Montag, 28. November 2022

Die Trottenvielfalt im 19. Jahrhundert

«Zu Urgrossvaters Zeiten existierten in Weiach zwei Baumtrotten. Die eine war in der Kelle, an deren Platz heute eine besser eingerichtete Trotte steht. Die andere stand im Oberdorf & ist ebenfalls besser eingerichtet worden.»  -- Ruth Schulthess-Bersinger (1926-2013)

In den letzten 50 Jahren wurde in ortsgeschichtlichen Publikationen der Eindruck erweckt, es habe in Weiach nur zwei Trotten gegeben, eine an der Trottenstrasse (ehemals untere Rebstrasse; Namenspatronin dieser Strasse), die andere in der Chälen. So hat es auch Walter Zollinger (Lehrer in Weiach von 1919 bis 1962) in sein 1972 erschienenes blaues Büchlein geschrieben (vgl. S. 58-59). Und so hat es der WeiachBlog-Autor in den letzten rund 20 Jahren übernommen. Zollinger und – wie eingangs zitiert – Schulthess-Bersinger waren schliesslich Zeitzeugen, bzw. mit denselben direkt verwandt. Nur: dieser Eindruck täuscht gewaltig.

Grosse Mengen in kurzer Zeit zu verarbeiten

Warum an dieser Zweizahl etwas nicht stimmen kann, wird eigentlich nur schon klar, wenn man sich vor Augen führt, dass es auf dem Gemeindegebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tausende von Obstbäumen und über 20 Hektaren an Rebbergen gab (vgl. WeiachBlog Nr. 1865 für die Obstbäume sowie die Topographische Karton des Kantons Zürich (sog. Wildkarte) und der Topographische Atlas der Schweiz für die Rebberge). Die Wildkarte zeigt den Stand in der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre, die Siegfriedkarte denjenigen der späten 1860er:

Dass zwei Trotten nie und nimmer ausreichen konnten, wird erst recht offensichtlich, wenn man sich dazu noch überlegt, wie die riesigen Mengen an Obst und Trauben innert nützlicher Frist verarbeitet werden sollten, gerade unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts, als es weder Kühllager noch Transportmöglichkeiten (wie die Eisenbahn) und man daher längst nicht den gesamten Ertrag an gewerbliche und industrielle Verarbeiter weit ausserhalb des Gemeindegebiets liefern konnte.

Aufzeichnungen der Gebäudeversicherung bringen Licht ins Dunkel

Wie die laufenden Auswertungen der Lagerbücher der kantonalen Gebäudeversicherung zeigen, konnte man in Weiach in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur zwei, sondern mindestens sechs Trottwerke finden (und das waren auch nur die versicherten unter ihnen, d.h. grössere, fix installierte Anlagen, teilweise in einem eigens dafür vorgesehenen Gebäude). 

Geordnet nach dem Nummerierungssystem 1809 sind dies (Originalwortlaut in kursiver Schrift):

