Samstag, 19. November 2022

Oberglatter Aufstand gegen die Weiacher Kies AG

Bekanntlich hält die Gemeinde Weiach seit der Gründung der Weiacher Kies AG durch den Haniel-Konzern aus Duisburg an der Firma eine Minderheitsbeteiligung. Der Gemeinderat entsendet ein Mitglied in den Verwaltungsrat des grössten Industriebetriebs auf Gemeindegebiet.

Wenn diese Firma in eine Kontroverse gerät, die fast die Hälfte der Einwohner einer Gemeinde im Zürcher Unterland veranlasst, einen Protest an die Adresse des Regierungsrates zu unterzeichnen, dann wird man im Weiacher Gemeindehaus hellhörig.

Was am 18. Oktober 1972 in der NZZ zu lesen war, tönte allerdings noch nicht so spektakulär und trug auch einen eher irreführenden Titel:

Gegen zusätzlichen Lastwagenverkehr in Rümlang

«Wm. In Kürze wird auf dem Industriegelände in Rümlang eine Betonaufbereitungsanlage in Betrieb genommen werden. Der Werkverkehr wird der Gemeinde Oberglatt eine unzumutbare Belastung bringen. Die Bevölkerung ist beunruhigt durch die zu erwartende Zunahme des Lastwagenverkehrs und der damit verbundenen Immissionen von Staub, Lärm und Abgasen. Vor allem aber ist eine zusätzliche Gefährdung der Schulkinder und Betagten vorauszusehen. Darum hat sich in Oberglatt eine Aktionsgruppe gebildet, welche die menschlichen Interessen der Betroffenen wahrzunehmen gewillt ist. Als erster Schritt wird eine von möglichst vielen Einwohnern unterzeichnete Eingabe an den Regierungsrat gerichtet werden, die eine sofortige Sanierung der Zufahrtsverhältnisse fordert.»

Genau am heutigen Datum vor 50 Jahren erschien dann aber  ebenfalls in der NZZ, aber aus der Feder eines anderen Journalisten – eine ganzseitige (!) Reportage zu diesem Thema. Und im Zentrum der Kontroverse stand die Weiacher Kies AG. Der saftige Titel:

Entrüstung im Glattal

«aer. Seit einigen Wochen sehen sich vor allem Behörden und Bevölkerung von Oberglatt mit schwerwiegenden Verkehrsproblemen konfrontiert. Sie müssen befürchten, daß sich bald einmal ein intensiver Lastwagenverkehr mitten durch ihr langgezogenes Dorf zwängen wird. Anlaß zu diesen Befürchtungen gibt die Erschließung eines neuen Industriegebiets in Rümlang, wo sich neben anderen Betrieben die Weiacher Kies AG mit einer Betonaufbereitungsanlage angesiedelt hat. Bereits ist in verschiedenen Pressemitteilungen und Stellungnahmen über diese Anlage berichtet worden. In Oberglatt hat sich ein Aktionskomitee gebildet, das die Opposition zu sammeln sucht und sich bereits mit einer von 1300 Personen unterzeichneten Eingabe an den Regierungsrat gewandt hat, um auf die Dringlichkeit des Problems hinzuweisen. Zudem hat der aus der Region stammende Kantonsrat Hans Maag (Stadel) zu dieser Sache eine Interpellation eingereicht. [Vgl. Text des Vorstosses in der  Archivdatenbank des Staatsarchivs]

Kies- und Betontransporte 

«Im Mittelpunkt der Kritik steht die Anlage der Weiacher Kies AG, die demnächst ihren Betrieb aufnehmen soll. Dieses sogenannte Transportbeton-Aufbereitungswerk dient der Herstellung von Fertigbeton, mit dem von Rümlang aus verschiedene Baustellen in der Agglomeration Zürich beliefert werden sollen. Nach einem in der modernen Bauindustrie üblich gewordenen Verfahren wird nämlich heute das Kiesmaterial zum großen Teil nicht mehr auf den einzelnen Baustellen zu Beton verarbeitet. Diese Aufgabe übernehmen zentrale Aufbereitungswerke wie die neue Anlage in Rümlang. Der Aktionsradius dieser «Betonfabriken» ist allerdings beschränkt auf 10 bis 15 Kilometer, da der Beton innert einer relativ kurzen Zeitspanne auf der Baustelle weiterverarbeitet werden muß. Das ist auch der Grund dafür, daß der von der Weiacher Kies AG in der Rhein-Talsohle zwischen Glattfelden und Weiach geschürfte Kies nicht am Orte der Ausbeutung zu Fertigbeton aufbereitet werden kann. 

