junge Menschen ab? Indem man ihnen Gemeinschaftserlebnisse verschafft, zum Beispiel mit aktivem Musizieren. Aber eben so, dass nach den Proben und Festen keine Saufgelage stattfinden. Das ist man schon allein den Erziehungsberechtigten schuldig.
In unserer Gegend ist dieses Blaukreuz-Vorgehen nachweislich angewandt worden, wie man u.a. dem 2013 publizierten, dicken Farbbildband «Geschichten zu Glattfeldens Geschichte» entnehmen kann. Der Autor, Harry Nussbaumer, widmet der Angelegenheit ein ganzes Kapitel: «Glattfeldens rätselhafter Posaunenchor».
Dieser Posaunenchor war «sehr religiös und alkoholfrei ausgerichtet» und entsprechend dem «Christlichen Musikverband der Schweiz» angeschlossen [Hinweis: Der Verband verfügt über ein Archiv, wo man allenfalls weitere Unterlagen dazu findet]. Für diese Art Musikvereine waren Namen üblich wie Christlicher Musikverein, Posaunenchor, Temperenzmusik oder Blaukreuzmusik.
Im September 1903 gab es einen Auftritt des «Christl. Musik-Vereins vom blauen Kreuz Glattfelden». Im selben Jahr wurde auch in Weiach ein Posaunenchor gegründet, vgl. WeiachBlog Nr. 362 u. 716 (s. Literatur unten).
Blaukreuz-Aktivitäten
Dieser Blaukreuz-Musikverein trat bald in den Nachbargemeinden in Erscheinung, so u.a. auch bei uns: «Und auf den 23. Oktober 1904 wurde für die Kirche Weiach, unter Mitwirkung der Musik- und Gesangvereine der Sektion Glattfelden, ein Blaukreuzvortrag angekündigt. [...]» (Nussbaumer – S. 347)
Welche Aktivitäten die Blaukreuz-Bewegung in unserer Gemeinde entfaltet hat, ist eine noch zu erforschende Angelegenheit. Die schiere Existenz der sog. Blaukreuz-Protokolle im Archiv der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde (ERKGA Weiach; vgl. Quellen und Literatur unten) lässt zumindest erahnen, dass sie nicht grad ganz unbedeutend waren. Einen Hinweis geben auch folgende Zeilen:
«Der Bezirksverband vom Blauen Kreuz von Bülach lud zu einer Propagandaversammlung auf Sonntag, den 24. November 1912, in die Kirche Weiach ein «unter Mitwirkung der Blaukreuz-Musik Glattfelden».» (Nussbaumer – S. 348)
Instrumenten- und Musikantenmangel
Nachdem sich aus dem 1903er Posaunenchor im Jahre 1913 die erste Dorfmusik Weiach gebildet hatte (bereits 1915 kriegsbedingt eingegangen) baten gemäss Visitationsbericht einige «Jünglinge» am 18. Januar 1914 den Weiacher Pfarrer Kilchsperger, er möge «einen Jünglingsverein u. wo möglich einen Posaunenchor gründen. Das erstere geschah, aber das letztere nicht wegen Schwierigkeiten in der Beschaffung von Instrumenten. Die anfängliche Begeisterung verschwand deshalb rasch, u. schon im Dez. 1915 musste die Auflösung des Vereins erfolgen wegen mangelhafter Beteiligung der wenigen Mitglieder.» (Vgl. WeiachBlog Nr. 716).
Man sieht an diesen beiden letzten Beispielen deutlich, wie stark die Rolle der Musik ist. Unklar (aber aus den Umständen heraus nicht auszuschliessen) ist, ob der Übergang zur Dorfmusik mit dem Ablegen des Temperenzcharakters einherging und der Neugründungsversuch von 1914/15 somit sozusagen eine religiöse Abspaltung darstellt.
Kein Allheilmittel gegen Exzesse
Dass natürlich auch musizierenden Temperenzlern die Temperamente auf fatale Weise durchgehen konnten (zumindest im heissen Süden der USA), zeigt der nachstehende Bericht aus der in Indianapolis in deutscher Sprache erscheinenden «Indiana Tribüne» [sic mit ü!] vom 18. Oktober 1882:
«Der farbige Daniel King in dem Städtchen Kennerville, das zehn Meilen oberhalb New Orleans am Mississippi liegt, war ein so guter Trommler, wie dereinst der kleine Tambour Veit. Am Sonntag vor acht Tagen hatte er einer Procession nach einer demokratischen Ratifications-Versammlung vorgetrommelt. Am nächsten Tage lieh er seine Trommel einer farbigen Musikbande, welche derselben zur Musik während einer republikanischen Versammlung bedurfte. Einige Tage später forderte King seine Trommel zurück, da er dieselbe brauchte, um demokratische Musik zu machen. Die republikanische Musik war gerade zu einer Probe versammelt, und verweigerte die Herausgabe der Trommel, da sie an demselben Abend Temperenzmusik zu machen hatte. King wurde wütend, riß seinem Collegen Trommler das geliebte Instrument vom Leibe und zerschnitt mit seinem Messer beide Felle. Die Temperenz-Musiker zogen ihre Revolver, schossen den Trommler-Virtuosen zusammen und entflohen. Die Mörder werden verfolgt.»
Die Deutschstämmigen stellten gemäss dem American Community Survey noch vor wenigen Jahren (2014) rund 24 Prozent der Bevölkerung des US-Bundesstaats Indiana (vgl. Wikipedia-Artikel Indiana).
Quellen und Literatur
- Indiana Tribüne (Indianapolis, Marion County), Jahrgang 6, No. 30, 18 October 1882.
- Protokolle Verein zum blauen Kreuz Weiach und Umgebung (2 Bände, 1905-1937). Archiv der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Weiach, Signatur: ERKGA IV.B.1.
- Brandenberger, U.: Dorfmusik Weiach – vor 50 Jahren aus der Taufe gehoben. WeiachBlog Nr. 362 v. 20. Januar 2007.
- Brandenberger, U.: Jünglingsverein und Posaunenchor. WeiachBlog Nr. 716 v. 19. Dezember 2009.
- Nussbaumer, H.: Geschichten zu Glattfeldens Geschichte, Glattfelden 2013 – S. 345-348.
- Knabenhans, A.: Straight Edger fühlen sich nüchtern stark: kein Sex, kein Alkohol, keine Zigaretten. In: Neue Zürcher Zeitung, 29. April 2018.
- Abstinenzbewegung. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie (Hrsg); Wikipedia-Autoren, gemäss Versionsgeschichte. Versions-ID: 217519068.
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