Sonntag, 10. November 2019

Staatliches Angstmanagement

«Hexen! Überall Hexen!» – diesen Alarmruf ihrer Untertanen vernahmen die «ehrenvesten» und «wysen» Herren des Zürcher Rates ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert immer häufiger, drängender. Auch aus Weiach. Zu grosse Bevölkerungsdichte, Missernten, Streit in der Dorfgemeinschaft. Die Menschen bekamen es zunehmend mit der Angst zu tun.

Hexenglaube war Mainstream

Nun waren weite Teile der Bevölkerung felsenfest davon überzeugt, dass es a) Hexen gebe, die mit dem Teufel im Bunde stehen, b) diese den Schadenzauber beherrschten und damit äusserst gefährlich seien und c) man sie nicht am Leben lassen sollte. Das letztere erfuhren auch einfache Leute (da sie seit der Reformation vermehrt selber in der Bibel lesen konnten) aus dem 2. Buch Mose 22, 17, wo es heisst: «Eine Zauberin sollst Du nicht am Leben lassen». Todesstrafe für Hexen war also ein Auftrag direkt aus der Bibel. Und: Hexenglaube war Mainstream.

Und das blieb er noch bis weit in die Aufklärung hinein auch in Mitteleuropa, wie man dem «Grossen vollständigen Universallexicon» von Johann Heinrich Zedler von 1735 entnehmen kann. Nach ausführlicher Erklärung, was man unter Hexen zu verstehen habe, hält der Zedler fest: «Ob es nun dergleichen Hexen gebe, wie wir sie beschrieben haben, darüber ist ein grosser Streit. Der gemeine Hauffen spricht ja, etliche wenige sonderbare Köpffe aber sprechen nein.»

Es spielt nun keine Rolle, ob man als Zürcher Stadtbürger, der sich als Obervogt, Landvogt oder Pfarrer mit diesem Volksglauben konfrontiert sah, an Hexerei glaubte oder nicht. Wenn die Ängste der Untertanen so übermächtig werden, dass sie die eigene Macht gefährden, dann muss man handeln. Zumal dann, wenn aus der eigenen Führungsschicht auch einige der Massgebenden die Vorstellungen des Volkes teilen. Und erst recht, wenn diese bereit sind, jemanden, der nicht an Hexerei glaubt und daher geneigt ist, eine als Hexe denunzierte Person laufen zu lassen, ohne Umschweife als selber mit dem Teufel im Bunde Stehenden zu diffamieren. Im besseren Fall konnte einen das Amt und Würden kosten, im schlechtesten Gesundheit und Leben.

Und so machte wohl mancher beim Hexenwahn des 16. und 17. Jahrhunderts mit, auch wenn er insgeheim daran zweifelte, dass die zum Tode Verurteilten schuldig seien oder auch nur, dass sich mit deren brutaler physischen Vernichtung die Ängste der Untertanen auch nur halbwegs aus dem Weg räumen liessen. Bevor man also ob dieser – heute offensichtlichen – Justizmorde (u.a. an fünf Frauen aus Weiach, die in Zürich auf einer Kiesbank in der Sihl verbrannt wurden) den Stab über den Urteilssprechern bricht, sollte man sich die Frage stellen: «Wie hätte ich in dieser Situation gehandelt?»

Erst die fortschreitende Aufklärung hat eine Mehrheit der Personen in Machtstellungen darin bestärkt, auf den Volksglauben (vgl. Zedler-Zitat oben) nicht mehr allzu viel zu geben. Ausnahmen mit Todesurteil, wie der Wasterkinger Hexenprozess von 1701 oder gar die letzte Hexenhinrichtung der Schweiz (Anna Göldi im Kanton Glarus, 1782) bestätigen die Regel.

Und heute?

Wir Heutigen befinden uns zusehends in einer ähnlichen Lage. Lautstarke Gruppen mit Social Media-Megaphonen gehen im globalen Dorf umher und zeigen mit dem Finger auf postmoderne Äquivalente von Hexen.

Die heutigen Hexen, das sind Personen, die sich als Kristallisationspunkt der gefühlten diffusen Bedrohung der eigenen Lebenswelt, Zukunft, etc., kurz: der persönlichen Sicherheit, eignen. Und die damit als Sündenböcke für eine aus den Fugen geratende Welt herhalten sollen. Die sogenannten Qualitätsmedien unserer Tage verstärken solche Trends (gewollt oder ungewollt), denn Zuspitzungen aufs Emotionale kommen immer gut an – und letztlich soll ja auch die Kasse stimmen.

Wie ist das mit den Ängsten? Nehmen wir Flugzeugabstürze als Beispiel. Die haben einen ganz hohen Schreckensfaktor. Weil man da in einer Blechdose sitzt, nicht aussteigen kann und den Piloten vorne voll und ganz vertrauen muss. Den Strassenverkehr empfinden dagegen viele als kleineres Risiko, weil man da glaubt, es selber im Griff zu haben und obwohl man wissen könnte, dass in kleinen Portionen gesamthaft täglich um Grössenordnungen mehr Menschen ums Leben kommen als bei den medial im Wochentakt aus der ganzen Welt gemeldeten Flugzeughavarien.

