Mit dem Übersichts-Beitrag
WeiachBlog Nr. 2132 ist eine Serie über die Geschichte der im Zürcher Unterland erscheinenden Presseerzeugnisse (sog. Abonnements-Zeitungen) lanciert worden. Heute folgt nun der erste der angekündigten Artikel über die einzelnen Zeitungen. Er ist dem ältesten und zugleich einzigen bis heute bestehenden Printprodukt gewidmet, das um den kommenden Jahreswechsel seinen 175. Geburtstag feiern kann.
In seiner Festschrift über die Geschichte der zürcherischen Presse hat Rudolf Vögeli die Anfänge der im Zürcher Unterland gedruckten Medien wie folgt beschrieben (Link von WeiachBlog eingefügt):
«Die Bezirke Bülach und Regensberg hatten bis zum Jahre 1850 keine heimische Zeitung. Diesem Mangel half die „Bülach-Regensberger Wochenzeitung“, nachmals „Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung“, ab. Deren Gründer, Drucker und Verleger war F. Lohbauer in Bülach. Bis zu den Jahren der demokratischen Bewegung beschränkte sich das Blatt auf Nachrichtenübermittlung und Aufnahme von amtlichen und privaten Anzeigen; immerhin brachte es seinen regelmässigen Leitartikel über kommunale und Bezirksangelegenheiten, über Fragen des Schul- und Armenwesens und selbstverständlich über die schwebenden Eisenbahnprojekte. Auch die ausländischen Vorgänge fanden zeitweise eine gute Zusammenfassung und Wiedergabe. Im allgemeinen bestrebte sich die Redaktion, den Inhalt der Textseiten dem vorzüglich bäuerlichen Leserkreis anzupassen. Politisch bekannte sie sich zunächst noch zur liberalen Partei, bis mit dem Eintritte F. Scheuchzers eine vollständige Umwandlung vor sich ging, welche die „Wochenzeitung“ zu einem der bedeutendsten demokratischen Landblätter gestaltete.» (Vögeli 1925, S. 148)
Gründungsjahre unter Lohbauer
Am 21. Dezember 1849, so kann man es der Bibliographie der Schweizer Presse von Fritz Blaser entnehmen, begann die Geschichte der Unterländer Presseerzeugnisse. An diesem Tag wurde nämlich die Probenummer für das ab dem Jahreswechsel 1850 erscheinende «Wochenblatt für die Bezirke Bülach und Regensberg» publiziert. So hiess die Zeitung dann auch in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens. Kurz vor dem Jahreswechsel 1854/55 wechselte der Titel auf «Bülach-Regensberger Wochen-Zeitung».
Der Gründer Felix Lohbauer liess bis und mit 9. Februar 1850 bei J. J. Ulrich in Zürich drucken und übernahm diese Arbeit dann selber. Mitte Februar 1850 ging also die erste im Unterland gedruckte Zeitung an die Abonnenten. In diesen Jahren war das Blatt noch liberal-radikal (heute würde man sagen: freisinnig) gepolt, ähnlich wie die Zürcher Regierung seit 1831 (lediglich unterbrochen durch ein sechs Jahre dauerndes konservatives Intermezzo nach dem Züriputsch 1839).
Friedrich Scheuchzer übernimmt und krempelt das Blatt um
Am Übergang zu den 1860er-Jahren begann sich das aber zu ändern, wie Vögeli andeutet. Dr. med.
Friedrich Scheuchzer (1828-1895), ein Cousin Gottfried Kellers, Absolvent der Bezirksschule Kaiserstuhl, wurde 1859 Redaktor der Wochen-Zeitung. Ab 1. Oktober 1861 gehörte ihm die Wochen-Zeitung auch.