Eine Folge der geschilderten Umstellung auf die Lieferung von Fertigbeton ist die starke Konzentration des damit verbundenen Transportverkehrs auf gewisse Routen. Das bringt zum einen gewisse Vorteile; so ist über längere Distanzen der Transport dieses wichtigen Baumaterials per Bahn möglich geworden [Vgl. WeiachBlog Nr. 1868 mit Bild der Förderbandanlage für die Nationalstrasse N3]. Anderseits ist damit für bestimmte Gebiete eine starke Zunahme des Lastwagenverkehrs fast unumgänglich geworden. Denn zumindest der Abtransport des Materials von der Aufbereitungsanlage zur Baustelle läßt sich nur über die Straße ausführen, wobei für diese Aufgabe Spezialfahrzeuge verwendet werden müssen. 

Für die Anlage in Rümlang, bei der auch der Antransport des Kiesmaterials per Lastauto erfolgen soll, ist nach den Angaben des technischen Leiters der Weiacher Kies AG, Josef Hess, pro Arbeitstag mit über 200 Fahrten zu rechnen. Nach seinen Ausführungen beträgt die Kapazität der Anlage nach einer Anlaufszeit von einem bis zwei Jahren 50 000 bis 60 000 Kubikmeter Beton im Jahr. Für den Antransport des dazu erforderlichen Kiesmaterials werden täglich durchschnittlich 40 Anhängerzüge eingesetzt werden müssen. Für den Abtransport des Betons hingegen muß mit 75 Fahrzeugen pro Tag gerechnet werden. Nimmt man dazu die notwendig werdenden Leerfahrten – für den Zu- und Abtransport können nicht dieselben Lastwagen verwendet werden –, so ergibt sich die Zahl von 230 Fahrten. Bei einem größeren Bauvolumen kann die Zahl der täglichen Fahrten nach den Angaben von Josef Hess jedoch auch einmal bis aufs Doppelte ansteigen.» 

Parallelen Ausbau der Verkehrinfrastruktur verschlafen

Beim angesprochenen neuen Industriegebiet handelt es sich um die Riedmatt, die sich auf Rümlanger Gebiet zwischen der Gemeindegrenze und der Bahnlinie befindet. Dieses Gebiet hatte man ab 1971 erschlossen. Den Oberglattern war nicht entgangen, dass dort (laut NZZ) rund 40 Betriebe ihre Lager- oder Produktionshallen ansiedeln wollten. Von diesen zeugte ein ganzer Wald von Baugerüststangen. Der Ausbau der Zufahrtsstrassen um das Industriegebiet herum wurde allerdings äusserst stiefmütterlich behandelt. Und was das für sie bedeuten würde, war den Oberglattern ebenfalls klar, wie etwas weiter unten in der NZZ-Reportage erläutert wird:

«Da die Zu- und die Wegfahrt zum Industriegebiet Riedmatt über Rümlang erschwert sind – die für den Lasttransport in Frage kommende Zufahrt zur ausgebauten Hauptstraße RümlangZürich wird durch einen Bahnübergang täglich während zehn bis zwölf Stunden blockiert , befürchtet man in Oberglatt, daß nicht nur das von Weiach über Stadel, Niederglatt herangeführte Kiesmaterial durch Oberglatt nach Rümlang gefahren wird. Es muß vielmehr damit gerechnet werden, daß auch der aus dem Industriegebiet kommende Transportverkehr seinen Weg zur Hauptsache über Oberglatt nimmt.»

Dass die Weycher und Raater oder wahlweise auch die Windlemer, besonders aber die Stadler und Neeremer nicht ebenfalls auf die Barrikaden gingen, erklärt sich aus dem Umstand, dass damals bereits seit 2 Jahren die sogenannte «Kiesstrasse» existierte. Diese Umfahrungsstrasse beginnt am Rand des Neeracher Rieds und zieht sich am östlichen Rand der Ebene gegen den Strassberg entlang bis sie westlich von Aarüti in die alte Hauptstrasse Basel-Winterthur einmündet.