In einer Welt, die dank moderner Technik für die Mehrheit der in Mitteleuropa Lebenden weit sicherer ist als noch vor einigen Jahrzehnten, in dieser Welt werden alle möglichen und unmöglichen Unwägbarkeiten des Lebens zu unerträglichen Bedrohungen aufgebauscht.

Dämonenbewirtschaftung

So werden die inneren Dämonen der Menschen auch heute bewirtschaftet. Darüber sind sich in Verantwortung Stehende heutiger Tage nur allzu bewusst. Ein Shitstorm mit freundlicher Begleitung durch den Kampagnenjournalismus kann einen locker die Position kosten. Also ist man äusserst vorsichtig. In modernem Neusprech: risikoavers. Und: Risikoaversion ist Mainstream.

Kein Wunder erliegen Parlamentarier jeglicher Couleur der populistischen Versuchung, bei jedem für sich selber stehend noch so kleinen – wenn auch für das Opfer tragischen – Vorfall, sofort mit der ganz grossen Keule «Abhilfe» schaffen zu wollen. Mit Postulaten, Motionen, Interpellationen und was der Rats-Instrumente mehr sind.

Ein paar Raser – die es notabene seit dem Aufkommen der Automobile gegeben hat – reichen aus, um die Strafbestimmungen des Strassenverkehrsgesetzes mit knallharten Artikeln anzureichern, bei denen das vom Richter zwingend zu berücksichtigende Strafmass in keinem Verhältnis zu anderen Vergehen und Verbrechen steht. Ein durchgeknallter Armeeangehöriger, der mit dem Sturmgewehr eine an einer Bushaltestelle wartende junge Frau erschiesst, reicht letztlich aus, um heute ALLE Stellungspflichtigen einer sogenannten Personensicherheitsprüfung zu unterziehen. Und da werden dann proaktiv Stellungspflichtige aussortiert, deren Jugendsünden in früheren Jahrzehnten selten aktenkundig geworden wären.

Diese Entwicklung ist wenig verwunderlich. Denn: macht man nichts, kann man als Verantwortlicher sicher sein, dass einen die «Qualitätsmedien» spätestens beim nächsten ähnlich gelagerten Vorfall öffentlich zum Abschuss freigeben werden.

Rechtsstaat ade in der Uujäääää!-Gesellschaft?

Regierungsräte, Bezirksstatthalter, KESB-Verantwortliche, Gemeindepräsidenten, Richter, Staatsanwälte, Polizeikommandanten. Sie alle müssen damit rechnen beim Übersehen eines aktenkundig gewordenen Vorfalls medial in die Pfanne gehauen zu werden, wenn sie nicht plausibel abstreiten können, von all dem nichts gewusst zu haben. Und diese Abstreitbarkeit ist halt nur dann gegeben, wenn nichts, aber auch wirklich gar nichts Schriftliches vorhanden ist, was Whistleblower leaken oder Journalisten ausgraben könnten.

Die herrschende Nullrisikomentalität in unserer Gesellschaft führt dazu, dass, wie Daniel Binswanger gestern auf republik.ch schreibt, der «Präventionsgedanke» den Rechtsstaat immer häufiger aushebelt. Heisst: eine mögliche Tat proaktiv verhindert werden soll. Es gebe einen «Paradigmenwandel» von der Sanktion (Freiheitsstrafe oder Geldbusse) hin zu präventiven Massnahmen. Und das selbst dann, wenn noch keine Straftat begangen wurde, die beispielsweise eine Verwahrung rechtfertigen würde.

Die Angst vor Rückfällen macht Strafjustiz immer häufiger zu einer Präventionsveranstaltung. Forensische Psychiater (wie Frank Urbaniok), die modernen Schamanen des Risikomanagements, machen sich bewaffnet mit elektronischen Tools aller Art auf, den Verantwortlichen im Justizsystem den Hintern abzusichern. Und weil natürlich auch diese aus dem Dunstkreis der Medizin stammenden Fachpersonen sich absichern wollen, werden sie im Zweifel gegen den «Angeklagten» entscheiden und ihre Gutachten entsprechend vorsichtig formulieren. Sicher ist sicher. Dasselbe gilt für die Hersteller der Beurteilungssoftware. Im Zweifel produzieren sie lieber ein paar «false positives» zu viel. Alle Beteiligten können sich damit beruhigen, dass die modernen Hexen «nur» noch sozial und beruflich verbrannt werden. Oder in Raten von jeweils fünf Jahren letztlich lebenslänglich weggesperrt.

Man kann sich fragen, wo all das noch hinführt. Schon heute nimmt der Staat Armeeangehörigen die Dienstwaffe auf unbestimmte Zeit weg, wenn auch nur der kleinste Hinweis auf Eigen- oder Fremdgefährdung nicht durch ein forensisch-psychiatrisches Gutachten vollständig ausgeräumt werden kann. Wann werden wohl Strassenverkehrsämter auf die Idee kommen, gestützt auf Art. 16d Abs. 1 Bst. c SVG bei diesen Armeeangehörigen vorsorglich auch gleich einen unbefristeten Führerausweisentzug wegen fehlender Fahreignung zu verfügen?

Sicher ist schliesslich sicher, oder?

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