Dienstag, 14. April 2020

Lernen in der Natur? Didaktische Konzepte 1860 vs. 1910

Das im gestrigen WeiachBlog-Beitrag erwähnte autobiographische Werk von Louise Patteson, geb. Griesser, enthält viele Bezüge zu Weiach, davon nicht weniger als 27 direkte Nennungen des Ortsnamens. Heute und in den kommenden Tagen werden einige dieser Fundstellen vorgestellt und kommentiert. Auf die Übersetzung des englischen Originals wird hingegen weitgehend verzichtet. Die Zitate sollen für sich selber sprechen.

Wie im einleitenden Artikel erwähnt, führte die Autorin eine Lehranstalt für Stenographie, die sogenannte Amanuenses' School, deren Absolventen für die Tätigkeit als Assistenten und Assistentinnen im kaufmännischen und wissenschaftlichen Bereich vorbereitet wurden. Louise Patteson hat dabei einerseits die utilitaristische Grundströmung der USA vermittelt, denn wie sie im Vorwort ihres Steno-Lehrbuchs schreibt, sollten sich die Schüler während des Unterrichts voll auf den Lehrstoff konzentrieren, weil: «Time is money». Andererseits war es ihr in ihrem Leben auch sehr wichtig, die Herzensbildung nicht zu kurz kommen zu lassen, was sich in ihren Werken (Tierbücher) aber auch Taten (Führen eines Tierheims) niederschlug.

So erklärt sich die folgende Passage aus ihrem Buch «When I Was a Girl In Switzerland», die von einer Bildungsreise in die alte Heimat berichtet (sie war damals bereits 57-jährig) und Vergleiche zu ihrer eigenen Schulzeit in Weiach vornimmt:

«During the winter of 1910-11 which I spent in Zürich, an amsel pair (he was black and she brown with speckled front) came for food daily to my window-sill. It seemed to me then that a bird so confiding ought in our school days to have become a personal, and not merely a book acquaintance. During that winter I was astonished to see how many species of birds, beside the woodpeckers, wintered in the northern part of Switzerland. No one there collects bird’s eggs. The pernicious habit seems never to have had a beginning.

During that visit to Switzerland I also made frequent excursions with one of Zurich’s progressive teachers, Miss Emilie Schäppi, and her school. I learned then to my great joy that natural history was being taught in the open. Miss Schäppi made a specialty of taking her forty children out walking at all seasons, to the various environs of the city as well as to points of interest within the city. In pleasant weather those seven-year-olds thought nothing of climbing the Uetliberg, a steady ascent of a mile or more. In cold weather short excursions were made.

The accompanying picture shows these children on a ledge of the Uetliberg [vgl. Bild auf S. 99 des Buches]. Here a child could get such an idea of the beauties of his native city and immediate surroundings as made it easy afterward to implant lessons in patriotism. 

This outing recalled my school days and the fact that, although the village of Weiach has a most idyllic setting between two rambling mountains – the Höbrig on one side, the Schanzenberg on the other, with the Rhine flowing near by, yet never were we taken as a school up any of those slopes.» 

Höbrig und Sanzenberg (man beachte die Verwendung der auf früheren Karten zu findenden Schreibweise Schanzenberg) werden von Louise Patteson mehrmals erwähnt. Nach unserem heutigen Verständnis ist der Höbrig  ein Aussenhof am östlichen Waldrand des Sanzenbergs. Nach dem damaligen Verständnis aber waren damit eher die Einzelhöfe auf dem Plateau am heutigen oberen Teil der Bergstrasse gemeint. Interessanterweise wird in ihrem Werk der viel markantere Hügelzug des Stein samt Fasnachtflue nie erwähnt. Doch weiter im Original:

«A view from such an eminence might at least have given us some fresh material for conversation and for compositions. But we just had to learn everything laboriously from books, even about things that were to be seen at our very door.

Our school readers had accounts about the beautiful Aletsch and Rhone glaciers, the wild Gemmi and Grimsel passes, the picturesque valleys of the Reuss and the Rhone, the charms of the quaint Engadine, the lordly peaks of Monte Rosa and the Matterhorn. But all this was so far removed from us that it seemed like fairy tales. A walk up our Höbrig or the Schanzenberg would have been far more inspiring than all that reading.

Years afterward when my brother was attending school I noticed that his first reader contained descriptions of such near towns and villages as Kaiserstuhl, Rhinefelden, Eglisau, Stadel, Glattfelden, etc., and from there on in an ever-widening radius. So I think they were already beginning to improve matters at that time.»

Da gab es also doch gewisse Anpassungen, wohl auch abhängig von der Lehrkraft. Leider wissen wir nicht, ob es sich dabei um gedruckte Lehrmittel handelte oder (wahrscheinlicher angesichts der genannten Ortsnamen aus der unmittelbaren Nachbarschaft) solche, die von den lokalen Lehrkräften selber erstellt worden sind.

Die Freiheit der Lehrkraft, ihren Unterricht zu gestalten, ermöglichte der Stadtzürcher Lehrerin Schäppi vor hundertzehn Jahren jedenfalls, situativ auf in der Natur Angetroffenes einzugehen. So fand die Schulklasse beispielsweise eine tote Amsel und die Lehrerin fragte, woran diese wohl gestorben sei. Man kam zum Schluss, sie müsse verhungert sein. Das, so Patteson, habe auch zu Diskussionen in den Familien der Schüler geführt, worauf einige mit der Winterfütterung der Vögel begonnen hätten. Ein Lerneffekt ganz im Sinne der Autorin. Sie schliesst die Schilderung dieser Passage denn auch mit einer Art Abrechnung mit den Lehrmethoden ihrer eigenen Schulzeit:

«The memory of that excursion, of the interest it awakened in things outdoors, the talk about it and the exercise in language and in expression that it furnished, recalled how little opportunity we were given in our school days for self-expression. We just had facts and dates crammed into us that we were expected to memorize, and to have them ready to reel off when demand arose. The real significance of the facts was barely touched upon.»

Louise Griesser Patteson kritisiert hier in aller Deutlichkeit die zu ihrer Primarschulzeit offensichtlich noch immer praktizierte Art des Eintrichterns – und danach Abspulens – von Fakten und Jahrzahlen, ohne diese mit der realen Lebenswelt direkt zu verknüpfen. 

Dass solche Ausbildung gerade dem durchschnittlichen Bauernkind auf den ersten Blick ziemlich nutzlos erscheinen musste, leuchtet ein. Und vor allem erschien sie wohl auch vielen Eltern sinnlos, wie der Ansprache des Weiacher Pfarrers (und Bezirksschulinspektors) Burkhard anlässlich der Eröffnung des Schulhauses am 24. November 1836 zu entnehmen ist (vgl. Zitat im Abschnitt «Wider die Geringschätzung der Schule» in WeiachBlog Nr. 324).

Quelle
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston, October 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 97-100 u. 102.

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