Das Jahr 1816 war das «Jahr ohne Sommer». Es war kalt, es regnete häufig und es ist kein Wunder, dass die wohlhabendere Gesellschaft es vorzog, im Haus zu bleiben und sich am Feuer mit Literatur zu beschäftigen. So entstand in der Villa von Lord Byron am Genfersee die Erzählung «
Frankenstein» aus der Feder von Mary Shelley.
Für die unteren Schichten war dieser Sommer viel schwerer zu ertragen. Er stand am Beginn von Hunger und Elend. Der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien hatte so viel Asche in die Stratosphäre eingebracht, dass (zu) wenig Sonnenlicht auf die Erde fiel. So konnte kaum etwas vernünftig wachsen und sozusagen keine Ernte wollte gelingen. Einige Monate später folgte die grosse «Theuerung des Jahres 1817» (vgl. auch Weiach – Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes, 4. Auflage - S. 36-37).
Suche nach Eltern erfolglos
Heute vor 200 Jahren wurden die Weyacher mit einer der Folgen dieses katastrophalen Sommers konfrontiert. Die Dorfwache fand nämlich an der Hauptstrasse Richtung Kaiserstuhl im Gebiet Bedmen ein ausgesetztes, ca. 2 Monate altes Mädchen. Dies geht aus dem Protokoll des Kleinen Rates vom 21. Dezember 1816 hervor.
Man stelle sich vor: der Regierungsrat des Kantons Zürich beschäftigt sich mit einem KESB-Fall. Dass er auf der Traktandenliste der Regierung landete hatte vor allem mit der nicht gerade rosigen Finanzlage der Gemeinde Weyach zu tun, die natürlich hoffte, mit den zu erwartenden hohen Kosten nicht allein gelassen zu werden.
Das Protokoll gibt den Sachverhalt unter dem Titel «
Aussetzung eines Kindes in der Gemeinde Weyach» umfassend wieder:
«
Das L. Oberamt Regensperg berichtet sub dato 18ten hujus [d.h. Dezember]
an den Kleinen Rath: Es habe der Nachtwächter in Weyach den 20sten Novembris, Abends um 9. Uhr, bey einem der äußersten Häuser an der Landstraße auf Kaiserstuhl, ein lebendes Kind weiblichen Geschlechts, sechs bis 10. Wochen alt, in einem Korbe auf einem Kißen, und mit schlechten Lappen bedeckt, gefunden. Darauf habe der Gemeindammann des Ortes sogleich die angemeßenen Nachsuchungen gemacht, allein diese, so wie die von dem Oberamte ohne Verzug, und endlich von der hierüber berichteten L. Kantons-Polizey-Commißion selbst veranstalteten sorgfältigen Nachforschungen, seyen bisher ohne Erfolg geblieben, und daher sehe sich das Oberamt im Falle, hievon die Hohe Regierung in Kenntniß zu setzen, und Hochdieselbe um eine angemeßene Verfügung für Bestimmung eines Status und des künftigen Unterhaltes dieses Kindes zu ersuchen; wobey zugleich die eigene Noth und vielen Armen-Unterstützungen, mit welchen die Gemeinde Weyach zu kämpfen habe, zu schonender Berücksichtigung empfohlen werde.»
Was, wenn sich solche Fälle häufen?
«
Nach Anhörung dieses Berichtes haben UHHerren und Obern erkennt, davon dem L. Obergerichte Kenntniß zu geben, und dieses Tribunal als die competente Behörde einzuladen, daß es das Angemeßene über die Aussetzung und den Status dieses Kindes aussprechen und wieder einberichten möchte. Diese Verfügung wird dem Oberamte Regensperg mitgetheilt.»
Der Regierungsrat schaltete also umgehend das Löbliche Obergericht ein, um die Frage zu klären, wie mit einem ausgesetzten Säugling zu verfahren sei. Eine Staatsaffäre. «UHHerren», abgekürzt für «Unsere Hohen Herren», hatten den schlechten Sommer natürlich noch genau vor Augen und befürchteten wohl, dass solche Fälle sich häufen könnten.
Hohe Fahndungsprämie
Das Obergericht entschied postwendend - schon nach einer Woche (!), sodass der Regierungsrat bereits an Silvester 1816 den Fall wieder traktandiert hatte:
«
Es berichtet die Behörde des Lobl. Obergerichts mit Zuschrift d. d. 28sten hujus an den Kleinen Rath, sie habe in Bezug auf das am 20sten passati [des vergangenen Monats; also November]
zu Weyach gefundene Kind, nachfolgendes ausgesprochen:
1.) Solle durch die öffentlichen Blätter eine Belohnung von 160. Frk[en]. auf Entdeckung des Aussetzers geboten werden.