  • N° 1b; Oberdorf
    doppelte Scheune, Stall & Trotte. Letztere war 1834 zu 200 Gulden versichert. Später wurden Wohnräume eingebaut und dafür das Trottwerk 1879 abgetragen. Am 27. Januar 1884 ist das Gebäude abgebrannt. Diese Trotte stand direkt neben der Mühle im Oberdorf, mutmasslich im heutigen Garten gegen das Haus Müliweg 4 (erstellt 1922; Wohnhaus von Walter Zollinger).
  • N° 1e; Leewingert
    Trottgebäude und Trottwerk.
    Heutiges Gebäude: Trottenstrasse 7. Diese Trotte gehörte ursprünglich ebenfalls zum Eigentum der Müller- und Untervogts-Dynastie Bersinger, wie man an der Nummer ablesen kann.
  • N° 36; Bey der Linden
    Diese Anlage bestand (wenn unscharfe Negativfoto ab Mikrofilm StAZH RR I 575.1 nicht täuscht) schon ab 1812. Im Jahre 1831 wurde der Vermerk «Die Trotte f. 200 inbegriffen» eingetragen. 1842 bis 1876 wird im Lagerbuch 1 Trottwerk genannt (PGA Weiach IV.B.06.01), danach fehlen einschlägige Einträge. Erst 1952 ist im Lagerbuch wieder von einer «Weinpresse» die Rede (Lagerbuch 1895-1954; PGA Weiach IV.B.06.02). Heutiges Gebäude: Oberdorfstrasse 7, bis 1830 Gasthof zum Sternen; sog. Alter Sternen, seit über 200 Jahren im Eigentum von Angehörigen der Familie Schenkel, die sich u.a. als Wirte und Tierärzte betätigt haben.
  • N° 68d; Unten in Kellen
    Trotthaus,Trotthausstüblianbau, Trottwerk (Einträge ab 1853); zwischen 1866 und 1871 geschlissen. Diese Trotte gehörte zwischen 1834 und 1863 den Gebrüdern Rudolf & Hans Heinrich Meyerhofer. Wo genau sie gestanden hat, ist noch ungeklärt. Aufgrund der Nummerierung ist zur Zeit der Einführung der Nummern (1809 oder früher) vom selben Eigentümer auszugehen. Eine räumliche Nähe zu N° 68a&c (heute Chälenstrasse 6) und N° 68b (heute Riemlistrasse 3) ist nicht zwingend anzunehmen (vgl. die Trotte Leewingert, die 150 m Luftlinie vom Hauptgebäude der Mühle entfernt ist).
  • N° 78c; An der Tobiasgass
    Trotthaus mit Trottstübli, Trotthausanbau, Trottwerk (Eintrag von 1853). Diese Trotte gehörte damals Jakob Meier, Küfer und dürfte, nach der Nummer zu schliessen, in der Chälen gestanden haben. Das Gebäude wurde 1858 «gänzlich geschlissen». Da dieses Gebäude das einzige in den Lagerbüchern ist, das diese Ortsbezeichnung trägt und der Autor auch sonst bisher an keiner andern Stelle darauf gestossen ist, kann sich die Tobiasgass auch im Büel oder Oberdorf befunden haben, wenn man die Gepflogenheit, Nummern mit Indizes den Eigentumsverhältnissen entsprechend zu vergeben, in Betracht zieht.
  • N° 87c; Hafnergass
    Trotthaus, Trottwerk, Holzhaus & Schweinställe (Eintrag von 1852). Dieses Gebäude gehörte 1834 «Jac. Baumgartner Gdamm»  (Gemeindeammann war damals die Bezeichnung für den Gemeindepräsidenten), also einem Mitglied der dörflichen Oberschicht. 1852 werden als neue Eigentümer genannt: «Heinrich & Ulrich Baumgartner, Zunftgerichtspräsidenten Söhne», 1858 nur noch Ulrich, der den Namenszusatz «alt Präsidentens» erhielt. Als Hafnergass wurde damals der unterste Teil der heutigen Stockistrasse bezeichnet, ca. bis auf die Höhe, wo die Zelglistrasse abzweigt. Im Lagerbuch 1895-1954 wird das Gebäude unter der Ortsbezeichnung Kellen geführt und mit «Trotthaus u. Speicher, Weinpresse» beschrieben.
    Dieses Gebäude ist am 7. Januar 1929 abgebrannt, zusammen mit den Gebäuden 87b und 87d. Wo genau sein Standort war und wo danach die von Ruth Schulthess-Bersinger 1941 beschriebene bessere Trotte gestanden haben soll, ist ungeklärt. Mutmasslich in der Liegenschaft N° 87a, heute Stockistrasse 4. Dieses Gebäude kam beim Brand 1929 laut Eintrag im Lagerbuch mit einem kleinen Schaden von 80 Franken davon, was für eine unmittelbare Nachbarschaft spricht.

Quellen

  • Lagerbuch Weiach der Gebäudeversicherungsanstalt des Kantons Zürich, 1812-1895. -- Staatsarchiv des Kantons Zürich. Signatur: StAZH RR I 575.1.
  • Brandassekuranzlagerbuch der politischen Gemeinde Weiach, 1834-1894. -- Archiv Pol. Gde. Weiach, Signatur PGA Weiach IV.B.06.01.
  • Lagerbuch 1895-1954 (auf der Umschlagvignette: Gebäudeschätzungsprotokoll 1895- sowie Bd. II) -- Archiv Pol. Gde. Weiach, Signatur PGA Weiach IV.B.06.02.
  • Zitat von R. Schulthess-Bersinger, vgl.: Brandenberger, U.: «Die Trotte im Oberdorf war unser Eigentum». Ein Vortrag von Ruth Bersinger an der Bezirksschule, November 1941 (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) 89. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2007 – S. 9-12. Hier: Gesamtausgabe S. 329.

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