Hängen Ihnen die Corona-Massnahmen zum Hals heraus? Willkommen im Club der Lebenden und Toten. Unsere Vorfahren hatten vor 300 Jahren ein ähnliches Gefühl: Es ist überstanden und jetzt soll (und muss) das Leben weitergehen wie vorher. Die Zürcher Regierung war da allerdings anderer Meinung.
Keine Toten: Abriegelung und Zertifikaten sei Dank
Das Coronavirus dieser Tage war das Pestbakterium (von dessen Existenz man damals noch keine Ahnung hatte). In Marseille hatte es tödliche Schneisen insbesondere in den ärmeren Quartieren geschlagen, so sehr, dass die Stadt 1720 von ihrem Umland vollständig abgeriegelt wurde (einige Mauern aus der damaligen Zeit kann man heute noch besuchen, bspw. die 25 km lange Mur de la Peste im Département Vaucluse).
Diese und weitere drastische, vornehmlich den Waren- und Personenverkehr beschränkende Massnahmen quer durch Europa (vgl. frühere Artikel unten für eine Übersicht zu den für Zürich relevanten Mandaten) konnten von den Regierenden durchaus als Erfolg gewertet werden, auch wenn selbst ihre Experten im Sanitätsrat die tieferen medizinischen Ursachen noch lange nicht durchschaut hatten.
Denn anders als im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, oder auch noch 1611/12, beim letzten gravierenden Pestzug, der das Zürcher Gebiet um mehr als 25 Prozent (!) seiner Einwohner gebracht hatte, musste man aufgrund der Marsilianischen Pest in Zürich keine Opfer beklagen. Es sei denn solche aufgrund der wirtschaftlichen Einschränkungen, die in ähnlicher Form in weiten Teilen Europas durchgesetzt wurden.
Kontrolle ist immer gut. Massnahmen sollen bleiben
Und dann also dieses erneute Pestmandat, das am 16. November 1722, also vorgestern vor 300 Jahren, von der Zürcher Regierung erlassen wurde und kurz darauf auch auf dem Tisch des damaligen Weiacher Pfarrers Wolf lag. Der hatte sich schon mit der Betriebsorganisation des Weiacher «Erlufftungshauses» herumschlagen müssen, das 1720/21 auf Anordnung der Regierung für die Quarantäne von Handelswaren eingerichtet worden war (vgl. WeiachBlog Nr. 1618). Und er war nicht gerade begeistert über die wenig praxistauglichen Anordnungen des Sanitätsrates (vgl. WeiachBlog Nr. 1660).
In welcher Form Pfarrer Wolf die nachstehenden Informationen der Dorfgemeinschaft mitgeteilt hat, wissen wir nicht. Aber auch die normalsterblichen Weyacherinnen und Weyachern dürften über den Inhalt wohl letztlich wenig erbaut gewesen sein. Denn mit diesem Mandat wurde der Aufwand aus der Krisenzeit in gewissen Bereichen auf unbestimmte Zeit zementiert:
Einblattdruck ; 45 x 35 cm (verzeichnet bei Schott-Volm, Policeyordnungen Zürich als Nr. 1490)
Lockerungen im Stil von 1722
Wie mit den Texten der vorangegangenen Mandate praktiziert, soll auch der volle Wortlaut dieses siebten Pestmandats auf WeiachBlog eingestellt werden. Lediglich die Zwischentitel und in eckigen Klammern gesetzte Bemerkungen sind redaktionelles Beiwerk:
«Wir Burgermeister und Rath der Stadt Zürich / entbiethen allen und jeden Unseren Angehörigen zu Stadt und Land / Unseren gnädigen günstigen Willen / und darbey zuvernehmen;
Demnach die in bekanten Provinzen Franckreichs schon so lange Zeit und so starck grassierte leydige Seuche / durch Gottes sonderbahre Güte / deren Wir das schuldige Danck-Opfer mit Bußwürckendem Herzen darfür abzustatten höchstens verbunden sind ; nach allen versicherten Berichten / nun vast völlig ihre Endschaft erreicht und aufgehöret hat; Wir deßwegen / die / in Unseren die Zeitharo außgefertigten Sanitäts-Mandaten [vgl. die Liste unter Zürcher Pestmandate 1720-1722 unten] diserem höchst-gefährlichen Uebel entgegen gesezte Verordnungen / so vil als der dißmahlige Umstand der Zeit zugeben mag / zu moderieren und zu minderen Uns vorgenohmen / und ist hierauf Unser Befehl / Will und Meynung: [weiter unter I.]»
Art. 1: Keine bewaffneten Patrouillen mehr auf den Strassen
«I. Daß die / Unseren Angehörigen auf der Landschaft / nunmehro beschwehrlich fallende / vor ohngefahr zweyen Jahren angeordnete und damahls höchst-nöthig befundene Patrouillie-Wachten / von nun an und nach Publication dises Unsers Mandats / sollen abgestellt und aufgehebt werden; Jedoch und weilen niemahlen mehrere Sorgfalt und Vorsichtigkeit erforderet wird / als wann man einer erst kürzlich nahe gewesener Gefahr entkommen zuseyn vermeynet / als hat es disere klahre und austruckenliche Meynung / Daß [weiter unter II.]»