Lithografie von Friedrich Hasler für die Gallerie berühmter Schweizer der Neuzeit, 1863-1871 erschienen bei Orell Füssli in Zürich (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Dr. Scheuchzer, der in Bülach auch als Arzt praktizierte, war einer der wichtigsten Exponenten des linken Flügels der Demokratischen Bewegung. Diese wurde «
überwiegend vom ländlichen und kleinstädtischen Bürgertum getragen. Sie waren Handwerker, kleine Industrielle, Bauern, aber auch Arbeiter. Ihre programmatischen und organisatorischen Führer stammten aus der ländlichen Intelligenz (Lehrer, Pfarrer, Redaktoren, Beamte, Ärzte, Juristen, Fabrikanten), die ihre Ideen in der eigenen, auch in der Landschaft verbreiteten Presse (Winterthurer Landboten, Bülacher Volksfreund) propagierte. Die Kontrolle des Staatswesens lag bei dem im Freisinn repräsentierten, etablierten Bürgertum. Die Demokratische Bewegung wollte das von diesem vertretene Repräsentativsystem durch direktdemokratische und staatsinterventionistische Einrichtungen ersetzen.» (Quelle: Wikipedia-Artikel
Demokratische Bewegung (Schweiz))
Weltanschauung der «Wochen-Zeitung» führt zu Gründung des «Volksfreunds»
Diese Charakterisierung zeigt deutlich den heftigen Gegensatz zwischen den Gouvernementalen, die nach dem System Escher funktionierten (gemeint ist der Eisenbahnkönig und Credit Suisse-Gründer
Alfred Escher) und ihren vor allem von ihrer Hochburg Winterthur aus operierenden Gegenspielern, den Demokraten. Wie hemdsärmlig es dabei zugehen konnte, zeigt
Weiacher Geschichte(n) Nr. 55. Dieser Artikel beschreibt den Wahlkampf 1866, im Verlaufe dessen der Statthalter auf Schloss Regensberg, Ryffel, und der Weiacher Gemeinderatsschreiber (und Mitglied des Gemeinderats) Grießer aneinandergerieten und sich dann eine öffentliche Schlammschlacht lieferten.
Das Jahr 1866 sah übrigens als direkte Folge auch die Gründung des Bülacher Volksfreunds als Gegengewicht zu der von Friedrich Scheuchzer dominierten Wochen-Zeitung. Insofern dürfte der Wikipedia-Autor, der den Volksfreund als demokratisches Blatt bezeichnet (s. Zitat oben) ziemlich falsch liegen. Denn gleich in der ersten Nummer des Volksfreunds (ab 1957: Neues Bülacher Tagblatt) zog der Statthalter mit einer scharfen Replik gegen Vorwürfe in der Wochen-Zeitung zu Felde. Worauf dann ein publizistisches Konterbatterie-Gefecht folgte. Um zu verstehen, wer wem was um die Ohren gehauen hat, muss(te) man schon beide Zeitungen lesen.
Demokratischer Sieg erzwingt Namenswechsel
Die Niederlage der freisinnigen Gouvernmentalen bei den Wahlen 1866 und die neue Verfassung von 1869, die ohne den massiven Druck der Demokratischen Bewegung kaum zustandegekommen wäre, führten 1871 letztlich auch zur Verlegung des Sitzes der Bezirksbehörden von Regensberg hinab ins Tal nach Dielsdorf. Damit ging die Namensänderung des Bezirks einher.
Diesen Umwälzungen Rechnung tragend, mussten dann auch die beiden den Namen Regensberg im Titel führenden Unterländer Zeitungen sich umbenennen: so trat das Blatt ab dem 8. Mai 1872 unter der Bezeichnung Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung auf.
Fritz Blaser liegt also in seiner Bibliographie nicht ganz richtig, wenn er in seinen tabellarischen Einträgen einen Wechsel zu einer Nachfolgenden Zeitung suggeriert. Neu mag allenfalls der Untertitel «Demokratisches Volksblatt» gewesen sein, mit dem Friedrich Scheuchzer seine Ausrichtung unmissverständlich klarstellte.
Dabei handelte es sich lediglich um zwei verschiedene Ausprägungen bürgerlicher Vorstellungswelten. Eine sozialistische Zeitung hätte jedenfalls im traditionell konservativen Unterland nicht wirklich Fuss fassen können.