In Oberglatt hingegen gab es die heute bestehende Direktverbindung vom Bhf Oberglatt entlang der Bahnlinie ins Industriegebiet Riedmatt noch nicht (vgl. die Karte unter https://maps.zh.ch/s/f5sx9pzu). Wer von Norden her dorthin wollte, der entschied sich (im Wissen um die oft geschlossene Rümlanger Barriere) beim Bahnhof Oberglatt links abzubiegen und durchs Dorf hindurch zu fahren. Jeder einzelne Kiesbomber von Weiach in die Riedmatt würde sich also seinen Weg durch Oberglatt bahnen.  

Begreiflicher Unwille der Bevölkerung 

«Die zu erwartende starke Verkehrszunahme hat in Oberglatt zu einem Sturm der Entrüstung geführt. Wer die heute dort bestehenden Verkehrsverhältnisse kennt, wird verstehen, weshalb sich nicht weniger als 1300 der rund 3000 Gemeindebewohner der Unterschriftenaktion des Aktionskomitee  angeschlossen haben. Die Lage ist nämlich schon jetzt sehr prekär. Auf der Route zwischen dem Bahnhof von Oberglatt, dem alten Dorfkern und dem neuen Industriegebiet gibt es eine Reihe äußerst gefährlicher Stellen.»

Der NZZ-Reporter führt weiter aus, dass sich die Oberglatter vom Kanton im Stich gelassen fühlten: Die Gemeindebehörden hätten sich seit Jahren vergeblich um eine Sanierung der mißlichen Verhältnisse bemüht. Diesen Vorwurf wollte allerdings der Kreisingenieur nicht auf sich sitzen lassen und warf der Gemeinde seinerseits vor, sie sei «zu spät aus ihrem Dauerschlaf erwacht». Allein waren die Oberglatter mit ihrem Protest nicht:

«Denn auch in Niederglatt ist die Sammlung der Opposition durch eine Aufforderung der Gemeindebehörden in Gang gekommen. Hier werden Maßnahmen zur Entlastung des Durchgangsverkehrs von den Transporten der Weiacher Kies AG verlangt. Direkte Zusammenarbeit im Bemühen um eine Sanierung der Verkehrsverhältnisse ist mit der Gemeinde Rümlang zu erwarten. Man ist sich in Rümlang bewußt, daß die mit der Erschließung des Industriegebiets Riedmatt entstehenden Schwierigkeiten nicht einfach auf die Nachbargemeinde abgeschoben werden können, zumal auch die Verkehrsverhältnisse im eigenen Ort sanierungsbedürftig sind.»

Mit dem Gleisanschluss wird es nichts

«Neben dem Ausbau des bestehenden Straßennetzes schlägt man in Oberglatt den Bau eines Geleiseanschlusses für die Weiacher Kies AG vor. Damit könnte der Antransport des Kiesmaterials auf den Schienenweg verwiesen werden, was eine starke Entlastung bringen würde. Diese Lösung kommt jedoch nach Angaben der Rümlanger Gemeindebehörden nicht mehr in Frage, da im neuen Industriequartier die möglichen Geleiseanschlüsse bereits an andere Firmen vergeben worden sind, nachdem sich die Weiacher Kies AG nie um diese Möglichkeit bemüht hat. Für diese Firma kommt nach den Ausführungen von J. Hess ein Transport per Bahn über die relativ kurze Strecke von Weiach nach Rümlang aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Frage. Für den Entlad der Kieszüge wäre eine Geleiselänge von rund 400 Metern notwendig. Der Bau einer solchen Anlage und der Schienentransport brächten nach den Ausführungen des technischen Leiters der Weiacher Kies AG eine relativ hohe Verteuerung des Kiesmaterials, was sich beim heute herrschenden Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Betonlieferanten nachteilig auswirken würde. 