Damit wurde Artikel 9 des Mandats vom 9. September 1720 (vgl.
WeiachBlog Nr. 1599), der eine bewaffnete, mobile Regionalpolizei eingeführt hatte, per sofort aufgehoben.
Art. 2: Dorfwachen und Grenzwache müssen weitergeführt werden
«II. In ansehung diser / Unserem Land-Volck abnehmenden Beschwerd / hingegen die Dorf- und Gränz-Wachten / nach Innhalt Unserer vorigen / und sonderheitlich des unterm 21. Wintermonat verwichnen 1721sten Jahrs in Truck publicierten Mandats [vgl. Anmerkung unten] fleissig und mit allem Ernst continuiert / und selbige so wol Nachts als Tags söllen gehalten werden ; Dergestalten / daß deren bestelten / oder dem Umgang nach betreffenden Wächteren Pflicht seyn solle / auf alle ankommende Personen / Wahren und Güter geflissene Aufsicht zutragen / und keine derselben passieren zulassen / sie seyen dann mit ihren Pässen und Sanität-Scheinen versehen / und so etwas Verdächtiges von Wahren ald Personen sich ereignen thäte / solche in Arrest zubehalten / und darvon dem daselbstigen Ober- oder Landvogt ohnverzogenlich Nachricht zuertheilen; Besonderbar und vornehmlich sollen die Wachten an denen Gränz-Ohrten / als gegen Cappel / Wedenschwyl / der Sill und Reuß nach / Herrschaft Gröningen / Eglisau / Stein ; in der Grafschaft Kyburg / zu Rhynau / Feurthalen / Langwisen / Diesenhoffen / etc. disere jetzbedeute Puncten wie auch aller Orthen / auf das genaueste observieren und denenselben / von ihnen / bey Oberkeitlicher schwerer Straff und Ungnad in allweg Statt gethan ; Zu dem Ende / an die Untervögte / Weibel / und andere Vorgesezte / jedes Orths Unser ernstlicher Befehl ist / daß sie die Rund so Tags so Nachts / darum sie dann im überigen Wachtfrey sind / unter sich umgehen lassen und fleissig gewahren sollen / ob hierin Unserer Ordnung nachgekommen werde / da sie dann die Saumseligen gebührend zuleyden erinneret / widrigen Fahls und da von dem eint- ald anderen Klag einkommen solte / sie die Vorgesezte hierum zu unverschohnter Oberkeitlicher Abstraffung gezogen werden; Damit und aber mit mehrerem Nachtruck solches könne geschehen / so sollen [weiter unter III.]»
[Anmerkung: Ein Erlass vom 21. Wintermonat (d.h. November) 1721 ist leider in keiner dem Verfasser dieses Beitrags bekannten Sammlung enthalten. Möglicherweise liegt ein Schreibfehler des Kanzlisten oder ein Versehen des Setzers vor und eigentlich wäre der Erlass vom 21. Weinmonat (d.h. Oktober) 1721 gemeint gewesen, vgl. WeiachBlog Nr. 1761.]
Es sollten also insbesondere die Grenzkontrollen auf den Hauptachsen (in unserer Gegend vornehmlich bei Eglisau) in unverminderter Konsequenz beibehalten werden. Bemerkenswert ist, wie stark schon damals auf Gesundheitszertifikate gesetzt wurde. Ohne eine lückenlose Verfolgung des Reisewegs mittels Bescheinigungen behördlicher Art war Personen- und Warenverkehr weiterhin nicht möglich.
Amtsträger in den Gemeinden mussten zwar persönlich nicht Wache schieben, waren aber unter Strafandrohung verpflichtet, die Wachen im Turnus bei Tag und bei Nacht zu beaufsichtigen und einreissende Disziplinlosigkeit sofort zu unterbinden, Meldung des Fehlbaren an die Obrigkeit inklusive.
Auch wenn Weiach hier nicht explizit genannt ist: Die Grenzlage des Dorfes hat die Dorfwache natürlich (zumindest in der Theorie) stärker gefordert als irgendwo inmitten des Zürcher Herrschaftsgebiets. Denn da gab es ja keine bestelten (d.h. eigens angestellten) Grenzwachen, wie bspw. in Eglisau. Und seit der Aufhebung des Erlufftungshauses war da auch kein Militär samt Mörser mehr zur Bewachung vor Ort.
Wenn also die Neuamtsobervögte ihren Auftrag ernst genommen haben, dann hatte die Weiacher Dorfwache als erste Speerspitze gegen die Grafschaft Baden durchaus ihre Funktion. Dort waren zwar seit dem Zweiten Villmergerkrieg 1712 die Zürcher, Berner und Glarner gemeinsam am Ruder, aber über die Prioritäten des jeweiligen Landvogts konnte man sich dennoch nicht ganz gewiss sein.
