Donnerstag, 28. November 2019

Zersiedelung – garantierter Seelenverlust inklusive

«Die Wohnungen werden grösser, dafür schrumpfen die Grünflächen rundherum». Mit diesem Lead machte der Tages-Anzeiger anfangs November eine «Stadtgeschichte» ihres Autors Gimes auf. Der hat zwar ursprünglich ungarische Wurzeln. Der Titel «Das Grün meiner Kindheit verschwindet»
zeigt aber, dass er in der Stadt bzw. Agglomeration Zürich aufwuchs, die sich in den letzten Jahrzehnten unaufhaltsam ins Umland ausgedehnt hat.
Die Agglomerationsgürtel des immer fetter werdenden städtischen Molochs sind in diesen Jahrzehnten seit dem 2. Weltkrieg mittlerweile auch in Weiach und Kaiserstuhl angekommen. Beide gehören gemäss Bundesamt für Statistik zum sechsten Gürtel.

Das Heimatgefühl geht zum Teufel

Was sich in Weiach mit der Gründung der Weiacher Kies AG durch den Haniel-Konzern aus Duisburg ankündigte und zuerst nur in Form einiger Einfamilienhäuschen im alten Dorfperimeter und seiner unmittelbaren Umgebung manifestierte, ist mit der Erschliessung des nördlich der Chälen gelegenen Riemlihanges unter Wingert (Weinbergstrasse und Neurebenstrasse), vor allem aber mit dem Ausbau der drei Rebbewirtschaftungsstrassen (namentlich der Trottenstrasse und der Leestrasse) zu einer unübersehbaren, massiven Veränderung des Dorfbildes geworden. 

Wo früher die Durstlöscher der bäuerlichen Bevölkerung wuchsen, da wuchert die EFH-Einfalt in der Vielfalt von bauherrspezifischen Wünschen. Bereits Mitte der 70er-Jahre platzierte Mehrfamilienhäuser im Bruchli (zuerst nur zwei) hatten eine signifikante Steigerung des Verkehrs auf der Chälenstrasse zur Folge. Heutzutage kann man den Sommerabend-Zeitvertreib der damaligen Jugend - das Fussballspielen auf der Strasse - glatt vergessen. Denn jetzt hat sich die Dichte an Blöcken von der Chälenstrasse 23 an vervielfacht. Und der Verkehr erst recht.

Die Alteingesessenen dieses Dorfteils haben daran zu nagen, wie sich beispielweise an diesem Tweet zeigt: 

Von der Heimatliebe ist hier ohnehin nicht mehr viel übrig...
Das hier ist keine Heimat mehr, schon lange nicht mehr.
Leider.  — (((דבורה))) (@MetalMaidenBo) 28. Juli 2018

Wie weiland in der Sage von der Teufelsbrücke die Urner einen Geissbock über die Brücke gejagt haben, so haben sich auch viele landbesitzenden Weiacher seit den 60ern dem faustischen Pakt verschrieben, der Finanzeinkünfte um den Preis des Verlustes alten Kulturlandes und Dorflebens ergab - und ergibt. 

Verweigert haben sich diesem Druck nur wenige. Aber es gibt sie immer noch, die Inseln inmitten des Dorfes. Vor allem eine, die noch die alte Unterscheidung zwischen Chälen und Büel/Oberdorf sichtbar vor Augen führt: eine Wiese mit alten Obstbäumen und Bienenhaus, wie sie früher überall anzutreffen waren, als das Dorf in einem Meer aus solchen Bäumen verschwand.

«Fortschritt» als Seelenverlust

Die kapitalistische Verwertungslogik wird überdeutlich anhand der gerade in den letzten Jahren hingeklotzten Renditeobjekte, mehrheitlich in Form von Mehrfamilienhaus-Überbauungen verschiedener ortsfremder Investoren. Betongold rentiert besser als viele andere Anlageprodukte - zumal in Zeiten von Negativzinsen und ins Groteske aufgeblähten Notenbankbilanzen.

Die Neuzuzüger mögen das «Landleben» als positiv empfinden, da sie Grünzonen in relativer Nähe ihrer Wohnwaben finden. Für etliche Alteingesessene und solche, die Weiach noch vor zwanzig bis vierzig Jahren kennengelernt haben, ist dieser sogenannte «Fortschritt» hin zur verbauten Landschaft vor allem eines: ein Seelenverlust.

Der Mainstream beklagt vor allem den Verlust an Schönheit, wie der Titel des vor genau einem Jahr erschienenen 20-Minuten-Beitrags zur Zersiedelungsinitiative nahelegt: 

«Schöne Landschaften werden verschandelt». Autor: Kempf, E. Mit Spitzmarke: Zersiedelungsinitiative. In: 20 Minuten, 27. November 2018. 18:01. 

Zu diesem Beitrag gab es 493 Kommentare. Davon zwei mit direktem Weiach-Bezug:
Hinweis: Der Beitrag von «Leidende» hat mittlerweile 31 Daumen hoch, der von «Auch ein Weiacher» 7.

Dessen Bemerkung, das Dorf sei wegen gesunkener Lebensqualität unattraktiv geworden, ist ein erneuter Hinweis darauf, dass es eben auch Menschen gibt, die nicht nach den Kriterien von Immobilienschätzern vorgehen, vgl. Kinder statt Rinder. WeiachBlog Nr. 353 v. 6. Januar 2007. Wenn Tamedia Weiach damals die Note 1 und Neerach die 6 gab, dann sah das für einen Weiacher Familienvater unter Umständen komplett anders aus.

Affaire à suivre.

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