2.) Seye das Kind von dem Pfarramte Weyach in die h. Taufe aufzunehmen, und in dortiges Taufbuch einzutragen; und:
3.) Solle bis zu verhoffentlicher Entdeckung der Eltern, dieses Findelkind von der Gemeinde Weyach verpflegt werden, dieselbe aber dießfalls der wohlverordneten Allmosenpflege zu einem Beytrage empfohlen seyn.
Diese gerichtliche Verfügung ist dem Protocoll einzuverleiben, dem Obergerichte zu bescheinen, und der L. Allmosenpflege, so wie dem Oberamte Regensperg durch Protocolls-Extracte mitzutheilen.»
Die Gemeindeväter von Weyach dürften nach dieser Mitteilung etwas ruhiger geschlafen haben. Das Obergericht hatte ja einen Beitrag aus dem Sozialhilfe-Fonds des Kantons in Aussicht gestellt.
Bemerkenswert ist die hohe Belohnung, die auf die Aufklärung des Falles ausgesetzt wurde: 160 Franken von 1816 entsprechen nach der Plattform Swistoval.ch im Jahre 2009 gerechnet nach Konsumentenpreisindex (KPI): 1'749 CHF bzw. nach dem Historischen Lohnindex (HLI) sogar 18'701 CHF.
Zu schlechter Gesundheitszustand
Wenn - wie anzunehmen ist - die Mutter des Findelkindes eine durchziehende Landstreicherin war, dann hatte diese wohl selber kaum genug zum Überleben. Das Mädchen hatte einen denkbar schlechten Start ins Leben. Lange dauerte dieses nicht. Denn schon am 16. Januar 1817 wurde es schon wieder zum regierungsrätlichen Traktandum:
«
Das L. Oberamt Regensperg berichtet sub dato 13ten hujus an die hohe Regierung, daß das am 20sten November a. p. zu Weyach ausgesetzt gefundene Kind, über deßen Versorgung das L. Obergericht sub dato 28sten December richterlich verfügt, nach mehrtägiger Krankheit, am 11ten hujus verstorben seye.
Von dieser Anzeige wird der L. Kantons-Polizey-Commißion, mit Rücksicht auf die in Bezug auf diesen Gegenstand erhaltenen, nunmehr zum Theil keine weitere Execution bedürfenden Aufträge, Kenntniß gegeben, und dem L. Obergerichte (lt. Mißiven) Mittheilung gemacht.»
Das Obergericht verdankte die Mitteilung umgehend, was am 23. Januar zu einem letzten regierungsrätlichen Protokolleintrag in dieser Angelegenheit führte:
«
Ein Schreiben d. d. 21sten hujus, mit welchem das L. Obergericht dem Kleinen Rathe die Anzeige von dem erfolgten Tode des unlängst in Weyach ausgesetzt gefundenen Kindes verdankt, wird verlesen, und als keiner weitern Verfügung bedürfend ad acta gelegt.»
Gibt es weitere Unterlagen zu diesem Fall?
Die vom Obergericht erteilten Aufträge hatten sich mit dem Tod des Mädchens bis auf die Ausschreibung einer Belohnung von 160 Franken erledigt. Dieser Auftrag 1 zur Publikation in den «öffentlichen Blättern» scheint aber nicht mehr umgesetzt worden zu sein. Zumindest erhält man im online zugänglichen Archiv der NZZ mit dem Suchbegriff «Weyach» für die Jahre 1816-1818 keinen Treffer.
Ob der Weiacher Pfarrer Johann Heinrich Burkhard seinen Auftrag, das Kind zu taufen und ins Taufbuch einzutragen, ausgeführt hat, kann allenfalls eine Durchsicht des Kirchgemeindearchivs oder Pfarrarchivs ergeben. Und möglicherweise sind im Archiv der Politischen Gemeinde noch Armengut-Akten oder Gemeinderatsprotokolle von 1816/17 zu diesem Fall erhalten geblieben.
Bezüglich der beim Staatsarchiv des Kantons Zürich stehenden Bände ist leider festzustellen, dass für die fraglichen Jahre kein Taufbuch vorhanden ist. Wohl aber ein Totenregister: StAZH E III 136.3 müsste einen Eintrag zum 11. Januar 1817 enthalten. Es wäre schön, noch zu erfahren, ob man dem Findelkind wenigstens einen Namen gegeben hat.
Quellen
[Veröffentlicht am 31. Dezember 2017 um 22:45 MEZ]