Art. 3: Regelmässig organisierte Jagd auf Bettler
«III. Die vormahls angestellte Betel-Jegenen widerum von neuem vorgenohmen / alles und jedes Bettel- und Strolchen-Gesind an jedwederem Orth und Bezirck zusamen getrieben / und von Wachten zu Wachten / bey vermeidung hoher Straff und Ungnad / nicht allein gegen den fehlbahren Wächteren / sonderen den Vorgesezten der Dörfferen selbst / wofehrn sie die fehlbahre Wächter nicht angeben wurden / aussert Unsere Bottmässigkeit / den nächsten und Haubt-Pässen nach hinaus geführt; darmit des folgenden Tags nach Publication dieses Mandats der Anfang gemacht / und ins könftig allwegen zu Anfang jedes Monats mit gleichem Ernst und Eifer darmit fortgefahren werden. [weiter unter Schlussformel]»
Die Regierung erhoffte sich also von regelmässigen, hier monatlich angeordneten Säuberungsaktionen eine Verminderung der Gefahren durch Bettler und Kleinkriminelle. Das Problem dabei ist offensichtlich: wenn man diese Randständigen einfach via Hauptachsen über die Grenze abschob, dann waren die schnell wieder im eigenen Herrschaftsgebiet drin. An einen lückenlosen, undurchdringlichen Schutzwall entlang der Grenzen war ja nicht zu denken. Die Infiltration durch Waldgebiete (wie die über den Sanzenberg und Stadlerberg) war ja keine Hexerei. Und wenn andere, benachbarte Obrigkeiten zu denselben Mitteln griffen, dann schob man sich natürlich gegenseitig die Probleme zu. Symptombekämpfung statt Lösungsansätze.
Bekräftigende Schlussformel
«Und gleichwie durch des Höchsten ohnverdiente Gnad und Güte / bis dahin Unser Land gesunder Zeiten genossen / und von der Plag der Pestilenzialischen Kranckheiten verschonet geblieben; Also leben Wir der zuversichtlichen Hoffnung / es werde gegenwertiges / die fehrnere Wohlfahrt des Vaterlands abzweckendes Mandat / in steiffer Beobachtung gehalten / und selbigem gehorsamlich nachgelebt werden / darzu Wir dann jedermänniglich bestgemeynt vermahnen thun.
Geben den Sechszehenden Wintermonat / von der Heilwerthen Gebuhrt Unsers Erlösers gezehlt / Eintausent / Sibenhundert / Zwanzig und Zwey Jahr. -- Canzley der Stadt Zürich.»
Mit diesem letzten Mandat zur Marsilianischen Pest schliesst WeiachBlog den Artikelzyklus ab. Besonderer Dank geht an Herrn Chr. Sieber, Staatsarchiv des Kantons Zürich, für die 2020 digitalisierten Einzelblattdrucke aus der Zürcher Mandatssammlung.
Quelle
- Mandat der Stadt Zürich betreffend Anpassung der Massnahmen anlässlich des Rückgangs der Pest aus Marseille, 16. November 1722. Signatur: StAZH III AAb 1.9, Nr. 14
Zürcher Pestmandate 1720-1722
- COVID-19 und Marsilianische Pest. Ein kleiner Rechtsvergleich. WeiachBlog Nr. 1510 v. 18. Mai 2020.
- Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720. WeiachBlog Nr. 1599 v. 9. Oktober 2020.
- Vor 300 Jahren: Zürich sperrt Handels- und Reiseverkehr mit Genf. WeiachBlog Nr. 1606 v. 31. Oktober 2020.
- Grenzkontrollen und sanitätspolizeiliche Massnahmen. WeiachBlog Nr. 1761 v. 26. Oktober 2021.
- Zürcher Regierung verbietet Besuch des Zurzacher Pfingstmarkts. WeiachBlog Nr. 1830 v. 5. Juni 2022.
Mandate Dritter (in Zürcher Archiven)- Eindringlinge werden «so gleich auf der Stelle tod geschossen». WeiachBlog Nr. 1652 v. 14. Mai 2021.
- Den Handel dank Gesundheitszertifikaten wiederbelebt. WeiachBlog Nr. 1860 v. 18. September 2022.
Grundlagen zum Thema Marsilianische Pest- Ruesch, H.: Das «Erlufftungshaus» in Weiach (1720/21). Eine Studie zur Geschichte der obrigkeitlichen Pestprophylaxe im alten Zürich. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1980. Zürich 1979 – S. 123-136. URL: http://doi.org/10.5169/seals-985375
- Mit Mörsern gegen die Pest. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 1). Weiacher Geschichte(n) 9. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, August 2000 – S. 9.
- Europäisches Handelshemmnis und lokale Einnahmequelle. Das «Erlufftungshaus» von 1720/21 (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) 10. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, September 2000 – S. 13-14.
- Die Pest aus Marseille. WeiachBlog Nr. 359 v. 14. Januar 2007.
- Die Weiacher Quarantäne-Baracke von 1720/21. WeiachBlog Nr. 1618 v. 15. Januar 2021.
- Ärger über absonderliche Quarantänevorschriften. WeiachBlog Nr. 1660 v. 28. Mai 2021.
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