Scheuchzer-Dynastie in Verantwortung bis 1955
Seit 1868 erschien das (laut Blasers Bibliographie) «demokratisch-bürgerlich-bäuerlich» ausgerichtete Blatt wöchentlich 2x, später 3x. Dazu kam eine Sonntagsbeilage. Die Konstante dahinter waren die Scheuchzers. Nach dem Tode Friedrich Scheuchzers übernahm Severin Scheuchzer (1895-1918) als Verleger, gefolgt von S. Scheuchzers Erben (1919-1927) und G. Steinemann-Scheuchzer (1927-1955).
Als Chefredaktoren waren in dieser Phase tätig (Eintrittsjahr in Klammern): Dr. Friedrich Scheuchzer (1859), Fritz Bopp (1889), Alfred Illi (1928), Dr. Ernst Geyer (1936), Dr. Gottfried Kummer (1939), Walter Blickensdorfer (1943) und Fred Heyn (1945).
Ära eines streitbaren Bauernführers
Der neben Friedrich Scheuchzer politisch wirkmächtigste unter diesen Herren dürfte wohl
Fritz Bopp (1863-1935) gewesen sein. Der Sohn eines Kleinbauern und Viehhändlers aus Dielsdorf war nicht nur als Landwirt tätig, sondern auch Notariatsgehilfe. Von 1912-1928 war Bopp Bezirksrichter. Als Politiker sass er von 1896 bis 1918 im Kantonsrat, 1915 bis 1928 im Nationalrat.
Markus Bürgi charakterisiert sein Wirken im Historischen Lexikon wie folgt (Links durch WeiachBlog gesetzt): «
B. war einer der ersten Bauernführer des Kantons, der die wirtschaftlich bedrohte Bauernschaft zu stärken suchte und ihre unabhängige polit. Organisation anstrebte. Dabei vertrat er zunehmend eine Abwehrideologie mit autoritären und antimodernist. Zügen, warnte vor geistiger Überfremdung und Vermassung und stellte gegen diese Bedrohung einen gesunden und starken Bauernstand. Zur Stärkung des bäuerl.-ländl. Einflusses setzte sich B. für den Proporz ein und war Mitinitiant der Fonjallaz-Initiative. Er bekämpfte staatssozialist. Tendenzen, war ein entschiedener Gegner des Landesstreiks, vertrat eine rigorose Sparpolitik und lehnte das Frauenstimmrecht sowie den Völkerbund ab. Sein schwieriger Charakter verhinderte einen grösseren persönl. Einfluss. In seiner von der Kritik beachteten Lyrik feierte B. traditionelle Werte und Tugenden wie Heimat, Natur, Bauernstand und Bauernarbeit.»
Arthur Fonjallaz hatte starke Verbindungen zu faschistischen Organisationen und verlangte mit seiner Initiative das Verbot der Freimaurer (1937 an der Urne verworfen). Anklänge der oben erläuterten Ausrichtung finden sich damit natürlich in mehr oder weniger grossem Ausmass auch in den Spalten der Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung wieder.
Die Fusion 1949. Antwort auf den «Zürichbieter»
Bereits in der Amtszeit Bopps als Chefredaktor wurde der 1859 gegründete Lägern-Bote zum Kopfblatt der Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung.
Als die Familie Akeret 1948 mit dem Zürichbieter ein Fusionsprodukt aus gleich mehreren Zeitungen lancierte, da fühlte sich BDW-Verleger Steinemann-Scheuchzer offensichtlich herausgefordert. Die Antwort war der «Zürcher Unterländer», der im Untertitel auch seine Herkunft und Ausrichtung bekanntgab: «Vereinigte Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung und Lägern-Bote. Demokratisches Volksblatt».
Lange konnte Steinemann sein neu lanciertes Printprodukt jedoch nicht mehr halten. Nur etwa mehr als sechs Jahre später, am 1. Juli 1955, ging der «Zürcher Unterländer» an die Familie Akeret («H. Akerets Erben»), wurde aber weiterhin in Bülach herausgegeben. Damit blieben im Unterland nur noch zwei Zeitungsverleger übrig. Der andere war die Familie Graf, welche den freisinnigen Bülach-Dielsdorfer Volksfreund herausgab (1957 in «Neues Bülacher Tagblatt» umbenannt).