Eine weitere Möglichkeit wäre der Bau einer speziellen Kiesstraße, die von der Hauptstraße zwischen dem Bahnhof Oberglatt und Rümlang direkt zum Transportbetonwerk geführt werden müßte und zumindest den Dorfkern von Oberglatt nicht mehr berühren würde. Nach der heute geltenden Gesetzgebung kann jedoch die Weiacher Kies AG zum Bau dieser Straße nicht gezwungen werden, auch von der öffentlichen Hand wird sie kaum finanziert werden. Hinzu kommen Schwierigkeiten wegen der Besitzverhältnisse bei den für diese Lösung benötigten Grundstücken, so daß eine Kiesstraße kaum realisiert werden kann.»

Vergegenwärtigt man sich die Lage des heute nicht mehr existierenden Betonwerks, die Parzelle  Rümlang-5835, ein kleines Stück Land zwischen Wibachstrasse und Riedmattstrasse (vgl. https://maps.zh.ch/s/ychbdxns), dann wird auch klar, dass es mit dem Bahnanschluss grössere Problem gegeben hätte, nicht zuletzt was die Entflechtung von Strasse und Schiene anging.

Lösungsmöglichkeiten 

Wie schon der oben angesprochene Zwist zwischen den Oberglatter Gemeindebehörden und dem Kreisingenieur zeigt, waren die Probleme nur durch bessere Zusammenarbeit zu lösen. Der NZZ-Journalist appellierte auch an die Leitung der Haniel-Tochter, ihren Teil beizusteuern:

«Zu hoffen ist sodann, daß auch die Weiacher Kies AG und die in ihren Diensten stehenden Transportfirmen mit ihren Chauffeuren für die Probleme der beunruhigten Bevölkerung Verständnis aufbringen und größtmögliche Rücksicht walten lassen. Keinesfalls sollte es dazu kommen, daß die Chauffeure durch ein verstecktes Akkordsystem zu unzulässiger Fahrweise ermuntert werden. Wie Josef Hess erklärte, wird seine Firma die Möglichkeit prüfen, wie die Kiestransporte während der Zeiten vor Schulbeginn und nach Schulschluß eingeschränkt werden können

In ihrem Schlussfazit verschonte die NZZ die Weiacher Kies AG genauso wenig mit Kritik wie die anderen an diesem Planungsdebakel Beteiligten: 

Keine rechtzeitige Koordination 

«Betrachtet man den Fall Riedmatt, so ist man geneigt, von mangelnder Koordination zu sprechen. Dieser Mangel ist zum einen begründet in unserer Gemeindeautonomie. Sie kann zur Folge haben, daß Probleme, die eigentlich eine ganze Region berühren, zu spät oder überhaupt nicht in den ihnen gebührenden größeren Zusammenhang gestellt werden. Im Falle des Industriegebiets Riedmatt ist die gegenseitige Information zwischen den betroffenen Gemeinden zwar angelaufen, sie hätte aber schon früher erfolgen sollen. An der notwendigen frühzeitigen Zusammenarbeit scheint es auch im Verhältnis zwischen Gemeinden und Kanton gemangelt zu haben. Auch die Weiacher Kies AG hat die frühzeitige Zusammenarbeit nicht gesucht. Sie hat nach Angaben der Rümlanger Gemeindebehörden ihr Land über einen Dritten erworben und die Gemeinde gewissermaßen vor ein Fait accompli gestellt. Eine frühzeitige Information und Koordination wäre hier jedoch am Platze gewesen. Die Interessen der Wohnbevölkerung hätten dann von Anfang an gewahrt werden können, zu einem Zeitpunkt, als noch Lösungsmöglichkeiten offenstanden, die jetzt nicht mehr in Frage zu kommen scheinen.

Quellen

  • Gegen zusätzlichen Lastwagenverkehr in Rümlang. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 487, 18. Oktober 1972, Ausgabe 02 – S. 19. 
  • Interpellation Kantonsrat Maag Hans (Stadel) v. 30. Oktober 1972. Signatur: StAZH MM 3.137 RRB 1973/0100 
  • Entrüstung im Glattal. Problemreiche Erschließung des neuen Rümlanger Industriegebiets. In: Neue Zürcher Zeitung, Nummer 541, 19. November 1972 – S. 39.

[Veröffentlicht am 20. November 2022 um 01:20 MEZ]

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