Wachse oder Weiche!
Wie sich die Zeitung in der folgenden Hochkonjunktur schlug und bis in die heutige Zeit retten konnte, das beschreibt Adrian Scherrer im Historischen Lexikon der Schweiz. Der
Zürcher Unterländer wird charakterisiert als «
Tageszeitung im Kanton Zürich, die 1949 aus der 1850 gegründeten und vom Bauernpolitiker Fritz Bopp geprägten "Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung" und dem "Lägern-Bote" hervorging. Der bäuerlich-demokratische unabhängige "Zürcher Unterländer" erschien bis 1960 dreimal pro Woche in Bülach. 1955 übernahm die Akeret AG in Bassersdorf, die auch das freisinnige Konkurrenzblatt "Zürichbieter" verlegte, den Zürcher Unterländer und baute ihn zur Tageszeitung aus. Unter Chefredaktor Erhard Szabel (1963-1989) arbeiteten beide Titel eng zusammen, bis sie 1989 nach dem Verkauf der Akeret AG an die Annoncenfirma Ofa fusionierten. Als parteiunabhängige Forumszeitung erreichte der Zürcher Unterländer darauf eine führende Stellung in den Bezirken Bülach und Dielsdorf. 2006 wurde das "Neue Bülacher Tagblatt" als Kopfblatt integriert. 2010 erwarb die Tamedia AG den Zürcher Unterländer, die ihn per 2011 in den Verbund der Zürcher Regionalzeitungen eingliederte.» (
HLS-Artikel Zürcher Unterländer, Stand 24. Februar 2014)
Scherrer nennt drei Jahre als Eckdaten, die diese Entwicklung in Richtung einer führenden Stellung belegen sollen. Wir reichern sie hier noch mit den Bevölkerungszahlen der beiden Bezirke (Dielsdorf und Bülach) sowie der Marktdurchdringung in Prozent der Einwohnerzahl an:
- 1966: 104921 Einwohner, Auflage: 4206, entspr. 4.0 Prozent
- 1998: 169858 Einwohner, Auflage: 18657, entspr. 11.0 Prozent (Realwachstum Faktor 2.8!)
- 2012: 218225 Einwohner, Auflage: 19878, entspr. 9.1 Prozent (Einbusse 17% seit 1998)
Man sieht hier deutlich, wie (neben dem Internet) auch das Auftauchen der Tamedia-Gruppe im Unterland den hiesigen Zeitungen zu schaffen gemacht hat.
Der Konzentrationsprozess, der im Unterland 1903 mit der Zusammenarbeit der Zeitungen «Der Wehntaler» und «Die Glatt» begonnen hatte, ist damit nach etwas mehr als einem Jahrhundert zu einem zumindest regionalen Abschluss gekommen.
Quellen und Literatur
- Vögeli, R.: Aus der Geschichte der zürcherischen Presse. Separatabdruck aus: „Das Buch der Schweiz. Zeitungsverleger“. Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum des Schweiz. Zeitungsverlegervereins. Luzern 1925. [StAZH Bf 510; Separatdruck: StAZH Dd 1511]
- Blaser, F.: Bibliographie der Schweizer Presse, Bd. 1, Basel 1956; Bd. 2, Basel 1958.
Brandenberger, U.: «Saufgelage!» – Statthalter verklagt Gemeinderatsschreiber. Öffentliche Schlammschlacht anlässlich der Wahlen 1866.
Weiacher Geschichte(n) Nr. 55. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach (MGW), Juni 2004.
Brandenberger, U.: Komplizierte Zeitungsnamen-Geschichte.
WeiachBlog Nr. 443, 1. Mai 2007.
- Brandenberger, U.: Synchronopse der abonnierten Zeitungen des Zürcher Unterlands. WeiachBlog Nr. 2132, 14. Juli 2024.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen